DESPERATE – Der Tod kam, bevor Menschen starben

Duisburg wollte die Loveparade – es gab einen Beschluss des Rates der Stadt und dieser wurde unter der Verantwortung von Oberbürgermeister Adolf Sauerland letztlich unterschrieben.

Der Veranstalter wollte die Loveparade. Rainer Schaller, alleiniger Gesellschafter der Lopavent GmbH machte die Loveparade zum Marketinginstrument seiner Fitnessstudio-Kette McFit.

Die Landesregierung wollte die Loveparade – Jürgen Rüttgers und Hannelore Kraft setzten sich dafür ein.

Die Kulturhauptstadt wollte die Loveparade in Duisburg – Fritz Pleitgen sah die positive Ausstrahlung für die Ruhrstadt.

Die Loveparade sollte die größte Veranstaltung im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 sein, für Europa, Deutschland, NRW, das Ruhrgebiet und für Duisburg. Geld dafür gab es nicht aus dem Topf Kulturhauptstadt. Duisburg wurde mit seinen Ravern allein gelassen.

Und in den Medien wurde begeistert die Werbetrommel gerührt.

In Duisburg gibt es einen alten Güterbahnhof. Der kann schwerlich als ein sicheres, gut begehbares Gelände bezeichnet werden, auch nicht, nachdem einige Tonnen Schotter ausgeschüttet und plattgeklopft, die Schienen gesichert und die Fenster der alten Halle eh schon fast keine Glasscheiben mehr hatten.

Kosten durfte das ganze wenig, bringen sollte es viel. Hätte man die Bevölkerung der angrenzenden Stadtteile und die Leute gefragt, die das Gelände von eigenen Ausflügen kennen, so hätte man schwerlich Begeisterung über den Plan festgestellt. Über einen Plan, der schwer durchschaubar war und bleibt.

Foto: Tunnel Karl-Lehr-Str. 27.7.2010
Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010: "Berlin = Love / Duisburg = Kommerz, Finanzieller Gewinn, 19 Tote..."

Zwar hieß es früh, die Loveparade fände auf dem geschlossenen Gelände des alten Bahnhofs statt. Es gab auch das Gerücht, die A 40 werde für die Floats bereit stehen. Im Internet war ein Streckenverlauf zu sehen, auf dem eine Route durch die Innenstadt eingezeichnet war – deutbar war dieser Plan als Plan für den Verlauf der Parade. Dann gab es wieder die Meldung, dass die Parade nur auf dem abgeschlossenen Gelände stattfände. Noch am Abend vorher gab ein Floatbesitzer zu verstehen, es gingen Floats durch die Stadt. Die Polizei gab während der Feier die Auskunft, die Parade sei nur im Gelände des alten Güterbahnhofs. Gegen 15.15 Uhr fuhr ein Float in Polizeibegleitung die Friedrich-Wilhelm-Straße herunter bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz und wurde dort von einer jubelnden Menge umlagert.

Es habe deutliche Sicherheitsbedenken gegeben, von der Polizei, von der Feuerwehr, diese seien in Gutachten formuliert und den Verantwortlichen vorgelegt worden. Weder die Stadt, noch der Veranstalter Rainer Schaller hätten darauf angemessen reagiert. Sicherheitsvorschriften seien umgangen, mit Sondergenehmigungen abgeändert und auch schlicht nicht eingehalten worden. Und trotzdem fand sie statt – die Loveparade -und alle, alle kamen:

Der Veranstalter, die Polizei und die Stadtspitze und die 250.000 Besucher, für die das Gelände frei gegeben war und die ca. 1,2 Millionen, für die kein Platz auf dem Gelände vorgesehen war (105.000 kamen offenbar mit der Bahn und die Zahl der verkauften Tickets ist zurzeit die einzige Zahl auf die objektiv zurückgegriffen werden kann – Offenbar liegen weder Auswertungen von Zählungen der Fußgängerströme, der Kraftfahrzeuge, der Busse, der Radfahrern etc. vor – Luftbilderauswertungen sind bis heute nicht bekannt).

