Anton Maegerle zur Einstellung der Fahndung nach Alois Brunner

In der Online-Bibliothek des DISS erschien ein Beitrag von Anton Maegerle zur nicht erfolgten Strafverfolgung des NS-Massenmörders Alois Brunner. Die Fahndung wurde jetzt ergebnislos eingestellt.

Zu den Fluchthelfern des SS-Schergen Brunner zählte Rudolf Vogel, seit 1949 CDU-Bundestagsabgeordneter und später Staatssekretär im Bundesschatzministerium. Der Politiker soll die Tickets nach Syrien besorgt haben. Der 1991 verstorbene Vogel, Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern der Bundesrepublik Deutschland, lernte Brunner 1943 im griechischen Saloniki kennen. Der NS-Verbrecher Brunner trieb dort Juden zur Deportation zusammen, Vogel gehörte zur Propaganda-Abteilung Südost der Wehrmacht.

 

In Damaskus, Post für ihn war an „P.O. Box 635 Damaskus“ zu adressieren, fungierte Brunner als „Berater für Judenfragen“ des syrischen Regimes. Er hat dem syrischen Sicherheitsapparat als Berater gedient und Verhör- und Foltermethoden der Nazis weitergegeben. Daneben bespitzelte Brunner für die Syrer die deutsche Gemeinde in Damaskus.

 

Zugleich führte Brunner mit Hitlers Generalmajor Otto Ernst Remer die vermeintliche Handelsfirma „Orient Trading Company“ (Otraco). Offiziell als Handelsfirma eingetragen, verschoben die Altnazis tatsächlich Waffen im Nahen Osten und nach Afrika.

 

Das letzte Interview mit Brunner stammt aus dem Jahre 1987 und wurde von der „Chicago Sun Times“ per Telefon geführt. Es ist das Bekenntnis eines Massenmörders: „Ich bereue nichts und würde es wieder machen. Sie alle (die Juden) hatten den Tod verdient, weil sie Agenten Satans und menschlicher Abfall sind“.

 

Die bundesdeutsche Botschaft und insbesondere der von Reinhard Gehlen, in der NS-Zeit in seiner Funktion als Generalmajor der Wehrmacht Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres, aufgebaute bundesdeutsche Auslandsgeheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND), behauptete wahrheitswidrig über Jahrzehnte hinweg, nicht den Aufenthaltsort des NS-Verbrechers zu wissen und belog somit wissentlich den Bundestag, das Bundeskriminalamt und Staatsanwaltschaften.

 

Am 19. Oktober 2000 teilte das Bundeskanzleramt dem BND mit, dass ein „unverändert hohes Interesse der Bundesregierung an der Strafverfolgung von Alois Brunner“ bestehe. Am 3. November 2000 notierte der BND in einer hausinternen Notiz: „Es gibt derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß sich die Möglichkeiten des BND verbessert hätten, zur Klärung der Frage ‚Brunner‘ beizutragen.“
In einem Sprechzettel des BND für eine Sitzung der Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestages, das für die Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes zuständig und u.a. den Bundesnachrichtendienst (BND) überwacht, am 07. März 2001 heißt es: „Hinweise zum Aufenthaltsort oder über den möglicherweise eingetretenen Tod Alois Brunners liegen dem Bundesnachrichtendienst bis heute nicht vor.“

 

Lesen Sie den vollständigen Beitrag von Anton Maegerle in der DISS Online-Bibliothek: Alois Brunner. Fahndung nach NS-Massenmörder eingestellt

 

 

Sonderheft für eine andere Zeitenwende

Das Sonderheft 5 des DISS-Journals ist erschienen und kostenlos als PDF abrufbar.

Sonderheft für eine andere Zeitenwende
Gemeinsame Diskursintervention der Zeitschrift kultuRRevolution und des DISS-Journals

Inhalt

DIE UKRAINE ALS SCHLACHTFELD IN EINEM WELTORDNUNGSKRIEG
von Wolfgang Kastrup

ZEITENWENDE ZWISCHEN APOKALYPTISCHER ESKALATION, SACKGASSEN UND FLUCHTLINIEN
INTERDISKURS- UND NORMALISMUSTHEORETISCHE ANALYSE
von Jürgen Link

EINIGE RHETORISCHE RESSOURCEN DES NATO-KRIEGSDISKURSES
NOTIZEN ZUR BERICHTERSTATTUNG ÜBER DEN RUSSISCHEN KRIEG IN DER UKRAINE IN DEN DEUTSCHEN MEDIEN
von Clemens Knobloch

DEUTSCHLAND IN ZEITEN BINÄRER OPPOSITIONEN
EIN BLICK AUF DEN MEDIENDISKURS ZUR AUFRÜSTUNG IM KONTEXT DES UKRAINE-KRIEGS
von Margarete Jäger & Iris Tonks

»OFFENKUNDIG HILFT ES SICH LEICHTER, WENN ES UM NACHBARN GEHT.«
DER FLUCHTDISKURS ZUR UKRAINE
von Louis Kalchschmidt, Anna-Maria Mayer, Benno Nothardt, Carmen Perna, Milan Slat, Christian Sydow, Zeynep Topsir und Ebru Tugra

DER ›EVIDENTE‹ ANTAGONISMUS
SZENARIO-BEGRIFF & AKTUELLER UKRAINEKRIEG: GEO-, MILITÄR- UND MACHTSTRATEGISCH
von Thomas Lischeid

DER KRIEG – ›VATER‹ DER KLIMAWENDE ODER BRANDBESCHLEUNIGER DER KLIMAKATASTROPHE?
ANMERKUNGEN ZU DISKURSIVEN VERKNOTUNGEN VON SICHERHEITS-,NOTSTANDS- UND KLIMAPOLITIK.
von Tino Heim

MEHR KRIEG, UM DEN KRIEG ZU BEENDEN?
EUROPAS GRÜNE PARTEIEN AUF BELLIZISTISCHEN IRRWEGEN
von Rositsa Kratunkova

FEMINISTISCHER FRIEDEN?
von Melanie Stitz

WIDERSTAND GEGEN DEN KRIEG
NICHT-MILITÄRISCHE RESISTENZEN
von Guido Arnold

IN DER HITZE DER SCHLACHT
WENN IMPERIALISTEN IMPERIALISTEN IMPERIALISTEN NENNEN
von Lina Ganowski

SCHLAGLICHTER DES KRIEGSDISKURSES
EINE KLEINE INVENTARAUSWAHL ZUM ÖFFENTLICHEN SPRACHGEBRAUCH IM FRÜHJAHR 2022
von Felix Tripps, Friedemann Vogel und der Forschungsgruppe »Diskursmonitor«

LITERATUREMPFEHLUNG

 

Podcast des WDR zur Brandstiftung in Duisburg-Wanheimerort 1984

Am 26. August 1984 wird im Duisburger Stadtteil Wanheimerort ein Mehrfamilienhaus angezündet. Im Haus wohnen viele Menschen, die als sogenannte Gastarbeiter:innen nach Deutschland gekommen sind. Sieben Mitglieder der Familie Satir sterben in dieser Nacht: Döndü Satir, Ümit Satir, Çigdem Satir, Songül Satir, Zeliha Turhan, Rasim Turhan und Tarik Turhan. Ein:e Täter:in wird nicht gefunden. Erst zehn Jahre später kommt es zu einer Verurteilung – ein rassistisches Motiv wird aber nie untersucht.

