CSU: 60 Millionen Flüchtlinge stehen an Bayerns Grenzen

Eine Analyse von Jobst Paul.

Andreas Scheuer (Generalsekretär der CSU):

„An den Grenzen stehen 60 Millionen Flüchtlinge. Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? Wir können nicht die ganze Welt retten.“

Dies äußerte Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, im Rahmen eines Gesprächs mit der Passauer Neuen Presse, das am 20. Juli 2015 veröffentlicht wurde.1

Scheuer griff dabei auf Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR2 vom Juni 2015 zurück, wonach sich Ende 2014 „weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht“ befanden. Betroffen waren/sind zumeist Menschen in Bürgerkriegsregionen und in Staaten in Auflösung. Daher waren von diesen 60 Millionen im Jahr 2014 38,2 Millionen Menschen „innerhalb ihres eigenen Landes“ auf der Flucht und davon wiederum 11 Millionen Menschen auf der Flucht „in ein angrenzendes Nachbarland“.3

Von daher war die UNHCR-Angabe „weltweit“ als Hinweis auf eine statistische Summe zu verstehen, in der unterschiedlichste humanitäre Katastrophen auf den Punkt kommen und für die der Westen – wie man hinzufügen darf – einen großen Teil der Verantwortung trägt. Aus der UNHCR-Mitteilung war aber nicht ein Szenario herauslesbar, in dem sich all diese Menschen auf der Flucht nach Europa (und in die USA) befänden.

Doch begnügte sich Andreas Scheuer am 20. Juli 2015 nicht damit, die UNHCR-Angabe allein in diesem Sinn zu fälschen und die schockierende Nachricht als rhetorisches Spielmaterial zu verwenden. Er beließ es auch nicht dabei, der bayerischen Öffentlichkeit in der Form einer ‚Mauerschau‘ mitzuteilen, dass sich diese ‚Vorhut‘ (also 60 Millionen Menschen) schon „an den Grenzen“ (Deutschlands, bzw. Bayerns) versammelt hätte. Vielmehr deutete er tendenziell an, dass sich hinter ihr bereits „die ganze Welt“, also die Weltbevölkerung, in Warteposition aufgestellt habe.

Bevor man die Frage beantworten kann, auf welche Handlungsanweisungen Scheuer mit dieser Zuspitzung bei seinem Publikum zusteuert, sollte man betrachten, wie die Zuspitzung selbst strukturiert ist, um auf diesem Weg zu erfahren, welche Denk- und Handlungsmuster Scheuer beim Publikum abrief. Wie verändert sich zum Beispiel die ‚Charakterisierung‘ von Flüchtlingen und globaler Fluchtbewegungen, wenn die millionenfachen menschlichen Tragödien, wie sie das UNHCR beschreibt, in eine uniforme Bewegung von „60 Millionen Menschen“ auf Europa zu und schließlich zu einer Bewegung der ‚ganzen Welt‘ in Richtung der deutschen (bayerischen) Grenzen umgedeutet werden?

Offenbar führt die Pauschalisierung dazu, dass konkrete Fluchtursachen (Krieg, Gewalt, regionale Bürgerkriege aufgrund der westlichen Interventionskriege der vergangenen Jahrzehnte, Zerstörung sozialer und ökonomischer Strukturen) aus dem Blickfeld gedrängt werden. In der Tat müssen global wirksame Fluchtgründe wegfallen, wenn doch ein einzelner Fleck (Deutschland / Bayern) davon völlig unberührt bleiben und sogar zur rettenden Oase für die „ganze Welt“ werden kann.

Entsprechend sorgt Scheuers Bild eines wandernden Kollektivs der „60 Millionen Flüchtlinge“ (und danach des Kollektivs der „ganzen Welt“) für die Einebnung alles dessen, was menschlich individuell ist und über rein körperliche Überlebensbedürfnisse hinausgeht. Stattdessen reduziert Scheuers Bild der „Massen“ Menschen auf ‚pure‘ Überlebensbedürfnisse und auf ein davon bestimmtes Flucht- oder ‚Wanderungs’verhalten, schreibt den „Massen“ also den uniformen Status menschlich reduzierter Wesen zu.

Dann aber haben wir es offenbar entsprechend der Scheuer’schen Logik und was Deutschland / Bayern einerseits und „die ganze Welt“ andererseits angeht, mit zwei Existenzformen zu tun:

Während Deutschland / Bayern über existenzielle ‚Lebensmittel‘ weit über den eigenen Bedarf hinaus verfügt, also in ‚humaner‘, zivilisatorischer Weise Vorräte angelegt hat, hat „die ganze Welt“ offenbar (in der nicht-zivilisatorischen Weise der ‚Wilden‘) keine Vorräte angelegt und möchte sich deshalb diese existenziellen ‚Lebensmittel‘ in Deutschland / Bayern holen.

Seit jeher arbeiten rassistische, aber auch antisemitische Stereotype mit dem Motiv des ‚Herumwanderns‘, um Minderheiten eine ‚zivilisatorische‘ Fähigkeit (die Vorratshaltung, den Verzicht auf unmittelbaren Genuss) abzusprechen und zu unterstellen, dass sie ‚auf Kosten anderer‘ leben wollen. Entsprechend evoziert Scheuers Äußerung die Vorstellung, dass die Flüchtlingsströme der Welt potenziell auf Deutschland / Bayern gerichtete Raubzüge sind, gegen die harte Vorkehrungen zu treffen wären.

Scheuers Frage Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? scheint diesen Aspekt inhaltlich zunächst aufzugreifen: Der naturhaften ‚Ströme‘ könnte man wohl nur mit äußerster Gewalt und Brutalität „Herr werden“, entweder, indem man sie „an den Grenzen“ blockiert oder aber im Land einer massiven Repression unterwirft. Dies entspräche wohl einem völkisch-rechtspopulistischen Drehbuch. Die Frageform Scheuers realisiert allerdings einen Bruch im martialischen Gestus. Sie deutet eher auf die Ratlosigkeit, wie man einer großen Aufgabe gewachsen sein soll, die man nicht abweisen kann.

Das Bild der „Massen“ an den Grenzen zeigt einen ähnlichen Bruch. Dort gibt es offenbar gar nicht die naturhaften ‚Ströme‘, die Deutschland überfluten wollen: Vielmehr haben die „Massen“ (d.h. „60 Millionen Flüchtlinge“) an den deutschen (bayerischen) Grenzen unversehens Halt gemacht. Sie stehen dort geduldig und warten auf Einlass, anerkennen also die Autorität des rettenden deutschen Gemeinwesens.

