Der Schäuble-Schwiegersohn und der Grieche

Mit Recht sorgen herabsetzende Äußerungen, insbesondere aus den Reihen verantwortlicher Politiker oder hoher Beamter, für breite öffentliche Empörung. Dagegen können kritische Analysen solcher Äußerungen zu nachhaltigeren Einsichten über den Tag hinaus führen. Im Zusammenhang der Griechenland-Krise des Jahres 2015 und der nachfolgenden, immer noch andauernden Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderer kam es (und kommt es weiterhin) zu menschenverachtenden Aussagen. Im Folgenden dokumentieren wir die Analyse, die Jobst Paul im Juli 2015 zu einer Äußerung von Thomas Strobl, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, formulierte.

Thomas Strobl (CDU-Vize) am 13.7.2015:
Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“1

Eine Analyse von Jobst Paul

Am 13. Juli 2015 kommentierte Thomas Strobl, „CDU-Vize und Schäuble-Schwiegersohn“, den Stand der Griechenland-Krise vor Kameras und Journalisten mit dem Satz „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt“ – als „ob er am Stammtisch säße beim dritten Glas Heilbronner Trollinger Rosé“, meinte Oliver Das Gupta in der SZ2. Strobl habe damit auf dem Höhepunkt von Ängsten in ganz Europa, Deutschland wolle anderen Staaten seinen Willen aufzwingen und den Kontinent beherrschen, genau diese Ängste geschürt.

Für scharfe Kritik hat zunächst die Formulierung „der Grieche“ gesorgt3. Es gibt allerdings mehrere Schwerpunkte für die Analyse. Zunächst aber erinnert der Singular „der Grieche“ tatsächlich an alte herabsetzende Muster, wie zum Beispiel „der Russe“, „der Chinese“ und ähnliches. Betrachten wir zunächst, wie die Herabsetzung in diesem Fall funktioniert.

Die Reduktion eines Kollektivs von Individuen auf einen Singular zielt auf die Charakterisierung des Kollektivs, bzw. seines Charakters und Verhaltens, als unveränderlich, als sozusagen für alle ‚gleich programmiert‘. Was aber als Charakter und Verhalten unveränderlich ist, ist einem individuellen menschlichen Willen entzogen. Ein solches Wesen kann nichts lernen und es kann von nichts abgehalten werden. Insofern ist es ein dummes, seinen Impulsen ausgeliefertes Wesen.

Dummheit“ kann ‚nur‘ (wie im Fall „das Schaf“, „die Kuh“, „der Ostfriese“) Passivität, d.h. eine gewisse Harmlosigkeit signalisieren. Es kann aber auch, je nach Kontext, andeuten, dass das Wesen automatisch (‚blind‘) seinen instinktiven, egoistischen Trieben folgt und von daher auf Angriff und gewaltsame Inbesitznahme gebürstet ist. Dann aber, wie offenbar im Fall des obigen Zitats, appelliert ein Kollektiv-Singular wie “der Grieche“ an den Impuls zur Abwehr und Verteidigung.

Das Zitat hat aber zwei weitere Schwerpunkte. Betrachten wir zunächst die möglichen Valenzen von “nerven“. Man kann aus Formulierungen wie: ‚die Kinder nerven‘, ‚die Arbeitskollegen nerven‘, ‚der Pressluftbohrer nervt‘ eine ständige Belästigung extrapolieren, die an Schmerz grenzt oder Schmerz, vor allem auch psychischen Schmerz beinhaltet, da man der Situation ausgeliefert ist.

Hier wiederholen sich zwei bereits genannte Aspekte. Einerseits scheint die Belästigung unveränderlich und damit die Urheber nicht ansprechbar zu sein. Andererseits führt die Belästigung (auf der Seite des ‚Opfers‘) zweifellos zum Bedürfnis nach Abwehr und Verteidigung. Doch steht in dieser Konstellation (‚die Kinder nerven‘) noch merklich die Bereitschaft des Erduldens und Tolerierens im Vordergrund.

Dies verändert sich in der Perfekt-Form ‚hat (lang genug) genervt‘. Hier soll es zweifellos zur Gegenhandlung kommen oder es ist bereits zur Gegenhandlung gekommen, wobei die Ursache der Belästigung – sozusagen schlagartig – beseitigt wird oder werden soll. Damit aber verschiebt sich die Gesamtkonstellation: Nun sind es nicht mehr Kinder, Arbeitskollegen oder ein Pressluftbohrer, die nerven oder genervt haben. Nun ist es vielleicht ein entzündeter Zahn, der den Körper angreift und kurzerhand gezogen wurde, weil er „lang genug genervt hat“, eine Mücke, die nun nicht mehr nervt, weil sie abgeklatscht wurde, oder ein unbotmäßiger Schüler, der ‚von der Schule fliegt‘ und insofern ‚verschwindet‘.

Strobl partizipiert damit zunächst am stereotypen Erziehungsdiskurs, der im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise prägend war (‚die Griechen müssen ihre Hausaufgaben machen‘) und dem es insbesondere um ‚klare Regeln‘ mit angekündigten ‚Konsequenzen‘ geht, in Abgrenzung zu einem ‚libertären‘ (schwachen) Stil, der es zulässt, dass die Quälgeister ‚einem auf der Nase herumtanzen‘.4

Doch geht Strobls Assoziation definitiv weiter als der Vorstellungsgehalt der Zähmung und Domestizierung des ‚wilden Kinds‘, das am Ende ‚in den Stiefel gebracht wird‘. Denn offenbar ist der Fall hoffnungslos – das Kind lässt sich wohl nicht zähmen.

Damit allerdings nimmt der Erziehungsdiskurs Strobls, ganz entsprechend der Logik dehumanisierender Rhetorik, eine dramatische Wendung, weg von Methoden der schwarzen Erziehung hin zu einem Vernichtungsszenario: Der kleine Quälgeist, der einem ganz Großen zusetzen will/wollte, der freche David, der einen Goliath herausfordert(e), erhält die (tödliche) Quittung. Entscheidend wird der Aspekt der Beseitigung, nicht nur der Belästigung, sondern des Quälgeistes selbst. Dies verrät Strobls Vorstellung eines binär, d.h. zwischen totaler Macht und totaler Machtlosigkeit organisierten Machtgefälles zwischen dem ganz Großen (als vermeintlichem Opfer) und dem ‚Quälgeist‘.