Richtungsweisend ist jedoch, dass auf den letzten Loveparade-Veranstaltungen in anderen Städten mehr als 1,3 Millionen Menschen waren – und auch das Event „Still-Leben“ auf der A-40 am 18. Juli 2010 hatte mit ca. 3 Mio. Besuchern mehr Interessierte als erwartet. Der Unterschied war: Es ging gut – es gab 60 km Autobahn, Auf- und Abfahrten, Zugänge und nur Leitplanken, über die man gut springen und sich ins Umland hätte retten können, wäre dies denn notwendig gewesen.

Foto: Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010
Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010: "Das konservative Bürgertum hat die Subkultur, aus der die Loveparade entstanden ist, zu keiner Zeit akzeptieren, geschweige denn verstehen wollen."

Verfolgte die Loveparade bei ihrer Gründung keine kommerziellen oder prestige-geleiteten Ideen, so bildet sie im Jahre 2010 mit ihren Profit- und Marketinginteressen einen Teil der viel zitierten Dienstleistungsgesellschaft.

Die Situation stellt sich dar wie folgt. Duisburg lädt ein zu einer Loveparade. Das ist ein Musikfestival mit sog. Floats, das sind riesige Lastwagen, die bis zu 200 Raver fassen, die auf den Wagen tanzen zu den Tönen, die verschiedene gefeierte DJs auflegen. Die Musik ist nicht jedermanns Sache; doch welche Musik ist das schon? Fest steht jedoch, dass man auf Techno gut tanzen kann. Viele Menschen verkleiden sich, es wird Alkohol getrunken und es werden auch Drogen genommen.

Es wird viel geredet über die Menschen, die auf diese größte Party der Welt gehen. Sie sind eher jung, jedoch nicht alle – wir waren z.B. auch da – manche sagen, sie sind dumpf, sogar dumm, enthemmt, lüstern, gewalttätig etc. Auf jeden Fall machen sie Dreck und irgendwo in einer anderen Stadt haben sie angeblich in einem Park alle Bäume und Pflanzen tot gepinkelt. Deshalb haben wir in Duisburg viele Reihen Dixi-Klos, den Kant-Park haben wir sicherheitshalber gesperrt und in Folie gepackt, damit ihn keiner sieht. Der Besitzstand der bedrohten Bürgerinnen und Bürger wird gewahrt, indem die Feiernden – fein eingezäunt nach links und rechts – durch von der Polizei bediente Schleusen geleitet werden, damit sie nicht ins offene Terrain ausbrechen und die Landschaft verunstalten können. Kleinbürgerliche Konzepte lassen kein freies Denken, Handeln und auch keine freie Bewegung zu; Profit- und Prestigedenken aber lassen sie zu – und ebenso Besitzstandswahrung in jeder Beziehung.

Eine alte Dame spricht zu ihrem Mann: „Da kannst du nichts mehr zu sagen.“ Er sagt auch gar nichts. er schaut nur interessiert einer aufreizend angezogenen Raverin hinterher.

Und die Dienstleistung? Der Platz liegt ca. 300 Meter weg vom Bahnhof. Die Leute werden jedoch auf vorgezeichneten Wegen ca. 2 Kilometer durch die Stadt geleitet – östlich und westlich vom Bahnhof. Ich sehe keine Hinweisschilder, jeder folgt dem anderen in die Bewegungsrichtung des unüberschaubaren Menschenstroms. Einige Fressbuden bieten ihre Dinge an. Aus einem Polizeiwagen dröhnt ein Megaphon – zu verstehen ist kein Wort. Warum eigentlich nicht?

Denn Musik gibt es nicht; es gibt keine Großbildschirme (bei der WM hatten wir doch genug), es gibt keine Lautsprecher aus denen Techno tönt, es gibt keine Bühnen, auf denen Musik gemacht wird und – es gibt keine Floats (bis auf den einen, eben erwähnten – später).

Doch die Leute sind noch ganz gut drauf und feiern sich selbst mit Freunden, mit Fremden, mit den Leuten, die aus den Fenstern hängen und Party in der eigenen Wohnung machen. Dann wird es eng und enger. Am Polizeipräsidium sehen die Einsatzkräfte noch ganz entspannt aus. Erste Schleusen werden geschlossen – man verengt, wie ein Beamter erklärt. Warum die Leute denn jetzt alle hier stehen, wird gefragt. Weil es hier so schön ist, lautet die polizeiliche Antwort. Mit den Polizeikräften über die Lage in der Stadt, über Wege und Anreisen zu sprechen ist hoffnungslos. Es kommen Antworten wie: „Ich hab keine Ahnung“; „ich bin nicht von hier“; „die Straße kenne ich nicht“ oder „ich hab doch keine Zeit, Wege zu erklären“.