Scheuers Diktum verharrt also in dieser Unentschiedenheit zwischen martialischem Gestus und einer ‚gewissen‘ humanitären Verpflichtung: Wenn Deutschland / Bayern zwar nicht ‚die ganze Welt‘ ins Land lassen kann, so werden sich angesichts des „an den Grenzen“ aufgebauten Szenarios die „Massen“ nicht gänzlich abweisen lassen. In eine politische Ankündigung umgemünzt, könnte dies eine taktisch hinhaltende, dosierte Öffnung der Grenzen bedeuten und eine Behandlung der hereingelassenen Flüchtlinge nach humanitärem Mindeststandard.

Von daher kann nun die Funktion des zugespitzten Angstszenarios eingeschätzt werden, das Scheuer im Juli 2015 mit Hilfe einer Fälschung vor seiner politischen Anhängerschaft aufbaute. Offenbar wollte er einer rechten Klientel in ihrem politischen Selbstverständnis, insbesondere in ihrer rassistischen Perspektive auf Flüchtlinge entgegenkommen, um sie so zu bewegen, eine begrenzte Zuwanderung von Flüchtlingen (gewaltfrei) zu dulden.4 Dies entspräche dem Versuch, rechte Konkurrenz mit dem Versprechen zu ‚befrieden‘, am staatlichen Gewaltmonopol und an der politischen Macht der CSU zu partizipieren.

Abgesehen davon, dass solche Rückzugssignale faktisch zu einem Machtzuwachs rechts von der CSU führen müssen, könnte die CSU auch deshalb an Macht einbüßen, weil ihr Angebot ‚leer‘ ist: Sie hat gar nicht die Macht, die Zuwanderung restriktiv zu begrenzen und ihr autoritaristisch „Herr“ zu werden, oder gar eine bloße Minimalversorgung der Flüchtlinge (sozusagen nach ungarischem Modell) durchzusetzen.

Dies zeigte sich eklatant am 5. September 2015, als die deutsche Regierung (mit Beteiligung von CSU-Ministern) kurzfristig der Einreise von 8000 in Ungarn festgehaltener Flüchtlinge zustimmte, während sich der bayrische CSU-Innenminister Joachim Herrmann als ahnungslos – und ohnmächtig – gab und die Berliner Entscheidung als „völlig falsches Signal innerhalb Europas“ verurteilte. 5

1 Scheuer zur Asylpolitik: „Können nicht die ganze Welt retten“. In: Passauer Neue Presse (Lokalteil) vom 20.07.2015 [http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1749952_Scheuer-zur-Asylpolitik-Koennen-nicht-die-ganze-Welt-retten.html]

2 Vgl. World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement 2014. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html

3 In Deutschland wurden 2014 ca. 33.310 Personen als Flüchtlinge anerkannt, 4,0 Prozent erhielten einen Schutzstatus, und 1,6 Prozent Abschiebungsschutz. Im ersten Halbjahr 2015 lag die Anerkennungsquote (bei 180.000 Asylanträgen) bei etwa 37 %. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.html?nn=1366068

4 Nach massiver politischer und medialer Kritik nahm der CSU-Generalsekretär die UNHCR-Angabe am 30. Juli 2015 noch einmal auf. In einem Pressegespräch mit dem Oberpfalznet (unter http://m.oberpfalznetz.de/zeitung/454/4675558/) gab er sie nunmehr korrekt wieder („Es sind weltweit 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs“).

5 Angesichts der dramatischen Ereignisse am 5. September 2015 forderte Scheuer erneut, der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland müsse begrenzt werden. „So kann es nicht weitergehen.“ http://www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html

Netzfundstücke: Griechenland-Solidarität

Beim Thema Griechenland-Krise gibt es nur wenige Stimmen in der veröffentlichten Meinung, die über die vermeintliche Alternativlosigkeit der neoliberalen Austeritätspolitik hinausdenken. Prof. Elmar Altvater und zahlreiche Unterstützerinnen und Unterstützer versuchen, einen pointierten Gegenakzent zu setzen mit ihrem Appell: JA zu Demokratie und Volksabstimmung in Griechenland – NEIN zur Erpressung Griechenlands durch IWF, EU und Berliner Regierung.

Das demokratische und soziale Europa, ohnehin ein unvollendetes Projekt, befindet sich Ende Juni 2015 am Abgrund: Doch die einen leben als Kreditgeber in einem Grand Hotel in großem Luxus mit schöner Aussicht, die anderen sitzen als Schuldner auf einer Klippe, immer vom Absturz in den Bankrott bedroht.
Eine sogenannte Troika von mächtigen Institutionen sorgt dafür, dass die Drohung zur Erpressung wird. Schuldnern wie Griechenland wird keine Chance gegeben, der drohende Sturz in den Bankrott soll die Regierung gefügig machen. Soziale und politische Alternativen zur verordneten Austerity sind tabu. Selbst die von der Syriza-Regierung vorgeschlagene Abstimmung über das von der Troika verordnete Sparpaket interpretieren die Finanzminister der Eurogruppe – ein technokratischer Verein, kein politisches, den Wählern verantwortliches Gremium – als eine Provokation. Sie bestrafen Syrizas demokratische Initiative mit dem Ausschluss des griechischen Finanzministers aus den Beratungen der sogenannten Eurogruppe. Sie sind dabei schamlos genug, europäisches Recht zu brechen, um ihr neoliberales Mütchen zu kühlen. Das Schauspiel, das Schäuble, Dijsselblom und die anderen bieten, wird in die europäische Geschichte eingehen als Spektakel eines grandiosen Selbstmordattentats der politischen Elite, gerichtet gegen das europäische Integrationsprojekt.
Die Austeritätspolitik, mit der Staatshaushalte ruiniert und Gesellschaften zerstört werden, betreiben der IWF, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission zusammen mit der Eurogruppe in Absprache mit den großen Wirtschaftsmächten Europas. Deutschland s Große Koalition der Schäuble, Gabriel und Mer kel ist dabei treibende Kraft. Sie haben mit ihrer Austerity – Politik des sozialen Kahlschlags, der Blockade von Investitionen zur wirtschaftlichen Erneuerung, des Drucks auf die Masseneinkommen und der Schwächung von Gewerkschaften dafür gesorgt, dass sich in Griechenland die Arbeitslosigkeit von 2007 bis 2014 auf fast 30 Prozent verdreifacht hat … … …

Lesen Sie den vollständigen Text des Aufrufes bitte hier: Appell: JA zu Demokratie und Volksabstimmung in Griechenland – NEIN zur Erpressung Griechenlands durch IWF, EU und Berliner Regierung

Als eine Informationsquelle zur aktuellen Entwicklung in Griechenland sei hier das Zeitungsprojekt FaktenCheck HELLAS genannt, das nicht nur im Netz, sondern auch in gedruckter Form erscheint und mit einer deutschen, einer englischen und einer griechischen Ausgabe versucht, die Sprachbarriere zu überwinden.