Offen ist lediglich, ob Strobl mit der Perfektform (hat … genervt) zum kurzen gewaltsamen Schlag gegen den ‚kleinen frechen‘ Aggressor aufruft oder ob er Vollzug melden möchte. Allgemein unterstreicht Strobl die Heftigkeit und Unmittelbarkeit des ‚Schlags‘ durch die Einfügung eines ‚jetzt‘ (hat jetzt lang genug genervt). Die geringfügige schwäbische Dialektfärbung (lang genug statt lange genug) bindet die Haltung des ‚kurzen Prozesses‘ – stark genug für die Wahrnehmung – zudem an ein ‚gesundes Volksempfinden‘.

In der Presse wurde übrigens gut verstanden, dass Strobl eine Vernichtungsphantasie formuliert hatte:

Und dann kommt dieser Strobl daher und sagt mit Blick auf das Land, das die Deutschen vor nur etwas mehr als 70 Jahren überfallen und grausam beherrscht hatten: ‚Der Grieche hat lang genug genervt.‘“5

2 Ebd.

4 Strobl verknüpft damit das Griechenland-Thema subkutan mit den Links/Rechts-‚Schlachten‘ im Erziehungsdiskurs in verschiedenen deutschen Bundesländern.

CSU: 60 Millionen Flüchtlinge stehen an Bayerns Grenzen

Eine Analyse von Jobst Paul.

Andreas Scheuer (Generalsekretär der CSU):

„An den Grenzen stehen 60 Millionen Flüchtlinge. Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? Wir können nicht die ganze Welt retten.“

Dies äußerte Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, im Rahmen eines Gesprächs mit der Passauer Neuen Presse, das am 20. Juli 2015 veröffentlicht wurde.1

Scheuer griff dabei auf Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR2 vom Juni 2015 zurück, wonach sich Ende 2014 „weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht“ befanden. Betroffen waren/sind zumeist Menschen in Bürgerkriegsregionen und in Staaten in Auflösung. Daher waren von diesen 60 Millionen im Jahr 2014 38,2 Millionen Menschen „innerhalb ihres eigenen Landes“ auf der Flucht und davon wiederum 11 Millionen Menschen auf der Flucht „in ein angrenzendes Nachbarland“.3

Von daher war die UNHCR-Angabe „weltweit“ als Hinweis auf eine statistische Summe zu verstehen, in der unterschiedlichste humanitäre Katastrophen auf den Punkt kommen und für die der Westen – wie man hinzufügen darf – einen großen Teil der Verantwortung trägt. Aus der UNHCR-Mitteilung war aber nicht ein Szenario herauslesbar, in dem sich all diese Menschen auf der Flucht nach Europa (und in die USA) befänden.

Doch begnügte sich Andreas Scheuer am 20. Juli 2015 nicht damit, die UNHCR-Angabe allein in diesem Sinn zu fälschen und die schockierende Nachricht als rhetorisches Spielmaterial zu verwenden. Er beließ es auch nicht dabei, der bayerischen Öffentlichkeit in der Form einer ‚Mauerschau‘ mitzuteilen, dass sich diese ‚Vorhut‘ (also 60 Millionen Menschen) schon „an den Grenzen“ (Deutschlands, bzw. Bayerns) versammelt hätte. Vielmehr deutete er tendenziell an, dass sich hinter ihr bereits „die ganze Welt“, also die Weltbevölkerung, in Warteposition aufgestellt habe.

Bevor man die Frage beantworten kann, auf welche Handlungsanweisungen Scheuer mit dieser Zuspitzung bei seinem Publikum zusteuert, sollte man betrachten, wie die Zuspitzung selbst strukturiert ist, um auf diesem Weg zu erfahren, welche Denk- und Handlungsmuster Scheuer beim Publikum abrief. Wie verändert sich zum Beispiel die ‚Charakterisierung‘ von Flüchtlingen und globaler Fluchtbewegungen, wenn die millionenfachen menschlichen Tragödien, wie sie das UNHCR beschreibt, in eine uniforme Bewegung von „60 Millionen Menschen“ auf Europa zu und schließlich zu einer Bewegung der ‚ganzen Welt‘ in Richtung der deutschen (bayerischen) Grenzen umgedeutet werden?

Offenbar führt die Pauschalisierung dazu, dass konkrete Fluchtursachen (Krieg, Gewalt, regionale Bürgerkriege aufgrund der westlichen Interventionskriege der vergangenen Jahrzehnte, Zerstörung sozialer und ökonomischer Strukturen) aus dem Blickfeld gedrängt werden. In der Tat müssen global wirksame Fluchtgründe wegfallen, wenn doch ein einzelner Fleck (Deutschland / Bayern) davon völlig unberührt bleiben und sogar zur rettenden Oase für die „ganze Welt“ werden kann.

Entsprechend sorgt Scheuers Bild eines wandernden Kollektivs der „60 Millionen Flüchtlinge“ (und danach des Kollektivs der „ganzen Welt“) für die Einebnung alles dessen, was menschlich individuell ist und über rein körperliche Überlebensbedürfnisse hinausgeht. Stattdessen reduziert Scheuers Bild der „Massen“ Menschen auf ‚pure‘ Überlebensbedürfnisse und auf ein davon bestimmtes Flucht- oder ‚Wanderungs’verhalten, schreibt den „Massen“ also den uniformen Status menschlich reduzierter Wesen zu.

Dann aber haben wir es offenbar entsprechend der Scheuer’schen Logik und was Deutschland / Bayern einerseits und „die ganze Welt“ andererseits angeht, mit zwei Existenzformen zu tun:

Während Deutschland / Bayern über existenzielle ‚Lebensmittel‘ weit über den eigenen Bedarf hinaus verfügt, also in ‚humaner‘, zivilisatorischer Weise Vorräte angelegt hat, hat „die ganze Welt“ offenbar (in der nicht-zivilisatorischen Weise der ‚Wilden‘) keine Vorräte angelegt und möchte sich deshalb diese existenziellen ‚Lebensmittel‘ in Deutschland / Bayern holen.

Seit jeher arbeiten rassistische, aber auch antisemitische Stereotype mit dem Motiv des ‚Herumwanderns‘, um Minderheiten eine ‚zivilisatorische‘ Fähigkeit (die Vorratshaltung, den Verzicht auf unmittelbaren Genuss) abzusprechen und zu unterstellen, dass sie ‚auf Kosten anderer‘ leben wollen. Entsprechend evoziert Scheuers Äußerung die Vorstellung, dass die Flüchtlingsströme der Welt potenziell auf Deutschland / Bayern gerichtete Raubzüge sind, gegen die harte Vorkehrungen zu treffen wären.