Das große Eckhaus in der Duisburger Wanheimerstraße steht heute noch, nichts erinnert an den Brand. Erst im Jahr 2018 hat sich eine Initiative aus Überlebenden, Angehörigen und Aktivist:innen gegründet. Sie schafft es, den Fall wieder in die Öffentlichkeit zu holen. Inzwischen hat sie ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem der juristische und polizeiliche Umgang mit dem Brand ausgewertet wird.

Wie ist die Duisburger Polizei damals vorgegangen? Inwiefern hat sie Spuren wie Hakenkreuze an der Hausfassade und rassistische Anrufe bei Helfer:innen verfolgt? Und wie haben die Überlebenden all das verkraftet und verarbeitet, während die Behörden sie viele Jahre vernachlässigt haben?

Hören Sie den Podcast des WDR
Schwarz Rot Blut – Der True Crime Podcast über rassistische Gewalt in Deutschland. Teil 4 von 7. 01.06.2022.

Brand im Mehrfamilienhaus – Duisburg 1984

 

Migazin berichtet über Hausräumungen in Duisburg

In der Online-Zeitschrift Migazin berichtet Joachim Krauß über die Hausräumungen in Duisburg durch die sogenannte „Taskforce“. Statt gemäß dem Wohnaufsichtsgesetz die Situation der Mietenden zu verbessern wird in Duisburg vermeintliche ‚Gefahr im Verzuge‘ in Bezug auf Branschutz zum Vorwand genommen, und Mietende werden obdachlos und mittellos gemacht.

Brandschutz als vertreibender Mieterschutz für Rumänen in Duisburg

In Duisburg werden Wohngebäude von Rumänen und Bulgaren brandschutztechnisch überprüft. Finden sich Mängel, haben die Bewohner fünf Stunden, um ihre Sachen zu packen und sich für eine neue Bleibe zu kümmern. Tausende haben bereits ihre Wohnungen verloren. Diese Praxis wirft Fragen auf: Geht es wirklich um Brandschutz?

[…]

Das Wohnaufsichtsgesetz wurde durch die damalige SPD-Landesregierung mit dem Schutz von Mietenden begründet. In Duisburg dient es der städtischen „Taskforce Problemimmobilien“ nicht als erste Handlungsgrundlage. Die Ordnungsbehörde agiert primär nach Brandschutzlogik. Dieses Vorgehen ist unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr sehr effektiv und unmittelbar, es lässt auch keine Güterabwägung zu. Auf die Gefahrenfeststellung erfolgt die Nutzungsuntersagung und sofortige Schließung, um Leib und Leben der Bewohnenden zu schützen. Die Behörde könnte im Zuge einer Ersatzvornahme auch die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr anstelle der Hauseigentümer ergreifen und diesen die Kosten in Rechnung stellen, aber davon ist in keinem nach der Neuausrichtung der „Taskforce Problemimmobilien“ bekanntgewordenen Fall Gebrauch gemacht worden.

In der Kritik an der kommunalen Praxis wird gefragt, weshalb die Mietenden nicht vorab über eine Hausbegehung informiert und einbezogen werden, um auch präventiv tätig sein zu können und sie nicht schutzlos zu lassen. Nach der Logik des Brandschutzes verbietet sich gerade das, da mit Bekanntwerden der Gefahr, durch die Behörde eine Handlung erfolgen muss. Sollte aber die Gefahrenlage bereits vor der Begehung bekannt sein, würde sich die Behörde der verspäteten Abwehr schuldig machen und die Menschen wissentlich in der Gefahr belassen.

Die Mietenden vorab über mögliche Gefahren zu informieren und mit ihnen die Beseitigung zu planen, wäre eine präventive Herangehensweise, läge aber außerhalb der Gefahrenabwehrlogik einer Brandschutzüberprüfung. Hausräumungen könnten so vermieden werden. Sie kämen nur gleichzeitig nicht mehr als Steuerungsinstrument zwecks Abschreckung in Frage. Die Gefahrenabwehrlogik einer Brandschutzüberprüfung verbietet also behördliche Vorsorge, ihr Ergebnis kann (theoretisch) vorher nicht feststehen.

Vorauseilendes Jobcenter

Im April 2022 erhielten EU-Zugewanderte Bescheide des zuständigen Jobcenters. Darin hieß es: „Die Zahlung ihrer Leistungen wurde vorläufig eingestellt. Laut Aktenklage gibt es eine Räumung ihrer Wohnung zum 4.5.2022. Um Leistungen nach dem SGB II in Duisburg zu beziehen, muss ihr gewöhnlicher Aufenthalt in Duisburg sein. Nach der Räumung zum 04.05.2022 ist dies nicht sichergestellt.“ Eine lokale Organisation die u.a. eine Sozialberatung anbietet brachte den Fall in die Öffentlichkeit. Nach Bekanntwerden sagte die Ordnungsbehörde den Einsatz ab.

[…]

Lesen Sie den vollständigen Artikel auf den Seiten des Migazin: Brandschutz als vertreibender Mieterschutz für Rumänen in Duisburg

 

 

DISS-Journal 43 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

Vorwort

Das neue DISS-Journal steht im Zei­chen des Ukraine-Krieges. Die Ableh­nung und Verurteilung des russischen Angriffs auf die ukrainische Zivilge­sellschaft, das Entsetzen über die sys­tematische Zerstörung ukrainischer Städte und die Ermordung vieler ihrer Bewohner:innen sind nahezu einhellig, sieht man einmal von den Anhängern des „Putinismus“ im rechten Lager oder etwa in Kreisen alter SED-Kader ab. Die Sympathien gelten den zahlreichen aus der Ukraine Geflüchteten, freilich mit dem Unterton in manchen Medien, dass doch bitte nicht die „Falschen“ kommen mögen.

Trotz Krieg: Es ist auch die Zeit zum Nachdenken. Die einen verstehen das im Nachhinein als „Abrechnung“ mit den „Sünden“ deutscher Außenpolitik in puncto Energiepolitik und einer Po­litik des „Wandels durch Handel“. Viele wissen es jetzt besser und zeigen mit dem Finger auf den einen oder ande­ren Übeltäter, wahlweise auch die eine oder andere Übeltäterin. Selbst dem Verkünder der „Zeitenwende“, Kanzler Scholz, wird die Rolle des „Cunctators“ von Seiten einiger Koalitionäre oder aus den Reihen der Opposition angekrei­det. Es scheint, als ob die Zeit klarer Freund-Feind-Bestimmungen ange­brochen ist, und jedem, der sich dieser binären Logik entziehen will, droht die öffentliche Rüge.