Über die deutsche Solidaritätsbewegung mit Griechenland informiert das Blog griechenlandsolidarität, das den Anspruch hat, zu informieren und zu vernetzen.

 

Alltagsdiskurse um Zuwanderung am Beispiel Duisburg-Hochfeld

Aufgrund der Aktualität und Brisanz antiziganistischer Diskurse und Übergriffe veröffentlichen wir die Bachelorarbeit von Bente Gießelmann, welche rassistische und antiziganistische Muster sowie narrative Strategien im Alltagsdiskurs in Duisburg untersucht und auf das Gewaltpotenzial alltäglicher Diskurse um Zuwander_innen hinweist.

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Neu in der DISS Online Bibliothek:

Bente Gießelmann
Differenzproduktion und Rassismus:
Diskursive Muster und narrative Strategien in Alltagsdiskursen um Zuwanderung am Beispiel Duisburg-Hochfeld
Bachelorarbeit
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
im Juli 2013
Veröffentlicht im August 2013
in der Online-Bibliothek des
Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung
Copyright 2013 Bente Gießelmann
bente.giesselmann [at] diss-duisburg.de

 

 

Bente Gießelmann studiert Kulturwissenschaften und ist Mitglied im AK Antiziganismus des DISS.

In ihrer Bachelorarbeit analysiert sie die rassistischen und antiziganistischen Dimensionen des Alltagsdiskurses in Duisburg-Hochfeld. Anhand dreier Interviews wird sichtbar, welche rassistischen und insbesondere antiziganistischen Zuschreibungen gegen Zuwander_innen aus Südosteuropa bedient werden und mit welchen Strategien diese kommuniziert werden. Die Beschreibungen der als anders markierten Zuwander_innen konstruieren ein Bedrohungsszenario und stützen ein Selbstbild der Interviewten als ‚Opfer von Zuwanderung‘. Nicht zuletzt verweist die Arbeit auf das vorhandene Gewaltpotenzial und die Wirkmächtigkeit rassistischer Diskurse, die räumlichen Ausschluss und gewaltvolles Handeln legitimieren.

Download der Arbeit als PDF-Datei: Bente Gießelmann: Differenzproduktion und Rassismus

Wir bauen um!

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung überarbeitet seine Internetauftritte – und damit auch das DISSkursiv-Blog. Wir bitten um Verständnis, dass es in den kommenden Tagen hier layoutmäßig etwas drunter und drüber geht. In spätestens einer Woche sollten wir den Umstellungprozess abgeschlossen haben. Zur Entschädigung gibt es dann ein aktuelleres, umfangreicheres und übersichtlicheres DISS-Online-Angebot.

Begeisterung bei Diskurswerkstatt – trotz Hochschulreform (Rom 2011)