Scheuers Frage Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? scheint diesen Aspekt inhaltlich zunächst aufzugreifen: Der naturhaften ‚Ströme‘ könnte man wohl nur mit äußerster Gewalt und Brutalität „Herr werden“, entweder, indem man sie „an den Grenzen“ blockiert oder aber im Land einer massiven Repression unterwirft. Dies entspräche wohl einem völkisch-rechtspopulistischen Drehbuch. Die Frageform Scheuers realisiert allerdings einen Bruch im martialischen Gestus. Sie deutet eher auf die Ratlosigkeit, wie man einer großen Aufgabe gewachsen sein soll, die man nicht abweisen kann.

Das Bild der „Massen“ an den Grenzen zeigt einen ähnlichen Bruch. Dort gibt es offenbar gar nicht die naturhaften ‚Ströme‘, die Deutschland überfluten wollen: Vielmehr haben die „Massen“ (d.h. „60 Millionen Flüchtlinge“) an den deutschen (bayerischen) Grenzen unversehens Halt gemacht. Sie stehen dort geduldig und warten auf Einlass, anerkennen also die Autorität des rettenden deutschen Gemeinwesens.

Scheuers Diktum verharrt also in dieser Unentschiedenheit zwischen martialischem Gestus und einer ‚gewissen‘ humanitären Verpflichtung: Wenn Deutschland / Bayern zwar nicht ‚die ganze Welt‘ ins Land lassen kann, so werden sich angesichts des „an den Grenzen“ aufgebauten Szenarios die „Massen“ nicht gänzlich abweisen lassen. In eine politische Ankündigung umgemünzt, könnte dies eine taktisch hinhaltende, dosierte Öffnung der Grenzen bedeuten und eine Behandlung der hereingelassenen Flüchtlinge nach humanitärem Mindeststandard.

Von daher kann nun die Funktion des zugespitzten Angstszenarios eingeschätzt werden, das Scheuer im Juli 2015 mit Hilfe einer Fälschung vor seiner politischen Anhängerschaft aufbaute. Offenbar wollte er einer rechten Klientel in ihrem politischen Selbstverständnis, insbesondere in ihrer rassistischen Perspektive auf Flüchtlinge entgegenkommen, um sie so zu bewegen, eine begrenzte Zuwanderung von Flüchtlingen (gewaltfrei) zu dulden.4 Dies entspräche dem Versuch, rechte Konkurrenz mit dem Versprechen zu ‚befrieden‘, am staatlichen Gewaltmonopol und an der politischen Macht der CSU zu partizipieren.

Abgesehen davon, dass solche Rückzugssignale faktisch zu einem Machtzuwachs rechts von der CSU führen müssen, könnte die CSU auch deshalb an Macht einbüßen, weil ihr Angebot ‚leer‘ ist: Sie hat gar nicht die Macht, die Zuwanderung restriktiv zu begrenzen und ihr autoritaristisch „Herr“ zu werden, oder gar eine bloße Minimalversorgung der Flüchtlinge (sozusagen nach ungarischem Modell) durchzusetzen.

Dies zeigte sich eklatant am 5. September 2015, als die deutsche Regierung (mit Beteiligung von CSU-Ministern) kurzfristig der Einreise von 8000 in Ungarn festgehaltener Flüchtlinge zustimmte, während sich der bayrische CSU-Innenminister Joachim Herrmann als ahnungslos – und ohnmächtig – gab und die Berliner Entscheidung als „völlig falsches Signal innerhalb Europas“ verurteilte. 5

1 Scheuer zur Asylpolitik: „Können nicht die ganze Welt retten“. In: Passauer Neue Presse (Lokalteil) vom 20.07.2015 [http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1749952_Scheuer-zur-Asylpolitik-Koennen-nicht-die-ganze-Welt-retten.html]

2 Vgl. World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement 2014. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html

3 In Deutschland wurden 2014 ca. 33.310 Personen als Flüchtlinge anerkannt, 4,0 Prozent erhielten einen Schutzstatus, und 1,6 Prozent Abschiebungsschutz. Im ersten Halbjahr 2015 lag die Anerkennungsquote (bei 180.000 Asylanträgen) bei etwa 37 %. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.html?nn=1366068

4 Nach massiver politischer und medialer Kritik nahm der CSU-Generalsekretär die UNHCR-Angabe am 30. Juli 2015 noch einmal auf. In einem Pressegespräch mit dem Oberpfalznet (unter http://m.oberpfalznetz.de/zeitung/454/4675558/) gab er sie nunmehr korrekt wieder („Es sind weltweit 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs“).

5 Angesichts der dramatischen Ereignisse am 5. September 2015 forderte Scheuer erneut, der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland müsse begrenzt werden. „So kann es nicht weitergehen.“ http://www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html

Netzfundstücke: Zeit zu Handeln!

Zeit zu Handeln!

Wir sind entsetzt, wütend und in großer Sorge. Es brennt in Deutschland. Nahezu täglich werden Flüchtlingsunterkünfte angezündet, es gibt rassistische Demonstrationen und Ausschreitungen in erschreckend vielen Orten. Schutzsuchenden Menschen schlägt blanker Hass und brutale Gewalt entgegen.

Wir wollen nicht länger ohnmächtig zuschauen. Wir sagen: Es ist Zeit zu handeln. Damit sich Menschlichkeit durchsetzt und Rassismus geächtet wird. Damit es kein neues Rostock-Lichtenhagen gibt. Über 150 Menschen wurden seit der Wiedervereinigung von Neonazis verbrannt, erschossen oder zu Tode geprügelt. Bereits 340 Anschläge im Jahr 2015 – das ist der gegenwärtige Terror.

Die vergangenen Monate lassen uns befürchten, dass bald weitere Tote zu beklagen sind. Diejenigen, die gemeinsam mit Neonazis gegen Flüchtlinge auf die Straße gehen und auf Facebook hetzen, sind keine »Asylkritiker« und auch keine »besorgten Bürger«. Es ist brandgefährlich, den Hass derart zu verharmlosen. Es sind Rassisten. Man muss sie auch so bezeichnen. Wir haben eine politische und eine menschliche Verantwortung, Flüchtlinge aufzunehmen. Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar, es ist ein Menschenrecht.

1. Die Polizei muss endlich ihrem Auftrag nachkommen und die rechten Gewalttäter stoppen. Flüchtlingsunterkünfte müssen dauerhaft und konsequent geschützt werden. Rufe nach einer Aushöhlung des Versammlungsrechts und Bannmeilen helfen dabei nicht.