Es verdichtet sich mehr und mehr. Leute sind auf die Straßenbahnhäuschen, auf Laternen, Lampen, Verteilerhäuschen, Hausdächer, Imbissbuden geklettert. Um besser sehen zu können. Was? Es passiert nichts, keine Musik, keine Floats und – keine Bewegung mehr. Es ist 15 Uhr und links geht es in den Tunnel an der Karl-Lehr-Straße.

Wir drehen um. Wir sind verabredet um 17 Uhr in der Altstadt. Durch Seitenstraßen gehen wir heim. Mit uns sind tausende Menschen, die alle in die falsche Richtung laufen, enttäuscht, fragend, suchend. Telefonisch teilen sie Freunden mit: „Ich bin in Duisburg, auf einer Polizeiparade.“ Oder: „Wir sind 2,5 Stunden gefahren, dann fahren wir eben wieder nach Hause – hier ist ja sonst gar nichts los.“ Oder: „Wo ist denn das Gelände?“ Oder: „Gibt es einen Plan?“

Ja, wie war das gleich mit dem Plan?

Auf dem Boden kleben nun schon viele Sticker: Dance or die! Get no sleep!

Das sind die Slogans der Loveparade – die sich auf verhängnisvolle Weise verwirklichten.

Gegen 17 Uhr brach im Tunnel auf der Karl-Lehr-Straße eine Massenpanik aus – in dem Tunnel, der als einzige Zugangsmöglichkeit zum Festival-Gelände geöffnet war. Jedenfalls als einzige Zugangsmöglichkeit für die Gäste – der VIP-Eingang war in Bahnhofnähe – von der A 59 gab es großzügige Zugangsmöglichkeiten – doch die waren gesperrt – für den Notfall, wie die Notfalltüren. Notfallwege im Tunnel, eine Regulierung der ankommenden und das Gelände verlassenden Besucherströme, Überwachungskameras und genug Luft gab es im Tunnel nicht.

Das Desaster war vorprogrammiert und – ich kann es immer noch nicht wirklich glauben – es gab nur diesen einen Tunnel – Gelber Bogen genannt – der zum Festivalgelände führte. Ein Tunnel, 40 m breit und 200 m lang, der schon an normalen Tagen irgendwie gruselig ist, voll gedrängt mit Menschen, die in alle Richtungen drängen, deren Zugang – aus welchen Gründen auch immer – nun nicht mehr kontrolliert wird; ein Nadelöhr wird zur Todesfalle.

16 Menschen sterben vor Ort, 21 bis jetzt, über 500 werden verletzt. Es spielen sich unglaubliche Szenen ab (es gibt Videos im Netz, welche in keiner Nachrichtensendung liefen). Die Toten werden unter Planen gestapelt. Schuldzuweisungen zerreißen die politische Landschaft, Verschleierung herrscht neben blindem Aktionismus.

Die Loveparade glich einem Viehtransport. Nicht stärker hätte die Zielgruppe diskriminiert und degradiert werden können, nicht stärker hätte bewusste Fehlinformation stattfinden können und nicht geschickter hätte die Zielgruppe um ihr eigentliches Vergnügen gebracht werden können. In der Hoffnung, dass die Menschen das Festivalgelände nicht erreichen, weil sie schon zu müde oder zu betrunken sind oder weil sie etwas anderes abgelenkt hat, wurden sie durch die Stadt geschleust. Nicht ernstgenommen wurden sie, menschenverachtend behandelt. Dies wäre niemals bei einer Sportveranstaltung in Duisburg mit internationalem Flair passiert – und, dies wäre auch nicht bei einem Karnevalsumzug passiert.

In Duisburg kam der Tod schon, bevor Menschen starben. Der Tod eines Traumes, eines Konzeptes von Freiheit, Feier und Liebe. Der Tod der Dienstleistung, der Tod der Kulturhauptstadt, der Verantwortung und der Tod des Ernstnehmens der Zielgruppe, für die man arbeitet – und daran haben alle mitgewirkt:

Der Veranstalter, die Stadtverwaltung und die Polizei und auch die Medien.