Autor: Jörg Senf 

Wie in Deutschland, so macht sich derzeit auch in Italien die Hochschulreform speziell im geisteswissenschaftlichen Lehrbetrieb nachteilig bemerkbar. Die nunmehr in Kraft getretene Riforma Gelmini (Mariastella Gelmini, Ministerin für Bildung, Universität und Forschung) – gegen die im November-Dezember 2010 erstmalig seit vielen Jahren wieder massive Studentendemonstrationen stattgefunden hatten, von den Berlusconi-Medien sogleich gründlich umdiskursiviert durch gezielte Feindbild- und Krisenkonstruktion („Studenten potenzielle Mörder“) – hat einen Abbau besonders der discipline umanistiche noch verschärft, wie er bereits seit Einführung des europäischen Bachelor-Master-Systems zu beobachten ist. Studierende wie Lehrpersonal sehen sich in einer fortschreitend prekären Lage: Seit Jahren weiß niemand, was die Studienordnung im jeweils nächsten Semester bringen wird. Die Motivation zum Studium reduziert sich entsprechend auf ein recht lustloses Abhaken der erforderlichen Kreditpunkte, wo möglich über den Weg des geringsten Widerstandes.
Umso bemerkenswerter, ja nahezu verwunderlich, erscheint es da, wenn sich Studierende – trotz (oder gerade wegen?) dieses wenig anregenden Klimas – mit manifester Begeisterung ihren (kulturwissenschaftlichen) Studien und Recherchen widmen. Gerade dies ist nun in der diesjährigen Diskurswerkstatt an der römischen Universität „Sapienza“ geschehen! Ein Enthusiasmus, eine konstruktive Mit- und Zusammenarbeit, wie ich sie in meiner 20jährigen Lehrtätigkeit in  diesem Ausmaß bis dahin nur selten angetroffen hatte.
Die Diskurswerkstatt, die ich in Rom seit drei Jahren als Fortgeschrittenen-Seminar anbiete, fand diesmal im reformierten Fachbereich Studi Politici im Rahmen der Wahl-Lehrveranstaltung „Weitere Sprachkenntnisse Deutsch“ statt: 4 Kreditpunkte, Note nicht vorgesehen (lediglich der Vermerk „erfolgreich teilgenommen“).  Recht geringe Aussicht auf abrechenbaren Profit also, was die 5-6 teilnehmenden Studierenden jedoch keineswegs daran hinderte, mit Begeisterung bei der Sache zu sein.
Zur theoretisch-methodischen Einführung in die Diskurswerkstatt wurden zunächst die Grundlinien der Duisburger KDA vorgestellt ((Unter anderem nach SENF, J. (in Vorbereitung) Analisi critica del discorso. Approccio linguistico didattico a un testo di S. Jäger )), wobei die reichliche Lektüre authentischer DISS-Texte dem Anspruch eines fortgeschrittenen universitären Deutsch-als-Fremdsprache-Kurses besonders in terminologischer Hinsicht (Fachsprachen-Kompetenz) förderlich war.
Gleichzeitig begann die konkret aktive Werkstatt-Arbeit, ausgehend von der Wahl eines brisanten Diskursstranges, der nicht nur zum Kursbeginn, März 2011, aktuell war sondern die italienischen Medien noch voraussichtlich bis Mai beschäftigen sollte. Zwei kamen in die nähere Wahl: Immigrazione (anhaltende Medienberichte zur Immigration aus Nordafrika, auf nicht selten versinkenden Booten) und Rubygate (fortdauernde Berichterstattung und Kommentare zur Minderjährigen-Affäre des Premiers Berlusconi). Die Teilnehmer entschieden sich mehrheitlich für letzteres Thema, das ja bereits in der Diskurswerkstatt des Vorjahres ansatzweise thematisiert worden war ((Siehe hierzu SENF, J. (2011) Das Ende der Berlusconi-Ära Deutungskämpfe und Sagbarkeitsfelder in den italienischen Medien in Rolf van Raden/ Siegfried Jäger (Hg.): Im Griff der Medien. Krisenproduktion und Subjektivierungseffekte, Münster: Unrast-Verlag)) und das – besonders relevant an einer Facoltà di Scienze Politiche, Sociologia e Comunicazione – in den kommenden Monaten noch weitere interessante Verschränkungen zu Diskursen um Zustand und Rolle der Institutionen, Parlamentsmehrheit und, allgemein, politische Ethik versprach.
In zwei Arbeitsgruppengruppen sammelten die Teilnehmer darauf hin über drei Monate hinweg eifrig Zeitungsartikel, einerseits aus der hegemonialen Berlusconi-Presse (insbesondere Il Giornale), zum anderen aus den linksliberal oppositionellen Blättern (insb. La Repubblica), um anschließend dann – Siegfried Jägers Werkzeugkiste an der Hand – die sprachlich diskursiven Merkmale der medialen Deutungskämpfe heraus zu arbeiten und in der Folge diskursanalytisch zu deuten.
Ende Mai legten die Teilnehmer der Diskurswerkstatt ihre schriftlichen Ausarbeitungen vor. Als Ergebnis einer lediglich etwa 25 Stunden (plus intensiver Hausarbeit) umfassenden Lehrveranstaltung können diese – überdies in der Fremdsprache Deutsch verfassten – Analysen sicherlich noch keine ausgereifte Wissenschaftlichkeit beanspruchen; doch dieser Aspekt erscheint mir in vorliegendem Fall auch eher zweitrangig. Als prioritären  „Lernerfolg“ würde ich dagegen die Tatsache werten, dass Studierende – trotz erschwerender Umstände gerade in den Geistes- und Kulturwissenschaften – (wieder) Motivation und Lust zum Studium an den Tag legen.
Der Eindruck solch autotelischer (nicht profitgebundener) Begeisterung fand dann auch Bestätigung in dem durchweg positiven expliziten Feedback seitens der an der Diskurswerkstatt teilnehmenden Studierenden. Als Grund ihres so manifesten Eifers war unter anderem zu hören: „Wissen Sie, hier an der Fakultät  werden doch sonst nur alte Kamellen gelehrt“.
Kritische Ansätze und Methoden, die wie die KDA aussichtsreich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit applizierbar sind, werden ganz offenbar von der studierenden Jugend derzeit dankbar aufgenommen. Könnte eine solche Deutung verallgemeinerbar sein? Bleiben dergleichen Episoden auf das im immobilismo politico verstrickte Italien beschränkt? Deuten sie möglicherweise auf eine politisch soziale Aufbruchstimmung (ausgehend vom arabischen Frühling) im Mittelmeerraum hin? Diese und ähnliche Fragen möchte ich offen lassen.

Prof. Jörg Senf
Università di Roma “Sapienza”
Facoltà di Scienze Politiche, Sociologia, Comunicazione
Dipartimento di Studi Politici
P.le Aldo Moro 5 – 00185 Roma
E-Mail: jorg.senf@uniroma1.it

21.2.2011 – Grußwort von Professor Dr. Andreas Schlüter

Grußwort von Professor Dr. Andreas Schlüter, Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft
aus Anlass der Präsentation der Edition „Deutsch-jüdische Autoren im 19. Jahrhundert. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft“ – 21. Februar 2011 in der „Alten Synagoge“, Haus Jüdischer Kultur, Essen

 

Sehr verehrte Frau Minsterin, sehr geehrter Herr Professor Brocke, sehr geehrter Herr Professor Jäger, sehr geehrter Herr Dr. Paul, meine Damen und Herren, 

als der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft am 4. Oktober 2006 dem Salomon Ludwig Steinheim Institut an der Universität Duisburg-Essen in einem Bewilligungsbescheid mitteilte, eine Anschubfinanzierung für das Vorhaben „Staat, Nation, Gesellschaft – Jüdische Autoren zum Projekt der Aufklärung“ – wie es damals im Antrag hieß – zu bewilligen, stand uns sicherlich nicht vor Augen, heute an diesem angemessenen Ort und in diesem Rahmen an der Präsentation der Arbeitsergebnisse beteiligt zu werden.

Es ist eines der eher seltenen Ereignisse, in denen sich Projekte der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung einer größeren Öffentlichkeit zeigen und so auf ihre Leistungen aufmerksam machen. Ich freue mich, dass dies in dieser Form geschieht. Hier geht es ja auch darum, die von Gershom Scholem behauptete und vehement verfochtene Dialogverweigerung in Deutschland gegenüber seiner jüdischen Minderheit zu überwinden. ((vgl. Scholem, Gershom, Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. Offener Brief an Manfred Schlösser, den Herausgeber von „Auf gespaltenem Pfad. Zum neunzigsten Geburtstag von Margarete Susman“. Jerusalem, den 18. Dezember 1962, in: Bulletin des Leo Baeck Institute 7 (1964), S. 278-281, und in: Scholem, Gershom, Judaica II, Frankfurt a. M. 1970, S. 7-12.)) Und auch deshalb habe ich es gern übernommen, dieses Fördervorhaben im Kontext heutiger privater Wissenschaftsförderung zu verorten. „21.2.2011 – Grußwort von Professor Dr. Andreas Schlüter“ weiterlesen

Loveparade: Falsche Fragen und Realitätsverweigerung

Über zwei Monate nach der Loveparade ist die Duisburger Stadtspitze immer noch nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Autor: Herbert Marschall

Hinweis:

Wenn in diesem Beitrag die Leitung der Kulturhauptstadt Ruhr 2010, Veranstalter Lopavent, Polizei und Bundespolizei, Landesregierung, Aurelis etc. nicht oder nur am Rande vorkommen, so soll damit nichts darüber ausgesagt werden, ob und wenn ja, welche Mitverantwortung sie an der Katastrophe bei der Loveparade dieses Jahres haben. Dieser Beitrag wird auch weder auf den genauen Ablauf der Loveparade eingehen, noch eine Aussage darüber wagen, wer letzten Endes das Ereignis vor Ort ausgelöst hat, welches zur Katastrophe führte. Dieser Beitrag ist das Ergebnis des Versuches, zu verstehen, wieso Bedingungen zugelassen wurden, welche diese Katastrophe möglich gemacht haben.