2. Die Politik ist in der Verantwortung, die gegenwärtigen Herausforderungen anzugehen. Flüchtlinge müssen menschenwürdig behandelt werden. Selbst am Minimalen, einer vernünftigen Unterbringung, scheitert es derzeit. Es braucht winterfeste Unterkünfte, Sprachkurse, Hilfestellungen bei der Arbeitsmarktintegration sowie Bildungsmaßnahmen für junge Flüchtlinge. Das alles kostet zu Beginn des Aufenthalts Geld. Die Kosten einer langfristigen Desintegrationspolitik werden jedoch deutlich höher ausfallen.

3. Die Zivilgesellschaft muss auf der Straße dagegenhalten, wenn gegen Flüchtlinge demonstriert wird. Und zwar auch direkt schützend vor den Heimen selbst, wie jetzt in Heidenau. Dieses Engagement ist wertvoll und richtig. Nicht die Engagierten, die die Unterkünfte schützen, sind das Problem, sondern diejenigen, die die Flüchtlinge bedrohen und angreifen.

4. Wir alle müssen aktiv werden. Gegen Neonazis und Rassisten. Und in der direkten Unterstützung der Flüchtlinge. Ihre Bedürfnisse müssen gehört werden. Tausende Menschen helfen bereits. Ehrenamtlich, in ihrer Freizeit und bis zum Rande der Erschöpfung. Wir sagen Danke an alle, die sich bereits engagieren und hoffen, dass es noch viel mehr werden.

PRO ASYL & Kein Bock auf Nazis unterstützt von  Antilopen Gang, Die Ärzte, Beatsteaks, Broilers, Deichkind, Donots, Feine Sahne Fischfilet, Fettes Brot, Frittenbude, Irie Révoltés, Jan Delay, Jennifer Rostock, Jupiter Jones, Kettcar, Madsen, Marteria, The Prosecution, Sportfreunde Stiller, Sookee, Die Toten Hosen, Thees Uhlmann, Tocotronic, Turbostaat und ZSK.

Veranstaltung: „Das Boot ist voll“ – Was die Sprache in den Medien verrät

DISS-Mitarbeiter Rolf van Raden spricht am 29.9. auf einer Veranstaltung des Bochumer Forums für Antirassismus und Kultur e.V.

“Das Boot ist voll“: Was die Sprache in den Medien verrät

Dienstag, 29.09.2015, 18 Uhr

Pegida-Demos, bedrohte Kommunalpolitiker*innen, brennende Flüchtlingsunterkünfte und eine weitere Verschärfung des Asylrechts kurz vor der Sommerpause: In Deutschland findet der Rassismus wieder Ausdrucksformen, die viele bereits für überwunden hielten. Auch Journalistinnen und Journalisten müssen sich fragen lassen, welche Rolle ihre Berichterstattung bei der aktuellen Zuspitzung von Ausgrenzungsdiskursen spielt.

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung analysiert seit mehr als 25 Jahren die Medienberichterstattung zu Rassismus und Einwanderung in Deutschland. Im Frühjahr hat das Institut gewarnt, dass aktuell wieder verstärkt Bilder und Vorstellungen in den Medien transportiert werden, die der rassistischen Mobilmachung vor den Pogromen der frühen 1990er Jahren gleichen. Der Vortrag beschäftigt sich mit den Kontinuitäten und Brüchen dieser Bilder und fordert einen grundlegenden Perspektivenwechsel bei der Berichterstattung über Flucht und Einwanderung.

Referent:
Rolf van Raden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung.

Ort:
IFAK e.V., Engelsburgerstr. 168, 44793 Bochum

VeranstalterInnen:
Bochumer Forum für Antirassismus und Kultur – BoFo e.V., IFAK e.V., Flüchtlingsrat NRW e.V.

Netzfundstücke: Bandenkriege, Drogen und Angela Merkel

Einen schönen Kontrapunkt zur Marxloh-Katastrophenberichterstattung anlässlich des Merkel-Besuches setzt Felix Huesmann im Online-Magazin Vice. Zur Recherche war er in Duisburg und hat u.a. DISS-Mitarbeiter Martin Dietzsch befragt.

Die Polizei sieht Martin Dietzsch auch für die anfängliche Eskalation der Stimmung in Rheinhausen in der Mitverantwortung: „Wie jetzt in Marxloh gab es damals ein seltsam lanciertes Papier der Polizei. Das tauchte im August 2013 plötzlich auf und behauptete völlig abenteuerliche Kriminalitätszahlen in dem Haus und im Stadtteil. Das wird in den Medien teilweise bis heute noch als Fakt behandelt, obwohl die spätere offizielle Kriminalstatistik dem widerspricht. Vor der Veröffentlichung des Polizeipapiers hatte sich die Situation rund um das Haus halbwegs beruhigt, danach eskalierte die Lage.“ „Etwas Ähnliches“, sagt Dietzsch, „erleben wir jetzt in Marxloh.“

Lesen Sie den vollständigen Artikel auf Vice: Bandenkriege, Drogen und Angela Merkel: Die No-Go-Area von Duisburg

DISS Presseerklärung: Das Problem heißt Rassismus

Duisburg, 25. August 2015

An jedem Tag ereignen sich in Deutschland Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte: Das Problem heißt Rassismus

Über 200 Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte wurden allein im ersten Halbjahr 2015 vom bundesdeutschen Innenministerium gezählt. Das bedeutet, dass in diesem Jahr in Deutschland jeden Tag Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte verübt wurden.

Mit großer Sorge beobachten wir, dass die weit verbreitete öffentliche Stimmung gegen Geflüchtete auch durch Äußerungen bundesdeutscher Politikerinnen begünstigt wird. Hier ist zum Beispiel Horst Seehofer zu nennen, der unlängst von „massenhaftem Asylmissbrauch“ sprach. Mit dem Vorschlag separater „Auffanglager“, mit den Forderungen, weitere Balkanstaaten zu „sicheren Drittländern“ zu erklären, Personenkontrollen an innereuropäischen Grenzen wieder einzuführen und „Einreisesperren für Ausgewiesene“ zu erzwingen und mit der Sachleistungsdiskussion wird der Auffassung Vorschub geleistet, es seien die Flüchtlinge selbst, die eine rassistisch aufgeladene Stimmung provozierten. All dies erinnert uns fatal an die Zustände in Deutschland in den frühen 1990er Jahren – auch wenn wir durchaus Unterschiede bemerken.