Nachdenken heißt Innehalten, heißt nüchterne Bestandsaufnahme der Mög­lichkeiten, die weitere Eskalation des Krieges verhindern zu helfen und den Neubau einer europäischen Friedens­ordnung nicht aus dem Blick zu verlie­ren. Das schließt die Analyse und Kri­tik der gegensätzlichen Interessenlagen sowie das Ausloten von Kompromissen ein. Ich gestehe: ich bin – heute – pessi­mistisch gestimmt. Ohne ein Aufstehen der russischen Zivilgesellschaft oder zumindest eine Revolte aus den Reihen der postsowjetischen Nomenklatura gegen den „Putinismus“ und gegen den Krieg wird es keine Lösung geben. Und im Westen? Die Kritik der NATO hat Mélenchon immerhin 22 Prozent der französischen Wählerschaft gebracht. Kann dies Ansporn für eine europäi­sche Friedensbewegung sein, gegen eine enorme Hochrüstung auf Kosten sozialer Sicherheit und einer klimapoli­tischen Wende, die diesen Namen ver­dient, zu mobilisieren?

Fragen über Fragen. Deshalb wollen wir die Debatte mit einem Beitrag von Jür­gen Link beginnen und mit einem Son­derheft (siehe S. 75) fortführen. Neh­men Sie aber auch, liebe Leser:innen, die Artikel in diesem Heft zur Kenntnis, die sich nicht mit dem Ukraine-Krieg beschäftigen.

Helmut Kellershohn

 

Inhalt

Die ›Ukraine-Krise‹ und ihre tendenzielle Dynamik
PUNKTE FÜR EINE STRUKTURAL-FUNKTIONALE ANALYSE
Von Jürgen Link
Ende Februar 2022

Die extreme Rechte im Russland-Ukraine-Krieg
Von Lucius Teidelbaum

Belarus: Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg
Von Guido Arnold

Demokratie und Sozialstaat bewahren –
Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!

Was haben Spaziergänge mit Vigilantismus zu tun?
EIN BLICK AUF DIE ENTWICKLUNG EINER RECHTEN BÜRGERWEHR UND DEREN WAHRNEHMUNG IN MEDIEN UND POLITIK
Von Margarete Jäger und Iris Tonks

Wiedergelesen: Ein Gründungstext des Ordoliberalismus
ALEXANDER RÜSTOW ÜBER DEN „NEUEN LIBERALISMUS“ 1932
Von Helmut Kellershohn

Zeitschriftenporträt „CATO“
EIN „MAGAZIN FÜR NEUE SACHLICHKEIT“ IM „HEILSGESCHICHTLICHEN KAMPF“?
Von Andrea Becker und Lana Knappe

Clearview AI
DER NEOREAKTIONÄRE UND NEONAZISTISCHE HINTERGRUND DER WELTWEIT LEISTUNGSFÄHIGSTEN GESICHTSERKENNUNGSTECHNOLOGIE
Von Guido Arnold

Die Reichweite kommunaler Interventionen in Armutsquartieren
Von Peter Höhmann

Als Soziologe in der Dortmunder Nordstadt
Von Dirk Dieluweit

Nudging
DIE POLITISCHE DIMENSION PSYCHOTECHNOLOGISCHER ASSISTENZ
Von Guido Arnold

Eine Analyse der Beziehungen zwischen Aussagen
AM BEISPIEL DES FLUCHTDISKURSES UM CAROLA RACKETE UND MORIA
Von Anna-Maria Mayer, Benno Nothardt, Milan Slat, Judith Friede, Louis Kalchschmidt, Fabian Marx & Christian Sydow

Roma: Leben in Bulgarien, aber nicht mit Bulgaren
von Liliia Peicheva

Den Kapitalismus verstehen
SØREN MAUS STUMMER ZWANG ALS „ÖKONOMISCHE MACHT“ IM KAPITALISMUS
Mau, Søren 2021: Stummer Zwang
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup

„Die diskursive Seite hegemonialer Ordnungen“
Kempe, Lene 2021: Die diskursive Seite hegemonialer Ordnungen
Eine Rezension von Wolfgang Kastrup

Konservativ-faschistische Konvergenzmomente
Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus.
Rezension von Stefan Vennmann

Die Aporien der sozialwissenschaftlichen Populismusforschung
Kolja Möller: Populismus
Rezension von Stefan Vennmann

Neues aus dem Institut

Finding Afghanistan
FOTOBAND UND ERGÄNZENDE TEXTE
Martin Gerner: Finding Afghanistan
Buchtipp von Benno Nothardt

Albert Einstein

DISS Neuerscheinung: Ordnen und Regieren

Sara Madjlessi-Roudi
Ordnen und Regieren
Eine postkoloniale Diskursanalyse des Konzepts ›Zivilgesellschaft‹ in der deutschen Entwicklungspolitik
ISBN 978-3-89771-777-0
476 Seiten, 29,80 €
Unrast-Verlag, Edition DISS 48

Das Konzept der ‚zivilgesellschaftlichen Beteiligung‘ hat seit den 1990er Jahren im entwicklungspolitischen Diskurs an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund wendet Sara Madjlessi-Roudi einen kritischen Blick auf dieses Konzept in der Entwicklungspolitik des BMZ unter spezifischer Bezugnahme auf Afrika.

Der Untersuchungszeitraum, die Jahre zwischen 1998 bis 2013, deckt dabei die ministeriellen Amtszeiten von Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) sowie Dirk Niebel (FDP) ab. Anhand von Strategiepapieren des BMZ sowie der Bundesregierung und unter Rückgriff auf Kritische Diskursanalyse und postkolonialeTheorie arbeitet die Autorin heraus, wie sich das Konzept der »Einbindung von Zivilgesellschaft’ zur Regierungstechnologie entwickelt.

Dabei wird Afrika zunächst als tendenziell defizitäres Umfeld für zivilgesellschaftliche Teilhabe konstruiert, wobei man die Differenzlinien unter anderem zu sogenannten ‚Gewaltakteuren‘ und zur Bevölkerung hervorhebt.

Sara Madjlessi-Roudi zeichnet nach, wie die deutsche Entwicklungspolitik danach gleichwohl am Konzept ‚Zivilgesellschaft‘ festhält, mit eigenverantwortlichen Subjekten, von denen bestimmte Handlungen eingefordert werden können.

Im Ergebnis werden so nicht nur politische und ökonomische Machtverhältnisse ausgeblendet, sondern auch koloniale Differenzsetzungen reproduziert, wobei sich das BMZ als handelnder Akteur begreift.

Nachfolgend kann die Autorin wichtige diskursive Effekte aufzeigen, sei es hinsichtlich der Legitimation des deutschen entwicklungspolitischen Handelns in Afrika oder der Zurückweisung von Kritik an entwicklungspolitischem Paternalismus.

 

 

DISS-Journal 42 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

 

Vorwort

Der 9. November ist sicherlich ein schwieriger Tag der Erinnerung an die deutsche Geschichte. Anton Maegerle schreibt in einem aktuellen Beitrag für den DISSkursiv-Blog, der 9. November markiere „den Beginn der ersten deutschen Republik [1918], den Versuch eines rechtsextremen Umsturzes [1923], das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung [1938] und den Fall der Berliner Mauer [1989]“. Und: „Weitgehend in Vergessenheit ist geraten, dass – auch an einem 9. November – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde: Robert Blum.“ Es wäre absolut unangemessen, diese Erinnerungsdaten miteinander zu verrechnen, eine Art Plus-Minus-Rechnung aufzumachen. Etwas anderes gilt: Die Verhinderung (1848) bzw. die Zerstörung der Weimarer Demokratie waren die Voraussetzung für die Etablierung einer halbabsolutistischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. und das Vernichtungswerk des Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1918 und 1989 wiederum stehen für eine andere Problemstellung: Während Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die „deutsche Republik“ ausrief, proklamierte Karl Liebknecht etwas später am selben Tag die „freie sozialistische Republik“ – freilich ohne nachhaltige Wirkung. Die hier offenbar werdenden Gegensätze in der Arbeiterbewegung, von denen der Faschismus profitierte, verhinderten einen historischen Kompromiss zwischen Demokratie und Sozialismus, den auch unter anderen Vorzeichen die DDR nicht zu realisieren vermochte. Der 9. November 1989 war die ‚logische‘ Konsequenz.