Der Skeptiker ist eine Person, die in der Philosophie als Advocatus Diaboli benutzt wird, um gewisse Fragen der Erkenntnistheorie auf den Punkt zu bringen. Auch wenn man wenig Chancen hat, die Behauptung des Skeptikers – die Welt könnte nur ein Traum sein und man könnte sich alles nur einbilden – zu widerlegen, in der Praxis taugt die Realitätsverweigerung des Skeptikers nichts. Mit einer solchen Haltung lassen sich auch die Welt als Ganzes weg erklären, die Erde als eine Scheibe ansehen oder – wie seit über zwei Monaten in Duisburg – die Mitverantwortung für eine Katastrophe von sich wegschieben.

Gruppenzwang und Selbstüberschätzung

In seinem Buch „Die Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“ beschreibt Dietrich Dörner, inzwischen emeritierter Professor der Theoretischen Psychologie, den Reaktorunfall von Tschernobyl: „Das Unglück von Tschernobyl ist, wenn man die unmittelbaren Ursachen betrachtet, zu hundert Prozent auf psychologische Faktoren zurückzuführen.“ ((Dietrich Dörner: Die Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen Hamburg 1992, S. 48))

Die Instabilität des Systems ist nach seiner Analyse durch ein Fehlverhalten des Teams herbeigeführt worden, welches unter Zeitdruck und Erfolgszwang stand, Sicherheitsvorschriften verletzte und sich gleichzeitig in einer hohen Selbstsicherheit wiegte: „Man glaubte zu wissen, womit man zu rechnen hatte, und man glaubte sich vermutlich auch erhaben über die ‚lächerlichen‘ Sicherheitsvorschriften“. „Die Tendenz einer Gruppe von Fachleuten, sich selbst zu bestätigen, alles richtig und gut zu machen, Kritik in der Gruppe implizit durch Konformitätsdruck zu unterbinden“, ist „die Gefahr des ‚groupthink‘ bei politischen Entscheidungsteams“ ((Dörner zitiert Janis, 1972)). Auch in Duisburg war dieser Druck durch die Landesregierung, durch das Management der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 und durch selbstgemachten Ehrgeiz enorm.

Der „Groupthink“, die Wegrationalisierung von Bedenken, die Selbstzensur zur Herstellung einer Gruppenkonformität, die Überzeugung, alles richtig zu machen bzw. richtig gemacht zu haben sowie der Verzicht auf die Betrachtung von Handlungsalternativen ((Siehe ebenda, Abb. 16 und Text, beide S. 55)), sind genau die Merkmale, welche man auch im Zusammenhang mit der Loveparade bei der Duisburger Stadtspitze beobachten kann. Die Reaktion von Oberbürgermeister Sauerland auf die Meldung der ersten Toten war, dass er das Unglück den Betroffenen selbst in die Schuhe schieben wollte. Nicht der Veranstalter oder die Stadt hätten irgendwelche Fehler gemacht, sondern die jungen Leute selbst sollen aus der Reihe getanzt sein und sich durch die Kletterei an der Treppe und an dem Beleuchtungsgerüst in die gefährliche Situation gebracht haben. „Loveparade: Falsche Fragen und Realitätsverweigerung“ weiterlesen

Thesenpapier zur Rolle der Medien im Integrationsprozeß

Der folgende Text bildete die Grundlage für ein Impulsreferat bei der Eröffnung der Duisburger Interkulturellen Woche am 21.9.2010 in der „Black Box“ des „Kleinen Prinzen“. Die anschließende Podiumsdiskussion relativierte und/oder bestritt die vorgetragenen Thesen zum Teil heftig, allen voran der Stellvertretende Chefredakteur der WAZ, Wilhelm Klümper, der Gutmenschentum, 1968 und Political Correctness in seinen Redebeiträgen deutlich kritisierte. Das Podium war nahezu ausschließlich von lokalen Journalistinnen besetzt.

(Den Bericht auf dem Portal der WAZ-Mediengruppe Der Westen über die Veranstaltung finden Sie hier: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/Medienberichte-schueren-oft-Rassismus-id3745341.html)

Die Rolle der Medien im Integrationsprozess
(Thema der Eröffnungsveranstaltung)

Thesenpapier zur Podiumsdiskussion am 21.9.10 in Duisburg

Autor: Siegfried Jäger

Vorbemerkung:

Meine folgenden knappen Thesen, um die mich die Veranstalter zur Einstimmung gebeten haben, stützen sich auf empirische wissenschaftliche Diskurs-Analysen der Medien zum Thema Einwanderung, Flucht und Asyl wie sie von mir und anderen im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und andernorts seit etwa 1985 durchgeführt worden sind. Diese Thesen bringen auf den Punkt, welche Meinungen zu dieser Thematik in zentralen Medien in Deutschland geäußert worden sind.

Zu diesem Stichwort, also zu Meinung, möchte ich eine These voranschicken, ehe ich mich auf die Stichwörter beziehe, die mir von den Veranstaltern vorgegeben worden sind.

In Artikel 5, Absatz 1 des GG heißt es:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten … Eine Zensur findet nicht statt.

Im 2. Absatz heißt es aber: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze ..“

Bei den Grundrechten heißt es, ich erinnere: 1. Die Würde des Menschen ist unantastbar…. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Auf diesem Hintergrund ist auch die Presse und Meinungsfreiheit zu verstehen. Sie ist also nicht absolut frei, wie häufig behauptet wird: Sie findet ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Diese Schranken werden von den Medien oftmals nicht eingehalten, insbesondere wenn es um den sog. Integrationsprozess geht.

1. Erscheinungsbild von Migrantinnen und Migranten in den Medien

Ich komme nun zur ersten These, Stichwort Erscheinungsbild von Migrantinnen und Migranten in den Medien.

