Netzfundstücke: Im Namen der Menschenrechte

DISS-Mitarbeiterin Regina Wamper analysiert in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift analyse & kritik wie die deutschen Leitmedien derzeit offenen Rassismus verurteilen, wie aber zugleich Flüchtlingsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Um die Forderung nach der Begrenzung von Flucht zu untermauern, werden Flüchtlinge gespalten in diejenigen, die aus den Balkanländern kommen, und jenen, die syrischer Herkunft sind. Erstere würden das Asylrecht zuungunsten der zweiten missbrauchen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht man von »(wahren) Flüchtlingen« und solchen, »die sich nur so nennen«, die also »lediglich wegen der Armut und der Rückständigkeit in ihrer Heimat auswandern«, wie die SZ ergänzt. Entsprechend werden die angekündigten restriktiven Gesetzesänderungen von Innenminister de Maizière kaum kritisiert, ebenso wenig wie die in Bayern bereits umgesetzten »speziellen Auffanglager« an deutschen Außengrenzen für Geflüchtete aus Balkanstaaten. Nicht mit Verweis auf deutsche Interessen sollen Geflüchtete aus Balkanstaaten abgewiesen, abgeschoben und abgeschreckt statt »alimentiert« (FAZ) werden, sondern im Namen der Menschenrechte der anderen. Es scheint so, als vollzögen die deutschen Medien einen Spagat zwischen den frühen 1990er Jahren und dem »Aufstand der Anständigen«. Momentan wird beides geteilt: die Abschreckungspolitik des Staates ebenso wie das eigene humanistische Selbstverständnis unter Verweis auf die vielen Helfenden.

Auffällig ist, dass die Fluchtursachen weitgehend ausgeblendet werden. Zwar wird hier und da auf Armut und Krieg verwiesen, häufiger noch auf durchlässige Grenzregimes, keinesfalls aber auf die globale Ungleichverteilung von Ressourcen oder gar auf die Rolle Deutschlands in einer neokolonialen Weltpolitik. Wird die Frage nach der Situation in Herkunftsstaaten doch gestellt, dann lautet die Antwort, Deutschland müsse verstärkt wirtschaftliche und militärische »Verantwortung« in der ganzen Welt übernehmen. Stefan Kornelius etwa stellt in der SZ die Frage, welche Einwirkungsmöglichkeiten »die reiche EU auf die Afrikanische Union« habe, »in deren Reihen Staaten regelrecht ausbluten«. Nicht gefragt wird, welche Einwirkungsmöglichkeiten die reiche EU bereits wahrgenommen hat und was dies mit dem »Ausbluten« zu tun haben könnte.

Die Medien inszenieren Deutschland momentan als die hilfsbereite Nation. Die geplanten weiteren Entrechtungen von Geflüchteten werden mit empathischer Geste als Sachzwang vermittelt. Rassistische Mobilisierungen, Brandanschläge und andere Übergriffe werden medial durchgängig verurteilt, auch wenn mitunter verniedlichende Phrasen der »besorgten Bürger« oder der »Angst« der Rassist_innen bemüht werden. Dem anhaltenden militanten Rassismus von organisierten und unorganisierten Brandstiftern wird die »Willkommenskultur« der vielen »guten Deutschen« gegenübergestellt.

Lesen Sie bitte den vollständigen Artikel auf der Website von analyse & kritik: Im Namen der Menschenrechte (ak Nr. 608 / 15.9.2015)

WDR-Beitrag über das DISS-Archiv

WDR Lokalzeit aus Duisburg, 10.9.2015
WDR Lokalzeit aus Duisburg, 10.9.2015

Die Lokalzeit aus Duisburg des WDR brachte am 10. September einen dreiminütigen Beitrag über das DISS-Archiv zur extremen Rechten. Das Video ist noch einige Tage lang in der ARD Mediathek abrufbar unter:

Archiv zum Thema Rechtsextremismus

 

