DISS-Journal 36 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

Nach Chemnitz:

Die Ereignisse von Chemnitz sind ein Signal. Sie verweisen auf die spektren- und milieuübergreifende Mobilisierungsfähigkeit der rechtspopulistischen und extrem rechten Kräfte in diesem Lande. Sie demonstrierten den Schulterschluss zwischen ‚besorgten‘ Bürgern, Anhängern und Mitgliedern von AfD, NPD, den Republikanern, Neonazis aus der Kameradschaftszene, aus den Parteien „Die Rechte“ und „Der dritte Weg“, aus dem Kreis rechtsextremer Hooligans und der Rechtsrock- und Kampfsportszene sowie Pegida-Anhängern und Aktivisten der Identitären Bewegung. Und sie zeugten ein weiteres Mal von der Halbherzigkeit der staatlichen Organe, von der Polizeiführung bis hin zu Teilen der sächsischen Landesregierung, im Umgang mit extrem rechten Auftritten und Artikulationen.

 

 

Inhalt:

Nach Chemnitz: Gaulands Visionen
Von Helmut Kellershohn

Hütchenspiele der AfD im NRW-Landtag
Eine DISS-Arbeitsgruppe untersucht rhetorische Strategien von AfD-RednerInnen.
Von Jobst Paul

Anmerkungen zur Kulturpolitik der AfD
Von Sandra Schaffarczik

Humanitärer Schiffbruch
Mit der »Aquarius« ist das letzte zivile Rettungsschiff vom Mittelmeer verschwunden. Erleben wir das Ende der Seenotrettung?
Von Fabian Hillebrand

»…niemand soll es mitbekommen«
Die Abwesenheit von Rettern könnte für geringere Todeszahlen sorgen – in der Statistik
Von Fabian Hillebrand

Fünf Jahre nach Lampedusa: Liquidation der Seenotrettung
Von Heiko Kauffmann

Zur Bekämpfung des Antiziganismus heute
Bericht über eine Veranstaltungsreihe des DISS-Arbeitskreises Antiziganismus (Teil2)
Von Stefan Vennmann

Biografie und Werkentwicklung
Michael Heinrichs erster Band seiner Karl-Marx-Biografie
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup

Eliten gefährden Demokratie
„Die Abgehobenen“ – ein neues Buch des Elitenforschers Michael Hartmann
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup

Wie funktioniert das Soziale?
Eine Einführung in die Sozialphilosophie von Rahel Jaeggi und Robin Celikates
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup

Der NS – ein Kulturbruch? Eine weiterhin bange Frage
Eine Rezension von Jobst Paul

Moralische Verletzung als moralische Macht
Eine Rezension von Jobst Paul

Terrorismus und Gehorsam
Eine Rezension von Jobst Paul

Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne
Von Jürgen Link

Handlungsfähigkeit zurückgewinnen
Jobst Paul legt Leitfaden zur Analyse der Rhetorik der Herabsetzung vor

Rezension: Der faustische Pakt der Goethe-Gesellschaft

Eine Rezension von Michael Lausberg

W. Daniel Wilson: Der faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich, dtv, München 2018, ISBN: 978-3-423-28166-9, 28 EURO (D)

W. Daniel Wilson, Professor of German an der University of London, analysiert die Goethe-Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus und stellt dar, wie diese das Bild eines „braunen“ Goethes vorantrieb und für sich nutzbringend einsetzte.

Zu Beginn stellt der Autor „Goethes Janusgesicht“, also die vielschichtige Interpretation seines Lebens und seiner Werke je nach politischer und weltanschaulicher Motivation dar. In seinen Werken und Aussagen bot der Dichter Anknüpfungspunkte für Interpretationen jedweder Couleur.

In der Weimarer Republik wurde Goethe vom damaligen Reichspräsident Friedrich Ebert 1919 als geistige Grundlage des neuen Staates beschworen. Der „Geist von Weimar“ wurde als Kontrapunkt zum überwunden geglaubten „Geist von Potsdam“ gesetzt.