In den Printmedien, aber nicht nur dort, werden Einwanderer und Einwanderinnen, oftmals diskriminiert und rassistisch ausgegrenzt. Wegen des großen Einflusses auf das Bewusstsein der breiten Masse der Bevölkerung, kann man insofern sagen, dass es in Deutschland neben einer ethisch und grundgesetzlich verantwortlichen Meinungs- und Pressefreiheit auch eine ethisch nicht zu verantwortende Meinungs- und Pressefreiheit gibt.

2. Beitrag der Medien zur Normalität/Nichtnormalität

Die Medien tragen erheblich dazu bei, in unserer Gesellschaft für die Unterscheidung von Normalität und Nichtnormalität zu sorgen. Doch auch das ist zwiespältig. Denn als normal wird in den Medien oftmals auch das dargestellt, was rassistisch und nicht rassistisch ist. So wird z.B. behauptet, dass es so etwas wie einen „demokratischen Rassismus“ gebe, Rassismus also in gewisser Weise zur Normalität gehöre. Das mag zwar, statistisch gesehen, stimmen. Das kann man jedoch angesichts der Tausenden von rassistisch motivierten Gewalttaten und Brandanschlägen und mehr als 100 Todesopfern rassistischer Verbrechen seit 1990 nicht als normal und demokratisch bezeichnen.

Denn solche Verbrechen sind gewiss nicht normal im Sinne von menschenfreundlich. Da Rassismus aber auch von den Medien geschürt wird, lässt sich schließen, dass die Medien auch zur Nichtnormalität in unserer Gesellschaft beitragen.

3. Islamdiskurs (Transport von Vorurteilen)

Der mediale Islamdiskurs ist ein Teil des menschenverachtenden rassistisch getönten Einwanderungs-Diskurses. Er betont besonders nur einen Aspekt dieses Diskurses, nämlich die religiöse Komponente, verzichtet aber auch nicht auf sonstige, im rassistischen Diskurs vorhandene Diskriminierungen und Ausgrenzungsargumente.

4. Überhöhung in positiven/negativen Sinn

Ich nenne dazu nur ein Beispiel, den Kriminalitätsdiskurs in den Medien: Hier werden Straftaten von EinwanderInnen oft mit der Herkunft der Täter in Verbindung gebracht, auch wenn sie damit überhaupt nichts zu tun haben. Ferner werden die Straftaten von Einwanderern deutlich drastischer dargestellt als die von deutschen Straftätern. Es handelt sich also signifikant häufig um negative Überhöhungen und um völlig unzulässige Assoziationen von Herkunft und Straftat.

5. Rolle/Verantwortung der Medien

Zur Rolle und Verantwortung der Medien habe ich einleitend aus dem GG zitiert. Ich vertiefe das nur noch ein wenig, indem ich mich auf auf eine Aussage des Bundesverfassungsgerichts beziehe (7/198/2008), in der es heißt: „… das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (ist) eines der vornehmsten Menschenrechte … und für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, weil es erst die ständige geistige Auseinandersetzung, das Lebenselement der Demokratie, ermöglicht.“

Ich erinnere jedoch: Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze …“ In Artikel 3, Absatz 3 aber heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Wobei der Begriff Rasse eigentlich nicht mehr ins Grundgesetz gehört, denn es ist erwiesen, dass es menschliche Rassen nicht gibt.

6. Frage: Wer transportiert was?

Das Thema „Wer transportiert was? Ist so etwas vage formuliert. Ich gehe einmal davon aus, dass damit gemeint ist, welchen positiven oder negativen Beitrag die Medien, alle Medien, für die Aufnahme von Einwanderinnen und Einwanderern in unsere Gesellschaft leisten. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass die Medien mehr oder minder uni sono unkritisch und weiter diskriminierend und rassistisch die Vorgaben der Regierungen zur Einwanderungspolitik in die Bevölkerung hinein transportieren. Diese Vorgaben sind jedoch im Resultat dafür verantwortlich, dass die Aufnahme von Einwanderern und Einwanderinnen in unsere Gesellschaft so schleppend und oftmals undemokratisch verläuft. Dominant sind dabei Kosten-Nutzenkalküle und nicht die Allgemeinen Menschenrechte, auf die sich das Grundgesetz immer noch stützt. Insgesamt kann man sagen, wie dies der freie Journalist Tom Schimmeck in seinem soeben erschienenen Buch behauptet, dass die Medien „kleinmütig und heruntergekommen“ sind und das bedeute, völlig unkritisch gegenüber der herrschenden Politik. Es herrsche nur das „Phantom der Pressefreiheit“.

7. Beitrag zur friedlichen Gesellschaft

Der Beitrag der Medien zur friedlichen Gesellschaft ist demnach, was das Thema Einwanderung betrifft, unterm Strich eher als eher kontraproduktiv einzuschätzen. Da sie aber zur großen „Verdummung“ der Bevölkerung beitragen, kann man vielleicht auch sagen, dass sie insgesamt zu einer politisch aphatischen Gesellschaft beitragen.

8. Manipulation

Abschließend das Thema „Manipulation“ durch Medien! Günter Wallraff glaubt feststellen zu können, dass die Medien, insbesondere BILD, nicht mehr so stark manipulieren wie in den 60er Jahren, was Fälschung und Verzerrung von Statistiken und offene Lügen angeht.

Da mag Günter Wallraff Recht haben. Durch die ständige Wiederholung von Stereotypen und Vorurteilen tragen sie jedoch erheblich dazu bei, dass sich in den Köpfen der Menschen Vorurteile verfestigen, wie sie natürlich mit dem Grundgesetz und den Allgemeinen Menschenrechten nicht zu vereinbaren sind.

Literatur:

Siegfried Jäger/Dirk Halm (Hg,): Mediale Barrieren. Rassismus als Integrationshindernis, Münster (Unrast), 2007 Margret Jäger/Gabriele Cleve/Ina Ruth/Siegfried Jäger: Von deutschen Einzeltätern und ausländischen Banden, Duisburg (DISS), 1998 Website des Projekts „Migration, Integration und Medien

DESPERATE – Der Tod kam, bevor Menschen starben

Duisburg wollte die Loveparade – es gab einen Beschluss des Rates der Stadt und dieser wurde unter der Verantwortung von Oberbürgermeister Adolf Sauerland letztlich unterschrieben.

Der Veranstalter wollte die Loveparade. Rainer Schaller, alleiniger Gesellschafter der Lopavent GmbH machte die Loveparade zum Marketinginstrument seiner Fitnessstudio-Kette McFit.