Der Schäuble-Schwiegersohn und der Grieche

Mit Recht sorgen herabsetzende Äußerungen, insbesondere aus den Reihen verantwortlicher Politiker oder hoher Beamter, für breite öffentliche Empörung. Dagegen können kritische Analysen solcher Äußerungen zu nachhaltigeren Einsichten über den Tag hinaus führen. Im Zusammenhang der Griechenland-Krise des Jahres 2015 und der nachfolgenden, immer noch andauernden Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderer kam es (und kommt es weiterhin) zu menschenverachtenden Aussagen. Im Folgenden dokumentieren wir die Analyse, die Jobst Paul im Juli 2015 zu einer Äußerung von Thomas Strobl, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, formulierte.

Thomas Strobl (CDU-Vize) am 13.7.2015:
Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“1

Eine Analyse von Jobst Paul

Am 13. Juli 2015 kommentierte Thomas Strobl, „CDU-Vize und Schäuble-Schwiegersohn“, den Stand der Griechenland-Krise vor Kameras und Journalisten mit dem Satz „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt“ – als „ob er am Stammtisch säße beim dritten Glas Heilbronner Trollinger Rosé“, meinte Oliver Das Gupta in der SZ2. Strobl habe damit auf dem Höhepunkt von Ängsten in ganz Europa, Deutschland wolle anderen Staaten seinen Willen aufzwingen und den Kontinent beherrschen, genau diese Ängste geschürt.

Für scharfe Kritik hat zunächst die Formulierung „der Grieche“ gesorgt3. Es gibt allerdings mehrere Schwerpunkte für die Analyse. Zunächst aber erinnert der Singular „der Grieche“ tatsächlich an alte herabsetzende Muster, wie zum Beispiel „der Russe“, „der Chinese“ und ähnliches. Betrachten wir zunächst, wie die Herabsetzung in diesem Fall funktioniert.

Die Reduktion eines Kollektivs von Individuen auf einen Singular zielt auf die Charakterisierung des Kollektivs, bzw. seines Charakters und Verhaltens, als unveränderlich, als sozusagen für alle ‚gleich programmiert‘. Was aber als Charakter und Verhalten unveränderlich ist, ist einem individuellen menschlichen Willen entzogen. Ein solches Wesen kann nichts lernen und es kann von nichts abgehalten werden. Insofern ist es ein dummes, seinen Impulsen ausgeliefertes Wesen.

Dummheit“ kann ‚nur‘ (wie im Fall „das Schaf“, „die Kuh“, „der Ostfriese“) Passivität, d.h. eine gewisse Harmlosigkeit signalisieren. Es kann aber auch, je nach Kontext, andeuten, dass das Wesen automatisch (‚blind‘) seinen instinktiven, egoistischen Trieben folgt und von daher auf Angriff und gewaltsame Inbesitznahme gebürstet ist. Dann aber, wie offenbar im Fall des obigen Zitats, appelliert ein Kollektiv-Singular wie “der Grieche“ an den Impuls zur Abwehr und Verteidigung.

Das Zitat hat aber zwei weitere Schwerpunkte. Betrachten wir zunächst die möglichen Valenzen von “nerven“. Man kann aus Formulierungen wie: ‚die Kinder nerven‘, ‚die Arbeitskollegen nerven‘, ‚der Pressluftbohrer nervt‘ eine ständige Belästigung extrapolieren, die an Schmerz grenzt oder Schmerz, vor allem auch psychischen Schmerz beinhaltet, da man der Situation ausgeliefert ist.

Hier wiederholen sich zwei bereits genannte Aspekte. Einerseits scheint die Belästigung unveränderlich und damit die Urheber nicht ansprechbar zu sein. Andererseits führt die Belästigung (auf der Seite des ‚Opfers‘) zweifellos zum Bedürfnis nach Abwehr und Verteidigung. Doch steht in dieser Konstellation (‚die Kinder nerven‘) noch merklich die Bereitschaft des Erduldens und Tolerierens im Vordergrund.