Die Nationalsozialisten schufen das Bild des „deutschen Goethe“: „Die Nationalsozialisten und andere Verfechter des ‚Deutschen Goethe konnten aus dem ‚Judenfeind‘ Goethe leicht einen modernen, ‚rassisch‘ motivierten Antisemiten konstruieren, wenn sie Goethes freundschaftliche Beziehungen zu Juden und seine (allerdings wenigen, widersprüchlichen) judenfreundlichen Äußerungen ausblendeten.“ (S. 11)

Die Goethe-Gesellschaft wurde 1885 auf Anregung von Großherzogin Sophie unter Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach gegründet und hatte seinen Sitz in Weimar. Es bildeten sich schnell Ortsgruppen heraus, die auch politisch in die Gesellschaft hineinwirkten und auch Spiegelbild der Verhältnisse waren.

Gustav Roethe, Präsident von 1922 bis 1926, war offener Antisemit und Antidemokrat, ein Vorgeschmack der Zeit nach der „Machtergreifung“ der Nazis 1933. Bedingt durch die rassistisch motivierten Berufsverbote waren viele jüdische Mitglieder gzwungen, aus der Goethe-Gesellschaft auszutreten. Die Leitung der Gesellschaft biederte sich dem herrschenden System und der Weltdeutung der Nazis immer mehr an und begann eine Umdeutung Goethes in Forschung und Rezeption. Die Gesellschaft lavierte zwischen Privilegien, Anpassung und Verstrickungen in die Kulturpolitik der Nazis. Nach der „Reichspogromnacht“ 1938 kam es dann zum Ausschluss aller jüdischen Mitglieder. Goethe wurde nicht nur in der Innenpolitik zu einem völkischen Nationalisten umgedeutet, um als Bannerträger der nationalsozialistischen Rassen- und Kulturpolitik zu gelten. Genauso wie Schiller, Kleist, Hölderlin und viele andere wurde er für die Ideologie des NS-Regimes auch außenpolitisch in Anspruch genommen. Die wichtigsten NS-Schriften zum Goethebild dieser dunklen Zeit sind von August Raabe „Goethes Sendung im Dritten Reich“ 1934 und von Wilhelm Fehse „Goethe im Lichte des neuen Werdens“ ein Jahr später. Faust wurde als eine „Leitfigur des neuen nationalsozialistischen Menschentypus“ entfremdet und aus dem Zusammenhang gerissen. Baldur von Schirach zitierte daraus in seiner Rede zur Eröffnung der Weimarer Festspiele der Jugend von 1937, die offizielle Vereinnahmung eines großen Dichters und Denkers war vollzogen. In der Zeitschrift der Gesellschaft erschienen in den Kriegsjahren Artikel, die Durchhalteparolen und die angebliche Überlegenheit des „Deutschtums“ proklamierten und in mystischer Sprache die geistige Kraft Goethes missbrauchten. Noch bis in die letzten Tage eines sinnlosen Krieges gab es propagandistische Unterstützung für das Regime.

Nach einem kurzen Abriss der Geschichte der Goethe-Gesellschaft nach 1945 bilanziert Wilson: „Helles steht neben Dunklem, ein Janus-Gesicht wie bei Goethe auch. Zwar blieb sie (…) relativ selbständig. Aber diese verhältnismäßige Autonomie war Teil eines perfiden Faustischen Paktes: Die Gesellschaft wurde in die Ideologie, Kulturpolitik und Propaganda des Regimes eingebunden.“ (S. 246)

Die Geschichte der Goethe-Gesellschaft ist ein Zeichen des Zivilisationsbruches in der Nazi-Zeit, deren Anfänge jedoch schon früheren Ursprung haben. Sie zeigt auch, dass bildungsbürgerliche Eliten keinesfalls weniger immun gegenüber der Nazi-Propaganda waren, im Gegenteil. Menschen, die die Abwägung verschiedener Sichtweisen in ihrer wissenschaftlichen Karriere anwandten, scheuten diese in der politischen Tagespolitik. In detaillierter Quellenarbeit zeichnet Wilson die Pervertierung Goethes in der Weimarer Goethe-Gesellschaft, der wichtigsten deutschen Literaturgesellschaft ihrer Zeit, oft wider besseres Wissen. Eine Bankrotterklärung des deutschen Bildungsbürgertums. Relativierungsversuche und Verharmlosung der Schuld sowie direkte Kritik an einem (amerikanischen) Autor als Nestbeschmutzer sind in diesem Zusammenhang fehl am Platze.