Die Erinnerung an den 9. November als dem ‚Schicksalstag‘ der deutschen Geschichte wird immer verbunden sein mit der Frage nach der Zukunft der Nation. Wird sie aufgehen in den „Vereinigten Staaten von Europa“, die von Ernest Renan in seiner berühmten Rede über das Prinzip „Nation“ als „wahrscheinlich“ prognostiziert wurden? Wird es möglich sein, die Verbindung von Demokratie und Sozialismus unter den Bedingungen der „Klima-Krise“ auf die Tagesordnung der politischen Agenda zu setzen? Andeutungsweise, aber mit Optimismus hat die jüngste Abgeordnete im Bundestag, die 23-jährige Emilia Fester von den Grünen, auf der offiziellen Gedenkveranstaltung im Schloss Bellevue diese Problemstellung angesprochen. „Sie betonte in ihrer Ansprache, die derzeitigen Probleme wie die Klimakrise und die ungleiche Verteilung von Reichtum seien lösbar. Ein ‚Weiter-So‘ gehe aber nicht. Auch daran erinnere der 9. November 1918.“

Das vorliegende Heft des DISS-Journals ist kein Gedenkheft zum 9. November. Gleichwohl ist dieser Tag, um es mit dem Bundespräsidenten zu formulieren, auch für uns „ein Tag zum Nachdenken über unser Land“. Es kommt aber darauf an, über welche Fragen und wie nachgedacht werden muss. Über Beiträge aus dem Kreis der Leserschaft des DISS-Journals würden wir uns freuen.

Helmut Kellershohn

 

Inhalt

Ökotechnokratie
‚SMARTE ÖKOLOGIE‘
Von Guido Arnold

Der Reset der Großen Transformation
Von Andrea Becker

Ein- und Ausschließungsmuster in der Bevölkerung
Von Peter Höhmann

Etwas mehr Diversität im Bundestag
ABER DER FLÜCHTLING TAREQ ALAOWS MUSS SEINE KANDIDATUR ZURÜCKZIEHEN

Stolpersteine für schwule Männer
AUCH IN DUISBURG NICHT LÄNGER VERSCHWIEGEN
Von Jürgen Wenke

Gleichstellung oder Ökonomie
DIVERSITÄTSKONZEPTE INTERNATIONALER UNTERNEHMEN IM VERGLEICH
Von Sarah Bungard

Tragische Einzelfälle?
WIE MEDIEN ÜBER GEWALT GEGEN FRAUEN BERICHTEN.
Christine E. Meltzer: Tragische Einzelfälle?
Rezension von Louisa Brand

Moria. System. Zeugen.
EIN BILDBAND ÜBER DAS FLÜCHTLINGSLAGER MORIA
Martin Gerner: Moria. System. Zeugen.
Rezension von Benno Nothardt

Von „America First“ zu „America Second?“
DIE USA, CHINA UND DER WELTMARKT
Christoph Scherrer: America Second?
Rezension von Wolfgang Kastrup

Arbeiter*innen und ihre Sympathien für die radikale Rechte
„IN DER WARTESCHLANGE“
Klaus Dörre: In der Warteschlange.
Rezension von Wolfgang Kastrup

„Mythos Mitte“ und die Klassenfrage
Ulf Kadritzke: Jenseits von „Mitte und Maß“.
Rezension von Wolfgang Kastrup

Thomas Biebricher: Die politische Theorie des Neoliberalismus
Rezension von Helmut Kellershohn

Liberale Traditionen und Faschismus
EIN ISRAELISCHER HISTORIKER THEMATISIERT EINEN BRISANTEN ZUSAMMENHANG
Ishay Landa: Der Lehrling und sein Meister.
Rezension von Helmut Kellershohn

Philosophische Aufarbeitung:
Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus
Werner Konitzer u.a. (Hg.): Vermeintliche Gründe.
Rezension von Stefan Vennmann

Neues aus dem Institut

DISS-Kolloquium
„DIE CORONA-KRISE – DER WEG IN EINE NEUE NORMALITÄT?“

 

9. November. Trauer- und Freudentag

9. November. Trauer- und Freudentag

von Anton Maegerle

Der 9. November gilt als „Schicksalstag“ in der deutschen Geschichte. Er markiert den Beginn der ersten deutschen Republik, den Versuch eines rechtsextremen Umsturzes, das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung und den Fall der Berliner Mauer. Weitgehend in Vergessenheit ist geraten, dass – auch an einem 9. November (1848) – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde: Robert Blum.

Am 7. November 1938 verübte der in Deutschland aufgewachsene Hershel Grynszpan, ein siebzehnjähriger Jude polnischer Nationalität, in den Räumen der deutschen Botschaft in Paris ein Attentat auf den Legationssekretär Ernst von Rath. Der deutsche Diplomat, seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SA, erlag seinen Schußverletzungen am 9. November 1938. Vorangegangen war dem Anschlag die gewaltsame Abschiebung von mehr als 12.000 polnischen Juden aus dem Reichsgebiet an die deutsch-polnische Grenze. Die NS-Machthaber nahmen das Attentat zum Anlass, ein als „Sühneakt“ getarntes Pogrom gegen die angebliche „Verschwörung des Weltjudentums“ zu inszenieren.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ließ verkünden: „Der Jude Grynszpan war Vertreter des Judentums, der Deutsche von Rath war Vertreter des deutschen Volkes. Das Judentum hat also in Paris auf das deutsche Volk geschossen.“ Goebbels rief am Abend des 9. November 1938 im Alten Münchner Rathaussaal vor „Alten Kämpfern“ der NSDAP, die sich zum alljährlichen Gedenken an Hitlers gescheiterten Putsch am 8. und 9. November 1923 versammelt hatten, zu „Vergeltungsmaßnahmen“ und „Aktionen gegen die Juden“ auf. Der Auftakt zu Plünderung und Mord an Juden im ganzen Deutschen Reich war getan.

In einem Fernschreiben teilte die Berliner Gestapo „allen Stapo-Stellen und Stapo-Leitstellen“ mit: „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen, stattfinden. Sie sind nicht zu stören.“ SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich fügte in einem Fernschreiben am Folgetag hinzu: „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist).“ Dem organisierten Wüten von SA, SS, HJ und anderen NSDAP-Angehörigen fielen – unter offener Duldung der Polizei – insgesamt etwa 100 Juden zum Opfer. Ca. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslagern interniert. Rund 9.000 jüdische Einrichtungen wurden zerstört. Schlägertrupps zündeten in vielen deutschen Städten Hunderte Synagogen an.