Dies verändert sich in der Perfekt-Form ‚hat (lang genug) genervt‘. Hier soll es zweifellos zur Gegenhandlung kommen oder es ist bereits zur Gegenhandlung gekommen, wobei die Ursache der Belästigung – sozusagen schlagartig – beseitigt wird oder werden soll. Damit aber verschiebt sich die Gesamtkonstellation: Nun sind es nicht mehr Kinder, Arbeitskollegen oder ein Pressluftbohrer, die nerven oder genervt haben. Nun ist es vielleicht ein entzündeter Zahn, der den Körper angreift und kurzerhand gezogen wurde, weil er „lang genug genervt hat“, eine Mücke, die nun nicht mehr nervt, weil sie abgeklatscht wurde, oder ein unbotmäßiger Schüler, der ‚von der Schule fliegt‘ und insofern ‚verschwindet‘.

Strobl partizipiert damit zunächst am stereotypen Erziehungsdiskurs, der im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise prägend war (‚die Griechen müssen ihre Hausaufgaben machen‘) und dem es insbesondere um ‚klare Regeln‘ mit angekündigten ‚Konsequenzen‘ geht, in Abgrenzung zu einem ‚libertären‘ (schwachen) Stil, der es zulässt, dass die Quälgeister ‚einem auf der Nase herumtanzen‘.4

Doch geht Strobls Assoziation definitiv weiter als der Vorstellungsgehalt der Zähmung und Domestizierung des ‚wilden Kinds‘, das am Ende ‚in den Stiefel gebracht wird‘. Denn offenbar ist der Fall hoffnungslos – das Kind lässt sich wohl nicht zähmen.

Damit allerdings nimmt der Erziehungsdiskurs Strobls, ganz entsprechend der Logik dehumanisierender Rhetorik, eine dramatische Wendung, weg von Methoden der schwarzen Erziehung hin zu einem Vernichtungsszenario: Der kleine Quälgeist, der einem ganz Großen zusetzen will/wollte, der freche David, der einen Goliath herausfordert(e), erhält die (tödliche) Quittung. Entscheidend wird der Aspekt der Beseitigung, nicht nur der Belästigung, sondern des Quälgeistes selbst. Dies verrät Strobls Vorstellung eines binär, d.h. zwischen totaler Macht und totaler Machtlosigkeit organisierten Machtgefälles zwischen dem ganz Großen (als vermeintlichem Opfer) und dem ‚Quälgeist‘.

Offen ist lediglich, ob Strobl mit der Perfektform (hat … genervt) zum kurzen gewaltsamen Schlag gegen den ‚kleinen frechen‘ Aggressor aufruft oder ob er Vollzug melden möchte. Allgemein unterstreicht Strobl die Heftigkeit und Unmittelbarkeit des ‚Schlags‘ durch die Einfügung eines ‚jetzt‘ (hat jetzt lang genug genervt). Die geringfügige schwäbische Dialektfärbung (lang genug statt lange genug) bindet die Haltung des ‚kurzen Prozesses‘ – stark genug für die Wahrnehmung – zudem an ein ‚gesundes Volksempfinden‘.

In der Presse wurde übrigens gut verstanden, dass Strobl eine Vernichtungsphantasie formuliert hatte:

Und dann kommt dieser Strobl daher und sagt mit Blick auf das Land, das die Deutschen vor nur etwas mehr als 70 Jahren überfallen und grausam beherrscht hatten: ‚Der Grieche hat lang genug genervt.‘“5

2 Ebd.

4 Strobl verknüpft damit das Griechenland-Thema subkutan mit den Links/Rechts-‚Schlachten‘ im Erziehungsdiskurs in verschiedenen deutschen Bundesländern.

CSU: 60 Millionen Flüchtlinge stehen an Bayerns Grenzen

Eine Analyse von Jobst Paul.