Entschuldigungen und Ausreden sind nicht möglich. Es ist vorbei und nicht wieder gut zu machen – nirgendwo, zu keiner Zeit und mit keinen verfügbaren Mitteln.

Liz Henry

Zum Bochumer Tortenprozess

Neues Bilderverbot durch Bochumer Tortenprozess:
Stehen wir vor einer Einschränkung der Pressefreiheit?

Autor: Rolf van Raden

Vor dem Bochumer Amtsgericht hat am Mittwoch ein Aufsehen erregender Prozess stattgefunden: Der verantwortliche Redakteur des lokalen Internetportals bo-alternativ ist zu einer Strafe von 1.500 Euro verurteilt worden, weil er ein Anti-Nazi-Plakat dokumentiert hat. Auf dem Plakat ist eine Comicfigur zu sehen, die eine Torte in der Hand hält. In den Augen der Staatsanwaltschaft und der Richterin stellt die Abbildung auf dieser Seite aus dem Jahr 2008 einen „Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung“ dar.

http://www.bo-alternativ.de/aktuell/wp-content/uploads/2008/10/nazistopp.jpg
„Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung“? Die dokumentierende Abbildung dieser Grafik soll strafbar sein.

Es handelt sich bereits um den dritten Prozess zum Thema – vor einem Jahr gab es bereits einen Freispruch, worauf die Staatsanwaltschaft allerdings Revision einlegte. Der beschuldigte Redakteur hat jetzt angekündigt, gegen das neue Urteil selbst in Berufung zu gehen. Sollte die Verurteilung vor weiteren Instanzen Bestand haben, könnte das die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland empfindlich einschränken.

Die Anklage der Bochumer Staatsanwaltschaft (hier im Wortlaut) stand von Anfang an unter massiver Kritik. In einer Solidaritätserklärung bewerteten eine Reihe prominenter Persönlichkeiten den Prozess als einen „Affront gegen die Menschen, die sich am 25. Oktober in Bochum und an anderen Tagen in anderen Städten den Nazi-Aufmärschen entgegen stellten.” Andere BeobachterInnen weisen darauf hin, welche politischen Folgen die Verurteilung haben kann: Wenn nämlich schon die Abbildung einer Comicfigur mit einer Torte in der Hand dazu ausreicht, um das Recht auf Äußerungsfreiheit im Internet einzuschränken, dann wäre der behördlichen Willkür Tür und Tor geöffnet.

Die Anklage hat die Abbildung einer Torte zu einer „getarnten Bombe“ umgedeutet. Damit aber nicht genug. Denn im nächsten Schritt erklärte die Staatsanwaltschaft die angebliche Bombe zu einem verbotenen Aufruf, „Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder Beschädigung von Sachen geeignet und bestimmt sind, ohne behördliche Genehmigung mit sich zu führen und diese zur Begehung von Vergehen der gefährlichen Körperverletzung einzusetzen“. In einfache Sprache übersetzt behauptet die Staatsanwaltschaft: Indem das Internetportal das Plakat dokumentiert, rufe es dazu auf, mit Waffen zur Demo zu gehen und diese zu benutzen.

Kommt die Staatsanwaltschaft mit dieser obskuren Argumentation durch, wäre künftig keine grafische Veröffentlichung mehr vor solch aggressiver Interpretation und Umdeutung geschützt. Ein Plakat mit einer erhobenen Faust? Klar, da holt jemand zum Schlag aus. Es droht ein neues Bilderverbot für politische Publikationen. Und noch mehr: Die Strafverfolgungsbehörden bekämen ein einfaches wie mächtiges Instrument an die Hand, um politisch missliebige Äußerungen weitgehend willkürlich zu kriminalisieren. Das wäre eine massive Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit – und weil es sich bei dem Angeklagten ja nicht einmal um den Plakat-Urheber, sondern lediglich um den Redakteur eines Internetportals handelt, auch um eine Aushebelung der Pressefreiheit.