Die Landesregierung wollte die Loveparade – Jürgen Rüttgers und Hannelore Kraft setzten sich dafür ein.

Die Kulturhauptstadt wollte die Loveparade in Duisburg – Fritz Pleitgen sah die positive Ausstrahlung für die Ruhrstadt.

Die Loveparade sollte die größte Veranstaltung im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 sein, für Europa, Deutschland, NRW, das Ruhrgebiet und für Duisburg. Geld dafür gab es nicht aus dem Topf Kulturhauptstadt. Duisburg wurde mit seinen Ravern allein gelassen.

Und in den Medien wurde begeistert die Werbetrommel gerührt.

In Duisburg gibt es einen alten Güterbahnhof. Der kann schwerlich als ein sicheres, gut begehbares Gelände bezeichnet werden, auch nicht, nachdem einige Tonnen Schotter ausgeschüttet und plattgeklopft, die Schienen gesichert und die Fenster der alten Halle eh schon fast keine Glasscheiben mehr hatten.

Kosten durfte das ganze wenig, bringen sollte es viel. Hätte man die Bevölkerung der angrenzenden Stadtteile und die Leute gefragt, die das Gelände von eigenen Ausflügen kennen, so hätte man schwerlich Begeisterung über den Plan festgestellt. Über einen Plan, der schwer durchschaubar war und bleibt.

Foto: Tunnel Karl-Lehr-Str. 27.7.2010
Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010: "Berlin = Love / Duisburg = Kommerz, Finanzieller Gewinn, 19 Tote..."

Zwar hieß es früh, die Loveparade fände auf dem geschlossenen Gelände des alten Bahnhofs statt. Es gab auch das Gerücht, die A 40 werde für die Floats bereit stehen. Im Internet war ein Streckenverlauf zu sehen, auf dem eine Route durch die Innenstadt eingezeichnet war – deutbar war dieser Plan als Plan für den Verlauf der Parade. Dann gab es wieder die Meldung, dass die Parade nur auf dem abgeschlossenen Gelände stattfände. Noch am Abend vorher gab ein Floatbesitzer zu verstehen, es gingen Floats durch die Stadt. Die Polizei gab während der Feier die Auskunft, die Parade sei nur im Gelände des alten Güterbahnhofs. Gegen 15.15 Uhr fuhr ein Float in Polizeibegleitung die Friedrich-Wilhelm-Straße herunter bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz und wurde dort von einer jubelnden Menge umlagert.

Es habe deutliche Sicherheitsbedenken gegeben, von der Polizei, von der Feuerwehr, diese seien in Gutachten formuliert und den Verantwortlichen vorgelegt worden. Weder die Stadt, noch der Veranstalter Rainer Schaller hätten darauf angemessen reagiert. Sicherheitsvorschriften seien umgangen, mit Sondergenehmigungen abgeändert und auch schlicht nicht eingehalten worden. Und trotzdem fand sie statt – die Loveparade -und alle, alle kamen:

Der Veranstalter, die Polizei und die Stadtspitze und die 250.000 Besucher, für die das Gelände frei gegeben war und die ca. 1,2 Millionen, für die kein Platz auf dem Gelände vorgesehen war (105.000 kamen offenbar mit der Bahn und die Zahl der verkauften Tickets ist zurzeit die einzige Zahl auf die objektiv zurückgegriffen werden kann – Offenbar liegen weder Auswertungen von Zählungen der Fußgängerströme, der Kraftfahrzeuge, der Busse, der Radfahrern etc. vor – Luftbilderauswertungen sind bis heute nicht bekannt).

Richtungsweisend ist jedoch, dass auf den letzten Loveparade-Veranstaltungen in anderen Städten mehr als 1,3 Millionen Menschen waren – und auch das Event „Still-Leben“ auf der A-40 am 18. Juli 2010 hatte mit ca. 3 Mio. Besuchern mehr Interessierte als erwartet. Der Unterschied war: Es ging gut – es gab 60 km Autobahn, Auf- und Abfahrten, Zugänge und nur Leitplanken, über die man gut springen und sich ins Umland hätte retten können, wäre dies denn notwendig gewesen.

Foto: Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010
Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010: "Das konservative Bürgertum hat die Subkultur, aus der die Loveparade entstanden ist, zu keiner Zeit akzeptieren, geschweige denn verstehen wollen."

Verfolgte die Loveparade bei ihrer Gründung keine kommerziellen oder prestige-geleiteten Ideen, so bildet sie im Jahre 2010 mit ihren Profit- und Marketinginteressen einen Teil der viel zitierten Dienstleistungsgesellschaft.

Die Situation stellt sich dar wie folgt. Duisburg lädt ein zu einer Loveparade. Das ist ein Musikfestival mit sog. Floats, das sind riesige Lastwagen, die bis zu 200 Raver fassen, die auf den Wagen tanzen zu den Tönen, die verschiedene gefeierte DJs auflegen. Die Musik ist nicht jedermanns Sache; doch welche Musik ist das schon? Fest steht jedoch, dass man auf Techno gut tanzen kann. Viele Menschen verkleiden sich, es wird Alkohol getrunken und es werden auch Drogen genommen.

Es wird viel geredet über die Menschen, die auf diese größte Party der Welt gehen. Sie sind eher jung, jedoch nicht alle – wir waren z.B. auch da – manche sagen, sie sind dumpf, sogar dumm, enthemmt, lüstern, gewalttätig etc. Auf jeden Fall machen sie Dreck und irgendwo in einer anderen Stadt haben sie angeblich in einem Park alle Bäume und Pflanzen tot gepinkelt. Deshalb haben wir in Duisburg viele Reihen Dixi-Klos, den Kant-Park haben wir sicherheitshalber gesperrt und in Folie gepackt, damit ihn keiner sieht. Der Besitzstand der bedrohten Bürgerinnen und Bürger wird gewahrt, indem die Feiernden – fein eingezäunt nach links und rechts – durch von der Polizei bediente Schleusen geleitet werden, damit sie nicht ins offene Terrain ausbrechen und die Landschaft verunstalten können. Kleinbürgerliche Konzepte lassen kein freies Denken, Handeln und auch keine freie Bewegung zu; Profit- und Prestigedenken aber lassen sie zu – und ebenso Besitzstandswahrung in jeder Beziehung.

Eine alte Dame spricht zu ihrem Mann: „Da kannst du nichts mehr zu sagen.“ Er sagt auch gar nichts. er schaut nur interessiert einer aufreizend angezogenen Raverin hinterher.