Damals schlossen sich die bundesdeutschen Medien nahezu durchgängig an einen rassistisch aufgeladenen Diskurs an und befeuerten diesen. Dies ist heute in dieser Breite nicht der Fall. Jedoch ist in den Medien auch derzeit von „Ansturm“ und „Flüchtlingsströmen“ die Rede. Nahezu ein Konsens ist die angebliche „Überschreitung der Belastungsgrenze“. Die hohe Zahl der Flüchtlinge erzeuge einen Staatsnotstand. Die Bilder, die damit hervorgerufen werden, sind dazu geeignet, die Situation zu verschärfen und Menschen als bedrohliche Massen wahrzunehmen. Auch ist es eine unverantwortliche Verharmlosung, wenn rassistische Protagonistinnen als „Asylgegner“ oder „Asylkritiker“ und rassistische Angriffe als „Protest“ bezeichnet werden. Mehrheitlich schließen sich die Medien auch heute den Vorstellungen der Politik an, wenn sie z.B. eine Beschleunigung der Asylverfahren fordern, da andernfalls die Stimmung in der Bevölkerung zu „kippen“ drohe, wobei mit „Beschleunigung“ oftmals euphemistisch ein weiterer Abbau von Rechtsstaatlichkeit in Asylverfahren bezeichnet wird. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass sich viele Medien bemühen, einer eskalierenden rassistischen Aufladung des Diskurses entgegenzusteuern, indem offen rassistische Äußerungen kritisiert und zurückgewiesen werden.

Im Hinblick auf die deutsche Wirtschaft wird die derzeitige Situation widersprüchlich beurteilt. So stellte Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn Anfang des Jahres gegenüber der FAZ Einwanderung als Verlustgeschäft für die deutsche Wirtschaft dar. In einer Klarstellung ruderte er dann in einem Spiegel-Online-Interview zurück: Migration sei wichtig für die Rentenproblematik und den Arbeitsmarkt – aber nur, wenn nicht zu viele Geringqualifizierte kämen, die der Sozialstaat als „subventionierte Billiglöhner“ ins Land locke. Das sei teuer und verschärfe die sozialen Probleme. Er fordert deswegen eine hinreichend qualifizierte Migration aus EU-fernen Drittländern.

Auf diese Weise werden die Menschen, die zurzeit nach Deutschland kommen in zwei Gruppen unterteilt: ’nützlich für unsere Gesellschaft‘ und ’schädlich für unsere Gesellschaft‘. Deutschland formuliert einen Anspruch auf „nützliche Einwanderer“ und damit diese möglichst wenige Ansprüche an Deutschland formulieren können, sollten sie besser aus EU-fernen Drittländern kommen – und natürlich „hinreichend qualifiziert“ sein.

Die Entwicklung der extremen Rechten, die wir seit nunmehr 28 Jahren in unserem Institut beobachten und analysieren, lässt uns die augenblickliche Situation als im wahrsten Sinne des Wortes „brandgefährlich“ erleben.

So fertigten Neonazis der Kleinstpartei „Der III. Weg“ im März 2015 eine interaktive Landkarte an, auf der bundesweit über 2000 Flüchtlingsunterkünfte eingetragen wurden. „Der III. Weg“ ist eine Organisation, die sich nach dem Verbot militanter neonazistischer Kameradschaften gründete und inzwischen in etlichen Bundesländern aktiv ist. Wir werten diese Karte als eine Veröffentlichung potentieller Anschlagsziele. Im Rahmen ihrer Kampagne gegen Flüchtlinge wurde von dieser Partei eine Broschüre veröffentlicht, die eine Anleitung erhält, wie Neonazis, getarnt als Bürgerinitiativen, gegen Flüchtlingsunterkünfte vorgehen sollen, um die Stimmung innerhalb der Bevölkerung gegen Flüchtlinge anzuheizen. Vor diesem Hintergrund ist es alarmierend, dass Pegida auch nach fast einem Jahr regelmäßig mit mehreren tausend Menschen in Dresden aufmarschiert. Das Kalkül der extremen Rechten scheint aufzugehen.

In unseren Studien zum alltäglichen Rassismus haben wir festgestellt, dass rassistische Einstellungen nicht zwingend daran gebunden sind, ob es viele oder wenige Migrantinnen in einer Region gibt. Vielmehr zeigen rassistische Einstellungen das Bestreben, die eigene Vormachtstellung zu erhalten und zu sichern. Deshalb gilt heute wie in den 1990er Jahren auch: Das Problem heißt Rassismus.

Während Geflüchtete durch rassistische Agitationen bedroht werden, grenzt ihre „Unterbringung“ an eine humanitäre Katastrophe. Mitten in einem der reichsten Länder der Welt werden Zeltstädte oder Container errichtet, aus zahlreichen Unterkünften wird berichtet, dass den Geflüchteten nicht ausreichend Nahrung, Wasser und Hygieneartikel zur Verfügung gestellt werden und die Menschenrechte auf Gesundheit und Privatsphäre außer Kraft gesetzt sind. Wer solch einen künstlichen Notstand erzeugt, ist mitverantwortlich für die Taten der rechtsterroristischen Brandstifter.

Statt die Rechte von Geflüchteten noch weiter einzuschränken, muss es um den wirksamen Schutz von Flüchtlingen gehen. Deshalb sollten sich sowohl die zivilgesellschaftlichen wie auch die institutionellen Kräfte darauf konzentrieren, jedwede Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte zu verhindern und die Würde des Menschen zu achten.

Netzfundstücke: Telepolis-Interview zur Griechenland-Berichterstattung

Im Online-Magazin Telepolis erschien ein ausführliches Interview mit den DISS-Mitarbeiterinnen Margarete Jäger und Regina Wamper. Sie analysierten die Kommentierung der Griechenland-Krise in der Süddeutschen Zeitung. Im Telepolis-Interview stellen sie die Ergebnisse ihrer Analyse detailliert vor und mahnen die Medien an, die Positionen der Herrschenden kritischer zu hinterfragen.

Kritik findet sich also schon in den Kommentaren?

Margarete Jäger: Sicher, das haben wir ja bereits erwähnt, es gibt Kritik – aber nur in einem sehr engen Rahmen. Die Kritik überschreitet nämlich nicht die Feststellung der Notwendigkeit von „Reformen“ im Sinne der Sparpolitik und des Umbaus der griechischen Wirtschaft.

Was bedeutet das?

Margarete Jäger: Das bedeutet, dass über den Kapitalismus hinausweisende Konzepte außerhalb der Grenze des Sagbaren liegen, ebenso wie sozialpolitische Maßnahmen. Sozialpolitik gilt als wirtschaftsschädigend. Insofern wird dann eine Kritik an dem Agieren der Troika auch als „absurd“ bewertet.

In den SZ-Kommentaren zu Griechenland fließt an manchen Stellen auch das Thema Russland mit ein. Was ist Ihnen da aufgefallen?