Abgefackelt wurde auch die Synagoge im badischen Bretten, der Geburtsstadt des bekannten Humanisten Philipp Melanchthon. Der Nachwelt erhalten blieb die Rechnung der lokalen Tankstelle an die Gemeinde Bretten über die Benzinkosten für den Synagogenbrand. 50 Liter Benzin (Shell) hatte die Brettener Freiwillige Feuerwehr zum Brand der Synagoge benötigt. Kosten: 19,50 Reichsmark. Die Synagoge ging, so ein Schreiben des örtlichen SS-Führers an die 62. SS-Standarte vom 11. November 1938, in Flammen auf. Zuvor wurden 29 Juden verhaftet. Noch in der Nacht zum 10. November wurden diese in einen Extra-Zug verfrachtet, welcher bereits von der Universitätsstadt Freiburg kam und nur badische und württembergische Juden ins Konzentrationslager Dachau brachte. Ab Juli 1938 waren die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen darauf vorbereitet worden, eine noch größere Zahl von Juden aufzunehmen.

Die Reichspogromnacht war das größte Pogrom der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter, der erste Schritt zur „Endlösung“, doch der Protest in der deutschen Öffentlichkeit richtete sich nur noch gegen die „Form des Kampfes gegen das Judentum“, wie die Kölner Gestapo notierte. Im Vordergrund der Kritik stand die mutwillige Zerstörung von Sachwerten, weniger die Sympathie mit den Juden. „Insgesamt gesehen“, so das Fazit des ausgewiesenen NS- und Holocaust-Forschers Peter Longerich, „konnte das Regime die weitgehend passive Haltung, in der die meisten Deutschen während der Ausschreitungen verharrten, jedoch als Erfolg bewerten.“ Noch am 1. April 1933, als die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, kam es vor Läden zu Diskussionen und sogar Schlägereien, weil viele Nichtjuden sich empörten. In der Zeit zwischen 1933 und 1938 hatte die NS-Propaganda unablässig Juden als „Untermenschen“ und Gefahr für die „Volksgemeinschaft stigmatisiert. Sie mussten Sportvereine verlassen und riskierten Gefängnisstrafen, wenn sie mit Nichtjuden schliefen; sie hatten den Staatsdienst zu verlassen, und es war ihnen verboten, die deutsche Flagge zu hissen. Weitere antijüdische Rechtsvorschriften verboten Juden, als Ärzte zu praktizieren und befahlen jüdischen Männern, den Namen Israel, und jüdischen Frauen, den Namen Sara anzunehmen. Pässe wurden mit einem großen J gekennzeichnet.

Den Opfern der Reichspogromnacht wurde die sofortige Beseitigung der Schäden, insbesondere der zerschlagenen Schaufenster jüdischer Läden, auf die sich die sarkastische zeitgenössische Formulierung von der „Reichskristallnacht“ bezog, auf eigene Kosten auferlegt, während der Staat nicht nur die entsprechende Versicherungssumme kassierte, sondern der Gesamtheit der Juden auch noch eine angebliche „Sühne“-Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegte. Vater dieser am 12. November 1938 erlassenen Verordnungen war Hermann Göring, Beauftragter für den Vierjahresplan. Die Reichspogromnacht beschleunigte die Vernichtung der ökonomischen Existenz der Juden. In dem Fernschreiben von Heydrich hieß es: In „allen Bezirken“ sind „so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den Hafträumen untergebracht werden können.“

Der von den NS-Machthabern seit Jahren vorangetriebene Prozess der Vertreibung der Juden aus der Wirtschaft und Gesellschaft wurde durch den inszenierten Pogrom zum Abschluss gebracht. Zusammen mit der Einführung des Gelben Sterns im Herbst 1941 wurde schließlich ein totales Kontaktverbot zu jüdischen BürgerInnen verhängt.

„Wir sind wieder da!“

Der 9. November ist der Schicksalstag der Deutschen.

1918 wurde an diesem Tag in Berlin die Republik ausgerufen. In rechtsextremen Kreisen gilt dieser Tag als „Verrat an einer ungeschlagenen Armee“, da angeblich das Kaiserreich durch einen „Dolchstoß“ von innen gefallen war.

1923 fand der so genannte Hitler-Putsch in München statt. Hitlers „Marsch zur Feldherrnhalle“ wird in rechtsextremen Kreisen zu einer Tat „junger deutscher Idealisten“ verklärt, „welche, von flammendem Gerechtigkeitsempfinden und Liebe zu ihrem Volk beseelt, die Ehre ihres Vaterlandes wiederherzustellen trachteten.“

Am 9. November 1925 wurde die SS gegründet. Ein Tag, der heute selbst in rechtsextremen Kreisen in Vergessenheit geraten ist.

Die Reichspogromnacht 1938 fand, so die Propaganda rechtsextremer Kreise, für „die Reichsführung völlig überraschend“ statt: „Niemand konnte – trotz der allgemeinen Unbeliebtheit der Juden im Deutschen Volk – zu jenem Zeitpunkt weniger Interesse an einem solchen Ausbruch des Volkszorns gegen diejenigen haben, aus deren Reihen bereits am 24. März 1933 eine haßerfüllte Kriegserklärung an Deutschland erging, als die politische Führung des Deutschen Reiches. Wieder wurde Deutschland Opfer einer Intrige, deren Hintermänner der Erkenntnislage nach offensichtlich in eben den Kreisen zu suchen sind, welche schon für besagte Kriegserklärung vom 24. März 1933 verantwortlich zeichneten.“

Am 9. November 1989 schließlich fiel die Mauer. Dieses Datum gilt heute in rechtsextremen Kreisen als Tag der Gründung der „Groß-BRD: noch immer ohne Friedensvertrag (den ohnehin nur das Deutsche Reich schließen kann) unter Aufrechterhaltung der Feindstaatenklauseln und unter andauernder Kuratel USraels mit erheblichem jüdischen Einfluß auf die als Marionettenregierung eingesetzten Vasallen der Siegermächte.“ (Zitate: Gerd Ittner, selbsternannter Reichsbürger, Hitler-Verehrer, Ex-Mitglied der DVU und der NPD)

Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass – auch an einem 9. November – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde. Im Morgengrauen des 9. November 1848 wurde Robert Blum (Jg. 1807), Demokrat und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, in der Brigittenau (20. Gemeindebezirk) in Wien von Soldaten des kaiserlichen Militärs standrechtlich erschossen. Zuvor hatte sich der Revolutionär im Herbst 1848 entschieden, in Wien auf die Barrikaden zu gehen, um mit der Waffe Widerstand gegen Willkür und Unterdrückung zu leisten. Seit November 2021 wird Robert Blum mit einer neuen Briefmarke geehrt. Bei der Präsentation der Robert-Blum-Briefmarke charakterisierte Bundespräsident Steinmeier Blum als Person, die „wie kaum ein anderer für den politischen Aufbruch im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 steht“.