Einige Kritikpunkte gibt es schon: Es wäre eine Vorlaufzeit der Rezeption Goethes Ende des Kaiserreiches in Deutschland und der Weimarer Republik nötig gewesen, da dort schon Verbindungslinien der Vereinnahmung Goethes z.B. von monarchistischer Seite existierten, die der des Nazi-Regimes ähnelten. Auch die unrühmliche Rolle von Gustav Roethe und seiner Seilschaften sollte nicht unterschätzt werden: Antisemitismus war schon in der Weimarer Republik ein ideologisches Muster auch bei scheinbar gebildeten Menschen.

Ein wenig ärgerlich ist auch die distanzlose Verwendung des Begriffes „Drittes Reich“ ohne Verwendung von Anführungszeichen, obwohl diese Bezeichnung aus dem nationalsozialistischen Jargon stammte.

DISS-Neuerscheinung: Der binäre Code

Ab sofort lieferbar ist im Wochenschau-Verlag:

Der binäre Code
Leitfaden zur Analyse herabsetzender Texte und Aussagen
von Jobst Paul

Der Leitfaden bietet in zehn Kapiteln erstmals in dieser elementaren Form sprachliches, psychologisches und kulturelles Basiswissen zur Rhetorik der Herabsetzung. Welche Tabus, welche kognitiven Barrieren müssen wir überwinden, um die Macht verbaler, aber auch visueller Herabsetzung zu durchbrechen? Wie sich zeigt, kann die konkrete Analyse herabsetzender Aussagen und Texte neue emanzipative Kompetenzen und Energien für die kulturelle und politische Handlungsfähigkeit vermitteln. Allen, die pädagogisch, journalistisch und politisch tätig sind, bietet der Leitfaden Anstöße zur nachhaltigen Reflexion und Kommunikation. Für Studium, Workshops und die Weiterbildung wird weiterführende Literatur angegeben.

Das Buch kostet 14,90 EUR und ist erhältlich beim Wochenschau-Verlag (bitte hier klicken).

 

Inhalt:

1. Einführung

2. Worüber reden wir eigentlich? Zur Begrifflichkeit

3. Die drei Ebenen

4. Binarität/Binarismus
4.1 Wie funktionieren binäre Urteile?
4.2 Binarismus als westlich-kultureller Code
4.3 Die Erzählung von Mensch und Tier

5. Macht und Gehorsam
5.1 Exkurs: Der autoritäre Charakter

6. Die zwei Charaktere
6.1 Der Feind (= die Sie-Minderheit)
6.1.1 Motiv Dummheit/Unbelehrbarkeit
6.1.2 Fress-Motiv
6.1.3 Sex-Motiv
6.1.4 Bemerkung: Sex-Motiv und Sexismus
6.1.5 Fäkal-Motiv
6.2 Exkurs: Container
6.3 Die Wir-Gruppe
6.4 Exkurs: Realität und Irrealität – der Fall Donald Trump
6.5 Das autoritaristische Paradox

7. Textbeispiele
7.1 Das Thema Migration in lokalen und regionalen Medien (2014 und 2015)
7.1.1 Die zwei Charaktere
7.1.2 Hate Speech
7.1.3 Blut-Legenden
7.2 Jonathan Swifts Yahoos (1726): Domestizierte Wilde
7.3 Wer ist ein Barbar? Aristoteles und der Völkermord an den Indianern (1555)

8. Weiterungen
8.1 Aristoteles und das Kleinhirn
8.2 Die Mastermind-Variante
8.3 ‘Jewish Masterminds’? Oder: Gibt es spezifisch ­antisemitische Motive der Herabsetzung?

9. Gewaltästhetik – zur Analyse visueller Formen von Herabsetzung

10. Zusammenfassung: Leitfragen zur Analyse herabsetzender Texte und Aussagen
10.1 Wie sieht der analytische Handwerkskasten aus, der bereit stehen sollte?
10.2 Sind die vorliegenden Texte/Aussagen wirklich binär strukturiert?
10.3 Was ist der Vorwand, der Aufhänger der Herabsetzung?
10.4 Welches Selbstportrait der SprecherInnen lässt sich aus dem Text erschließen?
10.5 Welche Minderheit (Sie-Gruppe) bestimmen SprecherInnen als Ziel der Herabsetzung? Wie wird sie charakterisiert?
10.6 Wie wird die Wir-Gruppe charakterisiert?
10.7 Wie soll die Wir-Gruppe mit der Sie-Gruppe umgehen?
10.8 Synopse

11. Resümee: Was die Binarismusanalyse leisten kann – und was nicht