Regina Wamper: Das ist in der Tat sehr interessant. Die Rolle von Russland wird in Verbindung mit der Krise in Griechenland als besonders destruktiv wahrgenommen. Russland wird als äußerer Feind begriffen, der insgesamt als weltpolitischer Akteur seinen Einfluss durch Bestechung, Gewalt und Krieg abzusichern suche. Damit wird Russland im Griechenland-Diskurs zu einer außenpolitischen Gefahr für Europa, sollte es zu einer Kooperation zwischen Tsipras und Putin kommen.

Durch eine solche Positionierung wird Europa als eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft, die untereinander in einem produktiven Wettbewerb steht, abgegrenzt. Europa, so lautet der Umkehrschluss, vertrete seine Interessen eben nicht durch etwa Kriegspolitik.

Laut einer von der Wochenzeitung DIE ZEIT in Auftrag gegebenen Umfrage haben 52 Prozent der Befragten kein Vertrauen in die Berichterstattung der deutschen Medien in Sachen Russland und Ukraine, 46 Prozent der Befragten haben kein Vertrauen in die Griechenland-Berichterstattung. Können Sie diesen Umfragewert im Hinblick auf ihre Analyse kommentieren?

Margarete Jäger: Ich denke, diese Zahlen sagen herzlich wenig darüber aus, aus welchen Gründen die Menschen kein Vertrauen in die Berichterstattung haben, also aus welcher Diskursposition sie ihr Unbehagen artikulieren. Grundsätzlich ist es aber zu begrüßen, wenn die Konsumenten der Medien diese nicht als Produzenten von „Wahrheiten“ ansehen und ihnen mit einer gewissen Skepsis begegnet wird.

Allerdings haben die auf den Pegida-Demonstrationen artikulierten Vorbehalte gegenüber einer „Lügenpresse“ auch gezeigt, dass es vielfältige Gründe für eine Kritik und Distanz zu den Medien gibt, und diese Vorbehalte eben nicht immer progressiv oder kritisch sind sondern hier vor allem Verschwörungskonstruktionen artikuliert werden.

Das vollständige Interview lesen Sie bitte hier: Telepolis 12.8.2015 „Die SZ folgt dem technokratischen Herangehen der politischen Akteure“

 

 

Jobst Paul: Unterhaltungswert Homophobie?

In der DISS-Online-Bibliothek publizieren wir einen Vortrag, den DISS-Mitarbeiter Jobst Paul am 11. Juni 2015 in Berlin auf dem Kongress Respekt statt Ressentiment. Strategien gegen die neue Welle von Homo– und Transphobie gehalen hat und der vom  Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) veransaltet wurde.

Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte den ‚Kampf gegen Rechts‘, mit dem sich – wie nie zuvor – nun auch die Regierungen solidarisieren und dabei an bürgerschaftliches Engagement appellieren, nicht in Zweifel ziehen und das Positive und sozial Produktive dieses Kampfs nicht in Frage stellen.

Aber wir müssen uns doch fragen, warum sich trotz dieses Kampfes und trotz zunehmender rechtlicher Errungenschaften die Ausbildung eines populistischen, völkisch-nationalistischen Lagers, warum sich dessen Bewegung in die politische Mitte und warum sich seine ideologische Radikalisierung letztlich ungehindert seit Jahrzehnten vollzieht. Alle Indizien sprechen also – auch wenn Deutschland als ökonomischer Weltmeister (gefühlt) in höchster Sicherheit lebt – für eine zutiefst labile soziale Tektonik. Ich möchte daher einige Schwachstellen und weiße Flecken des Kampf-Szenarios nennen.

Den vollständigen Text lesen Sie bitte hier:
Jobst Paul: Unterhaltungswert Homophobie?

Netzfundstücke: Jürgen Link über Griechenland

Jürgen Link schickte uns einen Text zur jüngsten Entwicklung in Griechenland, der zuerst auf den Nachdenkseiten veröffentlicht wurde. Er nimmt darin Bezug auf ein Interview mit Herfried Münkler, das am 14.7.2015 in der Frankfurter Rundschau erschien (Griechenland: Europa hat ganz andere Probleme).

Hier der Diskussionsbeitrag von Jürgen Link in voller Länge:

HERFRIED MÜNKLER ERKLÄRT DAS WESEN DES GERMROPA-PUTSCHES GEGEN GRIECHENLAND: DENORMALISIERUNG UND HERABSTUFUNG IN EINE NIEDRIGE NORMALITÄTSKLASSE

1. Nicht bloß die Netz-Proliferation thisisacoup, sondern auch seriöse Beobachter und der Protagonist Jannis Varoufakis selbst bezeichnen das Diktat gegen Griechenland vom 12. Juli 2015 als „Putsch“. Aber was ist das Wesen dieses Putsches? Man versucht, ihn mittels verschiedener historischer Analogien zu fassen. Varoufakis zieht eine Analogie zum Putsch der griechischen Militärjunta von 1967: Damals mit „tanks“, heute mit „banks“. Andere bemühen (verständlicherweise aus der Position verzweifelter Ohnmacht heraus) die Analogie mit der deutschen militärischen Besatzung unter Hitler. Umso wichtiger ist es, eine aktualhistorische Analyse, ausgehend von den heutigen Machtstrukturen, zu versuchen.

2. Dabei kann ein Interview des deutschen Aktualhistorikers und Politologen Herfried Münkler, eines wichtigen Beraters der deutschen Regierung, einen ausgezeichneten Ausgangspunkt liefern (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 14. Juli 2015 mit Arno Widmann: „Europa muss umgebaut werden“) Münkler stellt das Diktat gegen Griechenland in einen großen geopolitischen Rahmen. Er bestätigt mehr oder weniger, dass Griechenland als abschreckendes Beispiel genutzt wird, um mittels eines extremen Tests alle europäischen Länder in den „Umbau“ einzubeziehen. Er fordert im wesentlichen drei Komponenten des „Umbaus“.