In rechtsextremen Kreisen ist der 9. November ein wichtiger Jahres- und Gedenktag. Einerseits wird von Rechtsextremisten bei konspirativ durchgeführten Veranstaltungen der „Gefallenen der Bewegung“ des Jahres 1923 gedacht. Andererseits wird von Rechtsextremisten dem staatlichen und zivilgesellschaftlichen Erinnern an die Reichspogromnacht in vielfältiger Form aktionistisch begegnet. So rufen Rechtsextremisten um Rüdiger Hoffmann, Ex-NPD-Kader und Kopf hinter der Reichsbürger-Gruppierung „staatenlos.info“, auch in diesem Jahr zu einer Demonstration vor dem Berliner Reichstag auf. Jahres- und Gedenktage wie der 9. November sind sowohl politische Symbole als auch Gegenstand symbolischer Politik: ein Ausdruck der Bedeutung eines bestimmten Geschichtsbewußtseins ebenso wie ein Handlungsfeld für aktualisierende historische Rückgriffe.

Rechtsextremisten haben sich ihre eigene Symbolsprache geschaffen. Wenn Rechtsextremisten an Tagen um den 9. November aufmarschieren, führen sie ihren „Kampf der Symbole“. Das Beschmieren oder Zerstören von Gedenkstätten und die Schändung von Jüdischen Friedhöfen am Jahrestag der Reichspogromnacht ist eine Form des militant ausgetragenen Kampfes um Symbole. Eine geschändete Gedenkstätte erinnert nicht mehr an die Opfer des Nationalsozialismus, sondern an die Bedrohung durch den heutigen Rechtsextremismus. Das aufgesprühte Hakenkreuz verschiebt die Zeitkoordinate des Gedenkens. Nicht die Vergangenheit mahnt die Heutigen, sondern die Gegenwart besetzt ein Symbol dieser Vergangenheit. Aus dem „Nie wieder!“ wird ein „Wir sind wieder da!“.

Aktionistisch gegen das Gedenken und Erinnern an die Reichspogromnacht

Im Tagungshaus des antisemitischen und Holocaust leugnenden „Collegium Humanum“ (CH) im nordrhein-westfälischen Vlotho wurde am 9. November 2003 der „Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“ (VRHV) gegründet. Der auf Initiative des notorischen Antisemiten Horst Mahler ins Leben gerufene Verein führte einen „Feldzug gegen die Offenkundigkeit des Holocaust“. Ziel war es, holocaustleugnende Ansichten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und Holocaustleugnern bei allfälligen Strafverfahren oder Verurteilungen rechtlich und finanziell beizustehen. Zu den Gründungsmitgliedern zählen international bekannte Rechtsextremisten wie Ernst Zündel, Germar Rudolf, Manfred Roeder, Frank Rennicke und Robert Faurisson. Bei der Gründungsversammlung bezeichnete die CH-Leiterin Ursula Haverbeck die Reichspogromnacht als den „Beginn der großen Lüge, die endgültig zu Fall zu bringen Anliegen unseres Vereins sein wird: Die Auschwitz-Lüge“. Haverbeck, wegen Volksverhetzung vorbestraft, war die Ehefrau des 1999 verstorbenen Werner Georg Haverbeck, der 1933 den „Reichsbund Volkstum und Heimat“ begründete. Im April 2008 wurde das gemeinnützige (!!) „Collegium Humanum“ und dessen Ableger, der „Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“, vom Bundesinnenminister Schäuble verboten.

Ebenfalls am 9. November 2003 hätte in Anwesenheit von Bundespräsident Johannes Rau, Ministerpräsident Edmund Stoiber und dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel bei der feierlichen Grundsteinlegung des Jüdischen Gemeindezentrums in München eine Bombe explodieren sollen. Neonazis der „Schutzgruppe“ der „Kameradschaft Süd“ um ihren Führer Martin Wiese wollten einen Anschlag verüben, der jedoch frühzeitig von den Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurde. Wiese erhielt im Mai 2005 als Rädelsführer sowie unter anderem wegen Verstoßes gegen das Waffen- und das Sprengstoffgesetz eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Vom Knast aus meldete sich Wiese immer wieder in den „Nachrichten“ der erst 2012 rechtskräftig verbotenen Neonazi-Truppe „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG), der damals mitgliederstärksten Neonazi-Vereinigung in der Bundesrepublik, zu Wort.

Mit Datum vom 9. November 1999 verfasste das zeitweilige NPD-Mitglied Horst Mahler einen Offenen Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder. In dem Schreiben an den „Lieben Gerhard Schröder“ behauptete Mahler, dass dieser eine „Vasallenregierung“ führe, die „den Befehlen der US-Regierung zu gehorchen“ habe. Schröder müsse deshalb „das Lügengespinst, mit dem die Feinde Deutschlands unser Volk niederhalten und aussaugen“, zerreisen. Mahler rief den Bundeskanzler dazu auf: „Tritt zurück und mache deutlich, dass DU nicht länger bereit bist, der Diener fremder Mächte zu sein! Gehe ins Exil und organisiere von dort aus den Aufstand des Deutschen Volkes gegen die Fremdherrschaft“. Mahler beendete den mehrseitigen Offenen Brief an den Bundeskanzler mit den Worten „Ich schließe in Sorge um unser Volk und in wehmütigen Gedanken an einen Freund. Dein Horst Mahler.“ Nachgedruckt wurde der Offene Brief unter anderem in der damals zweimonatlich erscheinenden Postille „Euro-Kurier“ aus dem Hause des NS-apologetischen Tübinger Grabert-Verlages. Gemeinsam mit dem Rechtsextremisten Reinhold Oberlercher, zeitweise „Wirtschaftsexperte“ der NPD, führte Mahler am 9. November 1999 in der sächsischen Stadt Leipzig eine konspirativ organisierte „Reichsproklamation“ durch. Diskutiert wurden vor Ort so genannte „Reichsverfassungsentwürfe“. Mahler verkündete in seinem dort vorgetragenen Grundsatzpapier „Thesen zur Reichsstatthalterschaft“: „Das Deutsche Reich besteht. Es ist aber handlungsunfähig“. Sobald das „Deutsche Reich“ wieder handlungsfähig sei, müsse es die Bundesrepublik „abwickeln“.

Rechtsextreme Standardwerke zur Reichspogromnacht sind die Bücher „’Reichskristallnacht‘ 9. November 1938. Hintermänner und Hintergründe“ und „Feuerzeichen – Die Reichskristallnacht. Anstifter und Brandstifter – Opfer und Nutzniesser“. Als ein „Forschungsbericht“, der mit „zahlreichen historischen Legenden“ aufräumen und zeigen will, „wie es wirklich war“, wurde das 1988 im rechtsextremen Türmer-Verlag erschienene Buch „’Reichskristallnacht‘ 9. November 1938. Hintermänner und Hintergründe“ von Nikolaus von Preradovich (1917 – 2004) deklariert. Preradovich, von 1972 bis 1974 Chef der Geschichtsredaktion des Schroedel-Schulbuch-Verlages, beharrt darauf, dass sich an der Reichspogromnacht „Teile des deutschen Volkes ’spontan‘ an den ihnen bekannten Juden vergriffen haben und die Führung der NSDAP sei sodann gewissermaßen als Trittbrettfahrer auf den bereits in Bewegung befindlichen Zug gesprungen“. 1999 wurde Preradovich, langjähriger Mitarbeiter des DVU-Sprachrohrs „National-Zeitung“ und Unterzeichner des Holocaust leugnenden „Appells der 100“, mit der „Ulrich-von-Hutten-Medaille“ der „Gesellschaft für freie Publizistik“ (GFP) ausgezeichnet. Die von SS-Offizieren und NSDAP-Funktionären 1960 in Frankfurt gegründete GFP ist die größte rechtsextreme kulturpolitische Vereinigung in der Bundesrepublik.