Andreas Scheuer (Generalsekretär der CSU):

„An den Grenzen stehen 60 Millionen Flüchtlinge. Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? Wir können nicht die ganze Welt retten.“

Dies äußerte Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, im Rahmen eines Gesprächs mit der Passauer Neuen Presse, das am 20. Juli 2015 veröffentlicht wurde.1

Scheuer griff dabei auf Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR2 vom Juni 2015 zurück, wonach sich Ende 2014 „weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht“ befanden. Betroffen waren/sind zumeist Menschen in Bürgerkriegsregionen und in Staaten in Auflösung. Daher waren von diesen 60 Millionen im Jahr 2014 38,2 Millionen Menschen „innerhalb ihres eigenen Landes“ auf der Flucht und davon wiederum 11 Millionen Menschen auf der Flucht „in ein angrenzendes Nachbarland“.3

Von daher war die UNHCR-Angabe „weltweit“ als Hinweis auf eine statistische Summe zu verstehen, in der unterschiedlichste humanitäre Katastrophen auf den Punkt kommen und für die der Westen – wie man hinzufügen darf – einen großen Teil der Verantwortung trägt. Aus der UNHCR-Mitteilung war aber nicht ein Szenario herauslesbar, in dem sich all diese Menschen auf der Flucht nach Europa (und in die USA) befänden.

Doch begnügte sich Andreas Scheuer am 20. Juli 2015 nicht damit, die UNHCR-Angabe allein in diesem Sinn zu fälschen und die schockierende Nachricht als rhetorisches Spielmaterial zu verwenden. Er beließ es auch nicht dabei, der bayerischen Öffentlichkeit in der Form einer ‚Mauerschau‘ mitzuteilen, dass sich diese ‚Vorhut‘ (also 60 Millionen Menschen) schon „an den Grenzen“ (Deutschlands, bzw. Bayerns) versammelt hätte. Vielmehr deutete er tendenziell an, dass sich hinter ihr bereits „die ganze Welt“, also die Weltbevölkerung, in Warteposition aufgestellt habe.

Bevor man die Frage beantworten kann, auf welche Handlungsanweisungen Scheuer mit dieser Zuspitzung bei seinem Publikum zusteuert, sollte man betrachten, wie die Zuspitzung selbst strukturiert ist, um auf diesem Weg zu erfahren, welche Denk- und Handlungsmuster Scheuer beim Publikum abrief. Wie verändert sich zum Beispiel die ‚Charakterisierung‘ von Flüchtlingen und globaler Fluchtbewegungen, wenn die millionenfachen menschlichen Tragödien, wie sie das UNHCR beschreibt, in eine uniforme Bewegung von „60 Millionen Menschen“ auf Europa zu und schließlich zu einer Bewegung der ‚ganzen Welt‘ in Richtung der deutschen (bayerischen) Grenzen umgedeutet werden?

Offenbar führt die Pauschalisierung dazu, dass konkrete Fluchtursachen (Krieg, Gewalt, regionale Bürgerkriege aufgrund der westlichen Interventionskriege der vergangenen Jahrzehnte, Zerstörung sozialer und ökonomischer Strukturen) aus dem Blickfeld gedrängt werden. In der Tat müssen global wirksame Fluchtgründe wegfallen, wenn doch ein einzelner Fleck (Deutschland / Bayern) davon völlig unberührt bleiben und sogar zur rettenden Oase für die „ganze Welt“ werden kann.

Entsprechend sorgt Scheuers Bild eines wandernden Kollektivs der „60 Millionen Flüchtlinge“ (und danach des Kollektivs der „ganzen Welt“) für die Einebnung alles dessen, was menschlich individuell ist und über rein körperliche Überlebensbedürfnisse hinausgeht. Stattdessen reduziert Scheuers Bild der „Massen“ Menschen auf ‚pure‘ Überlebensbedürfnisse und auf ein davon bestimmtes Flucht- oder ‚Wanderungs’verhalten, schreibt den „Massen“ also den uniformen Status menschlich reduzierter Wesen zu.