Der Diskursanalytiker und Herausgeber der Zeitschrift kultuRRevolution Jürgen Link ging noch einen Schritt weiter. Bereits anlässlich des ersten Tortenprozesses vor einem Jahr veröffentlichte er eine „Diskursanalytische Wortmeldung“, in welcher er deutlich machte: Selbst, wenn auf dem Plakat tatsächlich eine Bombe zu sehen wäre, würde es sich dadurch nicht um einen Aufruf zu Gewalt handeln – weil bei einer Interpretation immer Kollektivsymboliken und diskursive Kontexte zu berücksichtigen sind. Um das zu verdeutlichen, überträgt Link das Argumentationsmuster der Staatsanwaltschaft probeweise auf eine Karikatur, welche die WAZ elf Jahre zuvor veröffentlicht hatte. In der Grafik ist der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe zu sehen, der den im Rollstuhl sitzenden Wolfgang Schäuble mit einem Panzer bedroht. Folge man der Logik der Bochumer Staatsanwaltschaft, stelle diese Veröffentlichung „zweifelsfrei sogar einen Aufruf zum Mord dar.“ Jürgen Link weiter: „Staatsanwältin W. weiß nicht, dass Karikaturen Konflikte symbolisch darstellen und dazu groteske Übertreibungen als ihr wesentliches Mittel einsetzen müssen. ‚Panzer’ bedeutet symbolisch ‚große Entschlossenheit’ (und nicht: realer Panzereinsatz!!!) – Torte mit Lunte bedeutet symbolisch ‚Entschlossenheit mit Spaß’ (erheblich kleinere als Panzer!!!), und nicht realen Terrorismus! Man muss schon nicht bloß völlig humorlos, sondern außerdem diskursanalytisch eine Null sein, um derart danebenhauen (keine Unterstellung, Staatsanwältin W. habe wirklich zugeschlagen!!!) zu können.” Zum vollständigen Text von Jürgen Link.

Ob die Staatsanwaltschaft und die vorsitzende Richterin tatsächlich diskursanalytische Nullen sind, oder ob es andere Gründe dafür gibt, dass sie eine Interpretation des Plakats für gültig erklären, die überhaupt nichts mit der tatsächlichen diskursiven Wirkung der Veröffentlichung zu tun hat, das kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Fest steht jedenfalls, dass die Demonstration, zu der das Plakat aufrief, selbst in den Augen der Polizei völlig friedlich verlaufen ist. Und obwohl die Polizei – wie zu solchen Anlässen üblich – umfangreiche Taschenkontrollen durchführte, konnte sie nicht einen einzigen „gefährlichen Gegenstand“ finden – weder als Torten getarnte Bomben, noch andere Gegenstände, die zur Beschlagnahme geeignet waren. Darüber hinaus ist der jetzt wegen „Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung“ verurteilte Redakteur seit Jahrzehnten ein aktives Mitglied der Friedensbewegung und für seine kompromisslos gewaltfreie politische Linie bekannt.

Diese Tatsachen verweisen auf eine Fragestellung, um die es bei der Berufungsverhandlung zumindest implizit auch gehen wird: Wenn Strafverfolgungsbehörden und Gerichte über die Strafbarkeit einer Publikation befinden, dürfen sie dann einfach eine Interpretation zur Grundlage machen, die weder vom Publizisten selbst, noch von der Zielgruppe der Publikation, und noch nicht einmal im Rahmen des Hegemonialdiskurses als naheliegend oder gar zwingend angesehen wird? Oder verletzen die Behörden vielleicht sogar ihre Sorgfaltspflicht, wenn sie sich auf eine Interpretation berufen, die nichts mit den diskursiven Verhältnissen zu tun hat, in denen die Publikation veröffentlicht worden ist?

Diese Fragen sind aus einer diskurs- und machtanalytischen Perspektive interessant. In der politischen Dimension wird in der Berufungsverhandlung allerdings nicht weniger verhandelt als die Reichweite der Grundrechte auf Presse- und Äußerungsfreiheit. Deswegen ist sicher, dass weiterhin viele Augen auf den Bochumer Tortenprozess gerichtet sein werden.