Ingrid Weckert ist Autorin des 1981 beim Grabert-Verlag erschienenen Buches „Feuerzeichen – Die Reichskristallnacht. Anstifter und Brandstifter – Opfer und Nutzniesser“, das von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurde. Weckert schreibt in ihrem Machwerk, dass die Reichspogromnacht von jüdischer Seite angestiftet worden sei, um die Auswanderung der Juden nach Palästina zu fördern. Die Juden, so Weckert, „waren so wenig Opfer eines geplanten Genocids wie andere Völker.“ Ein Vorwort dazu steuerte Wilfred von Oven, letzter persönlicher Pressereferent (1943 – 1945) von NS-Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, bei. Oven, der Zeit seines Lebens Goebbels als „faszinierendste Persönlichkeit der NS-Führung“ verehrte, sprach Weckert „für diesen Mut zur historischen Wahrheit“ seinen „ganz besonderen persönlichen Dank“ aus. Die Holocaustleugnerin Weckert (alias Hugo Rauschke) war einst Gefolgsfrau des 1991 an Aids verstorbenen Neonaziführers Michael Kühnen.

Seine Sicht zur Reichspogromnacht schilderte Willi Krämer in dem Buch „Vom Stab Heß zu Dr. Goebbels“, das 1979 im Holocaust leugnenden Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung (Vlotho, Nordrhein-Westfalen) des NPD-Gründungsmitglieds Udo Walendy erschien. Krämer, ehemaliger Angehöriger des „Stabes Heß“ und der NS-Reichspropagandaleitung, ortet als Ursächer der Reichspogromnacht „Rabauken niederer Chargen“ der NSDAP, die den Nationalsozialismus bekämpfen wollten. Goebbels, so Krämer dagegen, sei unschuldig: „Da Dr. Goebbels an jenem Abend weder seinen Nachrichtenapparat im Propagandaministerium noch sonst einer Dienststelle eine Brandanweisung gegeben hat oder hätte geben können, gibt es nicht einmal einen Indizienbeweis, der ihn belasten könnte.“ Nach 1945 war Krämer Funktionär der Sozialistischen Reichspartei (SRP) und der Deutschen Reichspartei (DRP). In den 80er Jahren galt Krämer in rechtsextremen Kreisen als „Freund und Förderer“ von Kühnen. Kühnen ernannte Krämer zum Ehrenmitglied seiner „Aktionsfront Nationale Sozialisten/Nationale Aktivisten“ (ANS/NA).

Weißwäscherei konnte Fritz Hippler, vormals NS-Filmintendant, einer der Organisatoren der „Verbrennung undeutschen Schrifttums“ und verantwortlich für die Gestaltung des antisemitischen Hetzwerkes „Der ewige Jude“, in der ARD-Sendung „Die Reichskristallnacht“ vom November 1988 betreiben. Hippler gab Poesie zum besten. Er zeigte sich entrüstet darüber, dass die Tür zu einer Wohnung eingetreten wurde und dahinter eine jüdische Großfamilie eng zusammengekauert vor Angst zitterte. Er habe seinen SS-Ausweis gezeigt und nach der Polizei gesucht.

Im voluminösen „Volkslexikon Drittes Reich“, 1994 beim Grabert-Verlag erschienen, werden die antisemitischen Übergriffe bei der Reichpogromnacht als „teilweise noch ungeklärte, angeordnete und gesteuerte, teilweise spontan eingeleitete Maßnahmen“ beschrieben, die „das Ansehen Deutschlands in jenen Jahren zweifellos beträchtlich“ schädigten. Das Buch deutet auf 950 Seiten Episoden und Figuren „jener zwölf Jahre“ (Vorwort, gemeint ist die Hitler-Zeit) um. Ausführlich werden einzelne militärische Personen und Operationen behandelt, dazu NS-Filme und untergegangene Schiffe, Dienstgrade und Abkürzungen, Aufmarschstellungen und Landser-Jargon. Unter dem Stichwort „Auschwitz“, das nur wenig länger ausfällt als die benachbarten „Ausbürgerung“ und „Auslandsdeutsche“, ist von 74.000 Häftlingen die Rede, die dort zu Tode kamen, und nicht einmal alles Juden. Die Absicht ist klar: Die Zahl der vom NS-Regime industriell ermordeter Juden soll runtergerechnet werden.

Berühmt-berüchtigt in Neonazi-Kreisen war die 1996 gegründete und 2002 aufgelöste französische NS-Black-Metal-Band (NSBM) „Kristallnacht“ aus Toulon. „Kristallnacht ist voll Antisemitismus, deswegen ist das der richtige Name für meine Band“, erläuterte der Bandleader Laurent Franchet die Stoßrichtung. Schlagzeuger von „Kristallnacht“ war der Friedhofsschänder Cyril Dieupart. Eine CD dieser Band wurde am 20. April (!) 1999 von dem Erfurter Plattenlabel Darker Than Black (DTB) der Gebrüder Hendrik und Ronald Möbus verlegt. Das Coverbild der CD, das eine halbzerstörte Kirche zeigt, ist eine Zeichnung Hitlers, die dieser während des Ersten Weltkrieges anfertigte. Hendrik Möbus genießt in Teilen der Neonazi-Szene Kultstatus. Mit zwei Komplizen beging Möbus am 29. April 1993 einen satanistisch motivierten Mord an einem 15-jährigen Mitschüler.

Es ist den Rechtsextremisten nur innerhalb ihrer eigenen Szene gelungen, das Symbol „9. November“ mit ihren eigenen Inhalten zu besetzen. Aber jeder, der heute dieses Datums gedenkt, sollte sich dessen Ambivalenz bewusst sein, denn es ist nicht zu leugnen: Auch für Hitler war es ein Gedenktag.

 

 

 

Literatur

Döscher, Hans-Jürgen: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938 im Spiegel ausgewählter Quellen. Bonn 1988

Jäckel, Eberhard / Longerich, Peter / Schoeps, Julius (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. München – Zürich. 1993

Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945. Bonn 2006

NSU. Thesen zum Polizistenmord in Heilbronn

Heute jährt sich zum zehnten mal die Selbstenttarnung des NSU. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Gastbeitrag unseres Autoren Anton Maegerle.

Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn ist nach wie vor nicht wirklich aufgeklärt, und es ranken sich zahlreiche Spekulationen und Verschwörungsmythen um diese Tat.

Anton Maegerle beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem NSU-Komplex und hat als Journalist und Experte für die extreme Rechte das untergetauchte Trio und die damit verbundenen rechtsterroristischen Strukturen schon lange vor dem Auffliegen des NSU thematisiert.