Dann aber haben wir es offenbar entsprechend der Scheuer’schen Logik und was Deutschland / Bayern einerseits und „die ganze Welt“ andererseits angeht, mit zwei Existenzformen zu tun:

Während Deutschland / Bayern über existenzielle ‚Lebensmittel‘ weit über den eigenen Bedarf hinaus verfügt, also in ‚humaner‘, zivilisatorischer Weise Vorräte angelegt hat, hat „die ganze Welt“ offenbar (in der nicht-zivilisatorischen Weise der ‚Wilden‘) keine Vorräte angelegt und möchte sich deshalb diese existenziellen ‚Lebensmittel‘ in Deutschland / Bayern holen.

Seit jeher arbeiten rassistische, aber auch antisemitische Stereotype mit dem Motiv des ‚Herumwanderns‘, um Minderheiten eine ‚zivilisatorische‘ Fähigkeit (die Vorratshaltung, den Verzicht auf unmittelbaren Genuss) abzusprechen und zu unterstellen, dass sie ‚auf Kosten anderer‘ leben wollen. Entsprechend evoziert Scheuers Äußerung die Vorstellung, dass die Flüchtlingsströme der Welt potenziell auf Deutschland / Bayern gerichtete Raubzüge sind, gegen die harte Vorkehrungen zu treffen wären.

Scheuers Frage Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? scheint diesen Aspekt inhaltlich zunächst aufzugreifen: Der naturhaften ‚Ströme‘ könnte man wohl nur mit äußerster Gewalt und Brutalität „Herr werden“, entweder, indem man sie „an den Grenzen“ blockiert oder aber im Land einer massiven Repression unterwirft. Dies entspräche wohl einem völkisch-rechtspopulistischen Drehbuch. Die Frageform Scheuers realisiert allerdings einen Bruch im martialischen Gestus. Sie deutet eher auf die Ratlosigkeit, wie man einer großen Aufgabe gewachsen sein soll, die man nicht abweisen kann.

Das Bild der „Massen“ an den Grenzen zeigt einen ähnlichen Bruch. Dort gibt es offenbar gar nicht die naturhaften ‚Ströme‘, die Deutschland überfluten wollen: Vielmehr haben die „Massen“ (d.h. „60 Millionen Flüchtlinge“) an den deutschen (bayerischen) Grenzen unversehens Halt gemacht. Sie stehen dort geduldig und warten auf Einlass, anerkennen also die Autorität des rettenden deutschen Gemeinwesens.

Scheuers Diktum verharrt also in dieser Unentschiedenheit zwischen martialischem Gestus und einer ‚gewissen‘ humanitären Verpflichtung: Wenn Deutschland / Bayern zwar nicht ‚die ganze Welt‘ ins Land lassen kann, so werden sich angesichts des „an den Grenzen“ aufgebauten Szenarios die „Massen“ nicht gänzlich abweisen lassen. In eine politische Ankündigung umgemünzt, könnte dies eine taktisch hinhaltende, dosierte Öffnung der Grenzen bedeuten und eine Behandlung der hereingelassenen Flüchtlinge nach humanitärem Mindeststandard.

Von daher kann nun die Funktion des zugespitzten Angstszenarios eingeschätzt werden, das Scheuer im Juli 2015 mit Hilfe einer Fälschung vor seiner politischen Anhängerschaft aufbaute. Offenbar wollte er einer rechten Klientel in ihrem politischen Selbstverständnis, insbesondere in ihrer rassistischen Perspektive auf Flüchtlinge entgegenkommen, um sie so zu bewegen, eine begrenzte Zuwanderung von Flüchtlingen (gewaltfrei) zu dulden.4 Dies entspräche dem Versuch, rechte Konkurrenz mit dem Versprechen zu ‚befrieden‘, am staatlichen Gewaltmonopol und an der politischen Macht der CSU zu partizipieren.