Zum Weiterlesen: Alle Stellungnahmen und Berichte zum Bochumer Tortenprozess auf bo-alternativ.de

Wortmeldung

Netzfundstück: Laudatio „Verschlossene Auster“

Heribert Prantl hielt die Laudatio zur Verleihung der „Verschlossenen Auster“ an die katholische Kirche. Den vollständigen Text finden Sie hier:

Heribert Prantl: Das kalte Herz der Kirche – Katholische Kirche erhält Negativ-Preis. Süddeutsche Zeitung, 10.07.2010

Es gibt eine Kirche, deren Selbstmitleid größer ist als das Mitleid mit den Opfern. Es gibt eine Kirche, die glaubt, sie habe lediglich ein Problem mit angeblich missliebigen Medien. Dieser Kirche widme ich diesen Negativ-Preis, die „Verschlossene Auster“. Ich widme ihn, pars pro toto, dem Bischof meiner Heimatdiözese Regensburg, dem Bischof Gerhard Ludwig Müller. In diesem Bistum Regensburg liegt Wackersorf, der Ort, an dem einst eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut und mit aller Macht und Staatsgewalt gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden sollte. Was Wackersdorf für die CSU war, ist Bischof Müller für die katholische Kirche: ein Fiasko.

Kirche kann ihr gesellschaftliches Gewicht nicht mit Geld, Geschichte und Steuermitteln erhalten oder zeugen. Es entsteht von selber durch Glaubwürdigkeit, und es verfällt mit Unglaubwürdigkeit. Die Kirche braucht das, was die Mediziner „restitutio in integrum“ nennen, die vollständige Ausheilung. Mit der Forderung nach Öffnung und Demokratisierung hat Papst Johannes Paul II. einst den Ostblock gesprengt. Diese Forderung „liegt jetzt auf den Stufen des Petersdoms“ (so Jobst Paul im DISS-Journal 19/2010). Damals, im Ostblock, hieß das Neue „Glasnost“ und „Perestrojka“. Heute, in der katholischen Kirche, heißt es, unter anderem, Aufhebung des Pflicht-Zölibats und Frauen-Ordination. Glaubwürdig wird die Kirche nur dann, wenn sie den Ursachen für die sexuelle Gewalt und deren jahrzehntelange Vertuschung auf den Grund geht. Sie muss dazu die verstörten und empörten Fragen der Menschen hören.

Ich habe mit dem Heiligen Franz von Sales begonnen; mit ihm will ich meine Rede jetzt auch beschließen. Dieser heilige Franz von Sales ist nämlich nicht nur Patron der Journalisten. Er ist auch Patron der Gehörlosen. Als solchen möchte man ihn bitten, sich doch der katholischen Kirche anzunehmen.

EuroPhantasien (1995) als e-book

Der lange vergriffene Band  EuroPhantasien von Irmgard Pinn und Marlies Wehner aus dem Jahr 1995 ist jetzt als e-book in unserem Textarchiv abrufbar (Klicken Sie bitte auf die Abbildung des Covers).

Irmgard Pinn und Marlies Wehner
EuroPhantasien
Die islamische Frau aus westlicher Sicht

Elektronische Fassung, erstellt im Juli 2010
Copyright 1995/2010: DISS

Aus dem Vorwort der Autorinnen (1995):

„Das westliche Bild der Muslimin basiert wesentlich auf Projektionen »abendländischer« Werte und Gefühle. Es ist Bestandteil eines Gegenentwurfes zur »europäischen Zivilisation« und dient in erster Linie der Konstitution und Stabilisierung einer deutschen bzw. »abendländischen« Identität. Uns geht es im folgenden weniger darum – und das sei vorab besonders betont –, wie es in islamischen Ländern nun wirklich zugeht oder was wirklich im Koran über die Frau gesagt wird. Unser Anliegen ist es vielmehr, Klischeebilder und deren Konstruktions- und Reproduktionsprinzipien aufzuzeigen sowie die Diskussion darüber anzuregen, wie Mechanismen der Ausgrenzung auch in progressiven, linken, feministischen, internationalistischen Kreisen wirken, welche Funktion sie haben und wie derartige Denk- und Handlungsblockaden überwunden werden könnten.“

Der lange vergriffene Band EuroPhantasien von Irmgard Pinn und Marlies Wehner aus dem Jahr 1995 ist jetzt als e-book in unserem Textarchiv abrufbar.