3. Erstens eine Dreispaltung Europas: „Wir brauchen ein Kerneuropa mit sehr ähnlichen politischen und sozio-ökonomischen Strukturen, sodass man hier auf der Grundlage von Verträgen ohne eine starke Einheitsregierung, die es sowieso niemals geben wird, arbeiten kann. Darum kann man dann den jetzigen EU-Raum und vielleicht einige Beitrittskandidaten für einen zweiten und dritten Ring ins Auge fassen. Die haben dann weniger Rechte, aber auch weniger Verpflichtungen.“ Auf Fragen des Interviewers nach den jeweils in „Kern“ und „Ringe“ gehörenden Ländern antwortet Münkler: „Kern“ (bzw. Ring 1) wäre im Idealfall der alte Sechserkern Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux. Aber Italien sei sehr fraglich, und Frankreich auch nicht unproblematisch – die Italiener „müssen es sich überlegen“, werden also auf den Abstieg in Ring 2 vorbereitet. Dass es ohne Frankreich nicht gehe, sei ein Problem. Griechenland und andere Balkanländer gehörten in Ring 3, wenn nicht sogar in die „dritte Welt“: Darauf komme ich zurück.

4. Zweitens eine klare deutsche Hegemonie: „Deutschland ist zur Zeit die stärkste Macht in der EU. Das bringt Verpflichtungen mit sich. Es muss sich mehr engagieren. Aber es muss das tun zusammen mit anderen. Mit Frankreich vor allem.“ Es kommt dann ein Bonbon für Frankreich, das ja vielleicht künftig wieder hochkommen könnte, und Deutschland könnte vielleicht auch einmal wieder etwas schwächer werden. Das ist reine Augenwischerei, an die der Sprecher ganz offenbar selbst nicht glaubt. Bekanntlich hat er ein geopolitisches, eine „Raumordnung“ entwickelndes Buch über Deutschland als Hegemon aufgrund seiner Mitte-Position in Europa und seiner Stärke publiziert.

5. Drittens als Mittel der Hegemonie-Ausübung eine „postdemokratische“ (er benutzt diesen Ausdruck von Colin Croach selbst nicht), besser undemokratische Herrschaft durch ein Ermächtigungsregime. An dieser Stelle äußert er sich bewusst ironisch-zynisch und sagt: „Bis zum Beispiel Frankreich wieder auf die Beine kommt, hat Deutschland eine zentrale Funktion als, sagen wir mal Hüter der Verträge.“ Das werden nur ganz wenige der SPD-nahen Leserinnen der FR verstehen können – es ist ein augenzwinkernder Wink an „Eingeweihte“. Denn es ist ein Carl-Schmitt-Zitat. Der bekannte faschistoide Jurist, später dann Kronjurist Hitlers („Der Führer schützt das Recht“: Massaker des „Röhmputsches“ 1934), publizierte während der Weimarer Zeit das Grundsatzbuch „Der Hüter der Verfassung“. In diesem Buch interpretierte er die Stellung des Reichpräsidenten in der Weimarer Verfassung als den eigentlichen Träger der Souveränität letzter Instanz über dem Parlament, auf dem eine Diktatur als Ermächtigungsregime errichtet werden könnte. Münkler sagt also: Deutschland als „Hüter der Verträge“ (Europas) besitzt diese Souveränität letzter Instanz, die im Notstand über allen europäischen Parlamenten steht. Da die EU allerdings (noch) keine Notstandsordnung besitzt, folgt daraus, dass Deutschland im Notfall de facto das Recht zu diktatorischen Maßnahmen besitzt. Deutschland müsste dann mittels der EU den Notstand über ein Land verhängen. Genau das fordert der Oettinger-Gabriel-Göring-Eckart-Plan: Griechenland zur Zone eines humanitären Notstands erklären und dann, über den Kopf der griechischen Regierung hinweg, eine „europäische“ Notintervention implementieren.

6. All das also wurde und wird weiter am „Notfall“ Griechenland exekutiert. Das also ist der Putsch, zunächst rein strukturell beschrieben ohne historische Analogien. Zurecht muss das Diktat vom 12. Juli bereits als Gründungsakt eines solchen „europäischen“, im Wesen deutschen („germropäischen“) Ermächtigungsregimes betrachtet werden. Die richtige Analogie ist also nicht das Dritte Reich, sondern die Notstandsregime in Kriegs- und Revolutionszeiten des Zweiten Reichs und der Weimarer Republik. Also in der Tat die auf den Versailler Vertrag gestützten Ausnahmeregime, besonders von 1923 – und ganz besonders die letzten Jahre der Republik, als das Regime Brüning auf der Basis der Theorie von Carl Schmitt mit Notverordnungen des Reichspräsidenten herrschte.

7. Nun aber noch eine zusätzliche Einsicht, die sich aus der Normalismustheorie ergibt (Kurzfassung in: Jürgen Link, Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz 2013, mit einem Griechenland-Kapitel). Denn Münklers Schema eines europäischen „Kerns“ und zweier peripherer „Ringe“ innerhalb der EU deckt sich total mit meiner These der Aufspaltung der EU in drei „Normalitätsklassen“ im Laufe der Großen Krise des globalen Kapitalismus von 2007ff. Sie deckt sich genau mit der These, dass das Wesen der Vergewaltigung Griechenlands in seiner zwangsweisen Herabstufung von Normalitätsklasse 2 (etwa Irland, Polen) nach Klasse 3 (Bulgarien, Rumänien) besteht. Münkler droht sogar mit einer weiteren Herabstufung nach Klasse 4 (der zweitniedrigsten von insgesamt 5 Klassen): „Kommt man zu dem Ergebnis: Es klappt nicht, dann muss man sagen: Griechenland ist ein Dritte-Welt-Land und hat in Europa und erst recht im Euro nichts zu suchen.“ Genau damit hatte die NAI-Kampagne der Parteien der inneren Troika vor dem Referendung gedroht: „Tsipras macht uns zu einem Simbabwe!“

8. Warum ist es wichtig, den Putsch mittels der Normalismustheorie zu begreifen? Weil diese Theorie erklärt, wie Normalitäten (gestufter Klassen) produziert und reproduziert werden. Das geschieht auf der Basis flächendeckender statistischer Verdatung. Darin also besteht der Zusammenhang zwischen BIP-Daten, Maastrichtkriterien, Zinsspreizungen usw. (Normalitätsgrenzen, die eingehalten werden oder nicht) einerseits und Troika, Ermächtigungsregime von „Institutionen“ sowie schließlich Putsch anderseits.

9. Warum funktioniert der gegenwärtige Putsch mit banks besser als der frühere mit tanks? Weil er die Normalität des Alltags der Leute im Kern trifft. Die Normalitätstheorie nennt das „Denormalisierung“ (Zerstörung der Normalität). Syriza erklärte immer feierlich, die Normalität (omalótita, physiologikótita) voll wiederherstellen zu wollen. Mit der Denormalisierung der Banken wurde dieser Hoffnung (elpída) ein tödlicher Schlag vesetzt, und elpída in apelpisía (Verzweiflung) verwandelt. Mehr noch: Syriza versprach imgrunde den Wiederaufstieg in die Normalitätsklasse 2 (2. Ring nach Münkler) – jetzt soll Griechenland ein für allemal und auf Dauer die Herabstufung nach Klasse 3 akzeptieren. Wenn es weiter „störrisch“ ist, möchte Münkler es gewaltsam in Klasse 4 herabstürzen.