Abgesehen davon, dass solche Rückzugssignale faktisch zu einem Machtzuwachs rechts von der CSU führen müssen, könnte die CSU auch deshalb an Macht einbüßen, weil ihr Angebot ‚leer‘ ist: Sie hat gar nicht die Macht, die Zuwanderung restriktiv zu begrenzen und ihr autoritaristisch „Herr“ zu werden, oder gar eine bloße Minimalversorgung der Flüchtlinge (sozusagen nach ungarischem Modell) durchzusetzen.

Dies zeigte sich eklatant am 5. September 2015, als die deutsche Regierung (mit Beteiligung von CSU-Ministern) kurzfristig der Einreise von 8000 in Ungarn festgehaltener Flüchtlinge zustimmte, während sich der bayrische CSU-Innenminister Joachim Herrmann als ahnungslos – und ohnmächtig – gab und die Berliner Entscheidung als „völlig falsches Signal innerhalb Europas“ verurteilte. 5

1 Scheuer zur Asylpolitik: „Können nicht die ganze Welt retten“. In: Passauer Neue Presse (Lokalteil) vom 20.07.2015 [http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1749952_Scheuer-zur-Asylpolitik-Koennen-nicht-die-ganze-Welt-retten.html]

2 Vgl. World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement 2014. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html

3 In Deutschland wurden 2014 ca. 33.310 Personen als Flüchtlinge anerkannt, 4,0 Prozent erhielten einen Schutzstatus, und 1,6 Prozent Abschiebungsschutz. Im ersten Halbjahr 2015 lag die Anerkennungsquote (bei 180.000 Asylanträgen) bei etwa 37 %. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.html?nn=1366068

4 Nach massiver politischer und medialer Kritik nahm der CSU-Generalsekretär die UNHCR-Angabe am 30. Juli 2015 noch einmal auf. In einem Pressegespräch mit dem Oberpfalznet (unter http://m.oberpfalznetz.de/zeitung/454/4675558/) gab er sie nunmehr korrekt wieder („Es sind weltweit 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs“).

5 Angesichts der dramatischen Ereignisse am 5. September 2015 forderte Scheuer erneut, der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland müsse begrenzt werden. „So kann es nicht weitergehen.“ http://www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html

Netzfundstücke: Zeit zu Handeln!

Zeit zu Handeln!

Wir sind entsetzt, wütend und in großer Sorge. Es brennt in Deutschland. Nahezu täglich werden Flüchtlingsunterkünfte angezündet, es gibt rassistische Demonstrationen und Ausschreitungen in erschreckend vielen Orten. Schutzsuchenden Menschen schlägt blanker Hass und brutale Gewalt entgegen.

Wir wollen nicht länger ohnmächtig zuschauen. Wir sagen: Es ist Zeit zu handeln. Damit sich Menschlichkeit durchsetzt und Rassismus geächtet wird. Damit es kein neues Rostock-Lichtenhagen gibt. Über 150 Menschen wurden seit der Wiedervereinigung von Neonazis verbrannt, erschossen oder zu Tode geprügelt. Bereits 340 Anschläge im Jahr 2015 – das ist der gegenwärtige Terror.

Die vergangenen Monate lassen uns befürchten, dass bald weitere Tote zu beklagen sind. Diejenigen, die gemeinsam mit Neonazis gegen Flüchtlinge auf die Straße gehen und auf Facebook hetzen, sind keine »Asylkritiker« und auch keine »besorgten Bürger«. Es ist brandgefährlich, den Hass derart zu verharmlosen. Es sind Rassisten. Man muss sie auch so bezeichnen. Wir haben eine politische und eine menschliche Verantwortung, Flüchtlinge aufzunehmen. Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar, es ist ein Menschenrecht.

1. Die Polizei muss endlich ihrem Auftrag nachkommen und die rechten Gewalttäter stoppen. Flüchtlingsunterkünfte müssen dauerhaft und konsequent geschützt werden. Rufe nach einer Aushöhlung des Versammlungsrechts und Bannmeilen helfen dabei nicht.