In seinem Artikel präsentiert er eine mögliche Deutung des Mordes in Heilbronn, die in vielerlei Hinsicht plausibel erscheint, sie ist aber selbstverständlich nicht das letzte Wort zu diesem Komplex.

 

 

NSU. Thesen zum Polizistenmord in Heilbronn

von Anton Maegerle

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) war am 4. November 2011 aufgeflogen, mit dem Tod der Terroristen Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos. Auf das Konto der Neonazis gehen auch der Mord an der Polizeivollzugsbeamtin Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. am 25. April 2007 auf der Theresienwiese im baden-württembergischen Heilbronn.

TATORT THERESIENWIESE

Mit dem Tatort Theresienweise knüpft der NSU symbolisch an den bislang folgenschwersten Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik an: das Attentat auf das Münchener Oktoberfest auf der Theresienweise am 26. September 1980. Bei dem Attentat gab es dreizehn Tote und 211 zum Teil Schwerverletzte. Unter den Toten war auch der mutmaßliche Attentäter Gundolf Köhler aus dem Umfeld der rechtsterroristischen WSG Hoffmann und der Wiking-Jugend (WJ). Wolfram Nahrath, Ex-„Bundesführer“ der 1994 wegen Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus vom BMI verbotenen WJ, war einer der drei Pflichtverteidiger von Ralf Wohlleben, dem wichtigsten NSU-Unterstützer und Ceska-Mordwaffe-Beschaffer. Heilbronn war für den NSU ausschließlich aufgrund der Symbolik Theresienweise interessant und war den Tätern aufgrund ihrer Kontakte zu Gleichgesinnten in Baden-Württemberg bekannt.

TATTAG

Gedenktage (z.B. Geburtstag) sind sowohl politische Symbole als auch Gegenstand symbolischer Politik: ein Ausdruck der Bedeutung eines bestimmten Geschichtsbewußtseins ebenso wie ein Handlungsfeld für aktualisierende historische Rückgriffe. KIesewetter und ihr Kollege haben um 13:45h das Polizeirevier Heilbronn verlassen. Um 13:58h fielen die tödlichen Schüsse. Ihnen folgte nachweislich kein PKW. Der NSU war vor den Polizeibeamten vor Ort und kundschaftete die Gegend aus. Als die beiden Polizisten auf der Theresienweise eintrafen, erschien dem NSU die Gelegenheit günstig für die Tatausführung. Genau um 13:58h waren keine Zeugen in mittelbarer Nähe des Streifenwagens. Der Mordanschlag auf x-beliebige Polizeibeamte selbst war erst für den Folgetag, den Geburtstag von Rudolf Heß (Jg. 1894), gedacht. Aber bereits am 25.04./13:58h war die Gelegenheit zur Tatausführung perfekt und wurde deshalb ausgeübt. Führer-Stellvertreter Heß avancierte nach seinem Freitod im alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau am 17. August 1987 zur Kult- und Identifikationsfigur der Neonazi-Szene. Der „Hitler-Ersatz“ wurde nach Auffassung der Neonazi-Szene von einem britischen Geheimdienst ermordet. Heß war nachweislich auch für den NSU „das Idol“. So fand am 17. August 1996 im rheinland-pfälzischen Worms ein illegales Heß-Gedenken statt. Unter den Aufmarschierenden waren Mundlos, Zschäpe und Wohlleben.

POLIZEI

Die Bundesrepublik, dem ewiggestrigen Mief der Adenauer-Zeit entwachsen, wird in rechtsextremen Kreisen einhellig als Polizei- oder Überwachungsstaat diffamiert, den es zu bekämpfen gilt. Seit den frühen 1990er-Jahren existiert in der rechtsextremen Szene das „Feindbild Polizei“ („brd-Polizisten“). Polizisten gelten als „Büttel des Systems“ und „Handlanger der Besatzer“. Mordaufrufe gegen Polizisten finden sich in der Neonazi-Musik. Neben Kiesewetter erschossen Neonazis seit 1997 vier weitere Polizeibeamte.

ZUFALLSOPFER KIESEWETTER / A.

Eine Woche vor dem Tattag fuhren die Polizisten D. W. und Kiesewetter (Beifahrerin) erstmals bei ihrer gemeinsamen Streifenfahrt auf die Theresienwiese, da Kiesewetter – der Streifenwagen befand sich zum Zeitpunkt ihres Wunsches in der Nähe des Bahnhofs – in Ruhe telefonieren wollte. W. war nicht bekannt, dass das Gelände als Pausenplatz genutzt wird.

A. war am Tattag erstmals auf Streife in Heilbronn; ebenso war es die erste gemeinsame Fahrt von Kiesewetter und A.

Der NSU wollte Polizisten töten – aber er wollte keine breite Panzerspur zu sich selbst legen. Kiesewetter und A. waren Zufallsopfer. Mit dem Opfer Kiesewetter legte der NSU unbewusst die Spur auf sich selbst. Kiesewetter stammt aus Oberweißbach und hatte bis zu ihrem Tod ihren Zweitwohnsitz bei den dort lebenden Großeltern. 500 Meter Luftlinie entfernt vom Haus der Großeltern wohnte seit dem 10. April 2007 der zeitweilig als Rechtsextremist aktive David F.. F. betrieb von Ende 2005 bis Anfang 2007 in Lichtenhain, einem Ortsteil ( 1km entfernt) von Oberweißbach, die Kneipe „Zur Bergbahn“. F. ist der Schwager von Ralf Wohlleben, der dem NSU seinen PKW als Fluchtwagen überließ und die Mordwaffe Ceska hat liefern lassen. Wohlleben war zuständig für den Internetauftritt von „Zur Bergbahn“. F. war einst Freund von Böhnhardt und Mundlos und zeitweilig Partner von Zschäpe. In der Pachtzeit fanden in der Gaststätte rechtsextreme Veranstaltungen statt.

Bekannt ist eine Saalveranstaltung des „Nationalen und Sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen“ vom 18.03.2006 (Anmieter: Patrick Wieschke, später NPD-Bundesvorstandsmitglied und NPD-Landesvorsitzender Thüringen). 100 Personen waren vor Ort. Die musikalische Gestaltung machte der lange im schwäbischen Ehningen wohnhafte Neonazi-Liedermacher Frank Rennicke (NPD, WJ). F. kannte die Familie Kiesewetter. So hatte Ralf Kiesewetter, Stiefvater von M.K., selbst Interesse an einer Pacht 1996/97 der Kneipe „Zur Bergbahn“ gehabt. Wohlleben hat F. ca. 4-5 Mal mit Jacqueline Wohlleben (geb. Feiler) und den Kindern in „Zur Bergbahn“ besucht.

Der NSU war nach dem Mord an Kiesewetter entsetzt, dass sie eine Person aus ihrem „mittelbaren“ Umfeld getötet hatten – wobei die Person Kiesewetter an sich nicht betrauert wurde. Aber die Tatsache, dass der Tatkomplex Heilbronn die Spur ins vermeintlich weit entfernte Oberweißbach und damit den Weg zu Wohlleben, dem wichtigsten NSU-Unterstützer weist, der das Trio auch maßgeblich in deren Jugendjahren politisch und ideologisch prägte, hat die Täter verunsichert und letztlich zum Stop der rassistischen Mordserie geführt.