10. Worin besteht nun das eigentliche Wesen der verschiedenen Normalitätsstandards nach Klassen? Es besteht im verschiedenen Grad der Annäherung der Verteilungskurve des Einkommens an eine grobe Normalverteilung. Die Annäherung ist am größten in Klasse 1 (wenige Reiche, relativ wenige sehr Arme, nicht sehr viele Arme, die meisten obere und untere Mittelklasse: bell curve). Sie sinkt mit den Klassen. In Griechenland stürzten die Mnimonia das untere Drittel in extreme Armut und einen Teil der Mittelklassen in Armut. Der Putsch klopft diese Herabstufung nicht bloß fest, sondern verschärft sie noch – insbesondere durch die Enteignung allen Staatseigentums (Privatisierung und/oder Treuhandstatus), das künftig nicht mehr zur internen Umverteilung zur Verfügung steht.

11. Der Münklersche (und Merkel-Schäublesche) „Umbau Europas“ schafft also ein Drei-Klassen-GERMROPA mit gestufter Souveränität: Volle Souveränität genießt eigentlich nur noch Deutschland, weshalb die „schwarze Null“ für Deutschland so wichtig ist. Ring 2 ist bereits erpressbar durch das Schuldenregime. Ring 3 verliert seine Souveränität an die Ermächtigung germropäischer „Institutionen“. All das wurde und wird am Fall Griechenland paradigmatisch und absolut kaltschnäuzig durchexerziert. Wer also mit Griechenland solidarisch sein möchte, sollte als erstes eine awareness für die gespaltenen Normalitäten entwickeln. Ein ungeheures Symbol dafür ist der Zugang der Touristen aus Klasse 1 und 2 zu Geld in Griechenland, während der Zugang der Griechen blockiert ist: Die einen leben in voller Normalität, die anderen in extremer Denormalisierung.

12. Aber eins ist klar: das 3-Klassen-System ist selbst nicht normal, weil zur vollen Normalität eine spontane Reproduktion gehört. Je gewaltsamer und diktatorischer (notständischer, „postdemokratischer“) die Hegemonie ausgeübt wird, umso mehr herrscht im Gesamtsystem Denormalisierung. Und jeder Widerstand schafft eine Art „positive Denormalisierung“, die ich transnormalistisch nenne. Wer andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein. Wer andere denormalisiert, kann selbst nicht wirklich normal sein.

Jürgen Link 15. Juli 2015

(weitere Texte auf der Site appell-hellas.de, unter „aktuell“ und im Blog Bangemachen.com – der appell-hellas.de beruht auf diesem analytischen Rahmen; er wurde von 2000 Signataren unterzeichnet – weitere Unterschriften sind erwünscht.)

Netzfundstücke: Griechenland-Solidarität

Beim Thema Griechenland-Krise gibt es nur wenige Stimmen in der veröffentlichten Meinung, die über die vermeintliche Alternativlosigkeit der neoliberalen Austeritätspolitik hinausdenken. Prof. Elmar Altvater und zahlreiche Unterstützerinnen und Unterstützer versuchen, einen pointierten Gegenakzent zu setzen mit ihrem Appell: JA zu Demokratie und Volksabstimmung in Griechenland – NEIN zur Erpressung Griechenlands durch IWF, EU und Berliner Regierung.

Das demokratische und soziale Europa, ohnehin ein unvollendetes Projekt, befindet sich Ende Juni 2015 am Abgrund: Doch die einen leben als Kreditgeber in einem Grand Hotel in großem Luxus mit schöner Aussicht, die anderen sitzen als Schuldner auf einer Klippe, immer vom Absturz in den Bankrott bedroht.
Eine sogenannte Troika von mächtigen Institutionen sorgt dafür, dass die Drohung zur Erpressung wird. Schuldnern wie Griechenland wird keine Chance gegeben, der drohende Sturz in den Bankrott soll die Regierung gefügig machen. Soziale und politische Alternativen zur verordneten Austerity sind tabu. Selbst die von der Syriza-Regierung vorgeschlagene Abstimmung über das von der Troika verordnete Sparpaket interpretieren die Finanzminister der Eurogruppe – ein technokratischer Verein, kein politisches, den Wählern verantwortliches Gremium – als eine Provokation. Sie bestrafen Syrizas demokratische Initiative mit dem Ausschluss des griechischen Finanzministers aus den Beratungen der sogenannten Eurogruppe. Sie sind dabei schamlos genug, europäisches Recht zu brechen, um ihr neoliberales Mütchen zu kühlen. Das Schauspiel, das Schäuble, Dijsselblom und die anderen bieten, wird in die europäische Geschichte eingehen als Spektakel eines grandiosen Selbstmordattentats der politischen Elite, gerichtet gegen das europäische Integrationsprojekt.
Die Austeritätspolitik, mit der Staatshaushalte ruiniert und Gesellschaften zerstört werden, betreiben der IWF, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission zusammen mit der Eurogruppe in Absprache mit den großen Wirtschaftsmächten Europas. Deutschland s Große Koalition der Schäuble, Gabriel und Mer kel ist dabei treibende Kraft. Sie haben mit ihrer Austerity – Politik des sozialen Kahlschlags, der Blockade von Investitionen zur wirtschaftlichen Erneuerung, des Drucks auf die Masseneinkommen und der Schwächung von Gewerkschaften dafür gesorgt, dass sich in Griechenland die Arbeitslosigkeit von 2007 bis 2014 auf fast 30 Prozent verdreifacht hat … … …

Lesen Sie den vollständigen Text des Aufrufes bitte hier: Appell: JA zu Demokratie und Volksabstimmung in Griechenland – NEIN zur Erpressung Griechenlands durch IWF, EU und Berliner Regierung

Als eine Informationsquelle zur aktuellen Entwicklung in Griechenland sei hier das Zeitungsprojekt FaktenCheck HELLAS genannt, das nicht nur im Netz, sondern auch in gedruckter Form erscheint und mit einer deutschen, einer englischen und einer griechischen Ausgabe versucht, die Sprachbarriere zu überwinden.

Über die deutsche Solidaritätsbewegung mit Griechenland informiert das Blog griechenlandsolidarität, das den Anspruch hat, zu informieren und zu vernetzen.