2. Die Politik ist in der Verantwortung, die gegenwärtigen Herausforderungen anzugehen. Flüchtlinge müssen menschenwürdig behandelt werden. Selbst am Minimalen, einer vernünftigen Unterbringung, scheitert es derzeit. Es braucht winterfeste Unterkünfte, Sprachkurse, Hilfestellungen bei der Arbeitsmarktintegration sowie Bildungsmaßnahmen für junge Flüchtlinge. Das alles kostet zu Beginn des Aufenthalts Geld. Die Kosten einer langfristigen Desintegrationspolitik werden jedoch deutlich höher ausfallen.

3. Die Zivilgesellschaft muss auf der Straße dagegenhalten, wenn gegen Flüchtlinge demonstriert wird. Und zwar auch direkt schützend vor den Heimen selbst, wie jetzt in Heidenau. Dieses Engagement ist wertvoll und richtig. Nicht die Engagierten, die die Unterkünfte schützen, sind das Problem, sondern diejenigen, die die Flüchtlinge bedrohen und angreifen.

4. Wir alle müssen aktiv werden. Gegen Neonazis und Rassisten. Und in der direkten Unterstützung der Flüchtlinge. Ihre Bedürfnisse müssen gehört werden. Tausende Menschen helfen bereits. Ehrenamtlich, in ihrer Freizeit und bis zum Rande der Erschöpfung. Wir sagen Danke an alle, die sich bereits engagieren und hoffen, dass es noch viel mehr werden.

PRO ASYL & Kein Bock auf Nazis unterstützt von  Antilopen Gang, Die Ärzte, Beatsteaks, Broilers, Deichkind, Donots, Feine Sahne Fischfilet, Fettes Brot, Frittenbude, Irie Révoltés, Jan Delay, Jennifer Rostock, Jupiter Jones, Kettcar, Madsen, Marteria, The Prosecution, Sportfreunde Stiller, Sookee, Die Toten Hosen, Thees Uhlmann, Tocotronic, Turbostaat und ZSK.

Veranstaltung: „Das Boot ist voll“ – Was die Sprache in den Medien verrät

DISS-Mitarbeiter Rolf van Raden spricht am 29.9. auf einer Veranstaltung des Bochumer Forums für Antirassismus und Kultur e.V.

“Das Boot ist voll“: Was die Sprache in den Medien verrät

Dienstag, 29.09.2015, 18 Uhr

Pegida-Demos, bedrohte Kommunalpolitiker*innen, brennende Flüchtlingsunterkünfte und eine weitere Verschärfung des Asylrechts kurz vor der Sommerpause: In Deutschland findet der Rassismus wieder Ausdrucksformen, die viele bereits für überwunden hielten. Auch Journalistinnen und Journalisten müssen sich fragen lassen, welche Rolle ihre Berichterstattung bei der aktuellen Zuspitzung von Ausgrenzungsdiskursen spielt.

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung analysiert seit mehr als 25 Jahren die Medienberichterstattung zu Rassismus und Einwanderung in Deutschland. Im Frühjahr hat das Institut gewarnt, dass aktuell wieder verstärkt Bilder und Vorstellungen in den Medien transportiert werden, die der rassistischen Mobilmachung vor den Pogromen der frühen 1990er Jahren gleichen. Der Vortrag beschäftigt sich mit den Kontinuitäten und Brüchen dieser Bilder und fordert einen grundlegenden Perspektivenwechsel bei der Berichterstattung über Flucht und Einwanderung.

Referent:
Rolf van Raden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung.

Ort:
IFAK e.V., Engelsburgerstr. 168, 44793 Bochum

VeranstalterInnen:
Bochumer Forum für Antirassismus und Kultur – BoFo e.V., IFAK e.V., Flüchtlingsrat NRW e.V.