Und die Dienstleistung? Der Platz liegt ca. 300 Meter weg vom Bahnhof. Die Leute werden jedoch auf vorgezeichneten Wegen ca. 2 Kilometer durch die Stadt geleitet – östlich und westlich vom Bahnhof. Ich sehe keine Hinweisschilder, jeder folgt dem anderen in die Bewegungsrichtung des unüberschaubaren Menschenstroms. Einige Fressbuden bieten ihre Dinge an. Aus einem Polizeiwagen dröhnt ein Megaphon – zu verstehen ist kein Wort. Warum eigentlich nicht?

Denn Musik gibt es nicht; es gibt keine Großbildschirme (bei der WM hatten wir doch genug), es gibt keine Lautsprecher aus denen Techno tönt, es gibt keine Bühnen, auf denen Musik gemacht wird und – es gibt keine Floats (bis auf den einen, eben erwähnten – später).

Doch die Leute sind noch ganz gut drauf und feiern sich selbst mit Freunden, mit Fremden, mit den Leuten, die aus den Fenstern hängen und Party in der eigenen Wohnung machen. Dann wird es eng und enger. Am Polizeipräsidium sehen die Einsatzkräfte noch ganz entspannt aus. Erste Schleusen werden geschlossen – man verengt, wie ein Beamter erklärt. Warum die Leute denn jetzt alle hier stehen, wird gefragt. Weil es hier so schön ist, lautet die polizeiliche Antwort. Mit den Polizeikräften über die Lage in der Stadt, über Wege und Anreisen zu sprechen ist hoffnungslos. Es kommen Antworten wie: „Ich hab keine Ahnung“; „ich bin nicht von hier“; „die Straße kenne ich nicht“ oder „ich hab doch keine Zeit, Wege zu erklären“.

Es verdichtet sich mehr und mehr. Leute sind auf die Straßenbahnhäuschen, auf Laternen, Lampen, Verteilerhäuschen, Hausdächer, Imbissbuden geklettert. Um besser sehen zu können. Was? Es passiert nichts, keine Musik, keine Floats und – keine Bewegung mehr. Es ist 15 Uhr und links geht es in den Tunnel an der Karl-Lehr-Straße.

Wir drehen um. Wir sind verabredet um 17 Uhr in der Altstadt. Durch Seitenstraßen gehen wir heim. Mit uns sind tausende Menschen, die alle in die falsche Richtung laufen, enttäuscht, fragend, suchend. Telefonisch teilen sie Freunden mit: „Ich bin in Duisburg, auf einer Polizeiparade.“ Oder: „Wir sind 2,5 Stunden gefahren, dann fahren wir eben wieder nach Hause – hier ist ja sonst gar nichts los.“ Oder: „Wo ist denn das Gelände?“ Oder: „Gibt es einen Plan?“

Ja, wie war das gleich mit dem Plan?

Auf dem Boden kleben nun schon viele Sticker: Dance or die! Get no sleep!

Das sind die Slogans der Loveparade – die sich auf verhängnisvolle Weise verwirklichten.

Gegen 17 Uhr brach im Tunnel auf der Karl-Lehr-Straße eine Massenpanik aus – in dem Tunnel, der als einzige Zugangsmöglichkeit zum Festival-Gelände geöffnet war. Jedenfalls als einzige Zugangsmöglichkeit für die Gäste – der VIP-Eingang war in Bahnhofnähe – von der A 59 gab es großzügige Zugangsmöglichkeiten – doch die waren gesperrt – für den Notfall, wie die Notfalltüren. Notfallwege im Tunnel, eine Regulierung der ankommenden und das Gelände verlassenden Besucherströme, Überwachungskameras und genug Luft gab es im Tunnel nicht.

Das Desaster war vorprogrammiert und – ich kann es immer noch nicht wirklich glauben – es gab nur diesen einen Tunnel – Gelber Bogen genannt – der zum Festivalgelände führte. Ein Tunnel, 40 m breit und 200 m lang, der schon an normalen Tagen irgendwie gruselig ist, voll gedrängt mit Menschen, die in alle Richtungen drängen, deren Zugang – aus welchen Gründen auch immer – nun nicht mehr kontrolliert wird; ein Nadelöhr wird zur Todesfalle.

16 Menschen sterben vor Ort, 21 bis jetzt, über 500 werden verletzt. Es spielen sich unglaubliche Szenen ab (es gibt Videos im Netz, welche in keiner Nachrichtensendung liefen). Die Toten werden unter Planen gestapelt. Schuldzuweisungen zerreißen die politische Landschaft, Verschleierung herrscht neben blindem Aktionismus.

Die Loveparade glich einem Viehtransport. Nicht stärker hätte die Zielgruppe diskriminiert und degradiert werden können, nicht stärker hätte bewusste Fehlinformation stattfinden können und nicht geschickter hätte die Zielgruppe um ihr eigentliches Vergnügen gebracht werden können. In der Hoffnung, dass die Menschen das Festivalgelände nicht erreichen, weil sie schon zu müde oder zu betrunken sind oder weil sie etwas anderes abgelenkt hat, wurden sie durch die Stadt geschleust. Nicht ernstgenommen wurden sie, menschenverachtend behandelt. Dies wäre niemals bei einer Sportveranstaltung in Duisburg mit internationalem Flair passiert – und, dies wäre auch nicht bei einem Karnevalsumzug passiert.

In Duisburg kam der Tod schon, bevor Menschen starben. Der Tod eines Traumes, eines Konzeptes von Freiheit, Feier und Liebe. Der Tod der Dienstleistung, der Tod der Kulturhauptstadt, der Verantwortung und der Tod des Ernstnehmens der Zielgruppe, für die man arbeitet – und daran haben alle mitgewirkt:

Der Veranstalter, die Stadtverwaltung und die Polizei und auch die Medien.

Entschuldigungen und Ausreden sind nicht möglich. Es ist vorbei und nicht wieder gut zu machen – nirgendwo, zu keiner Zeit und mit keinen verfügbaren Mitteln.

Liz Henry

Fratzen des Antisemitismus

Facebook-NutzerInnen propagieren radikale Judenfeindschaft auf neuem Niveau

Autor: Jonathan Messer

Die Meldung war am 31. Mai kaum aus dem Nachrichtenticker, da kommentierten eifrige Facebook-NutzerInnen schon den israelischen Militäreinsatz gegen eine Schiffsflotte mit Hilfsgütern für den abgeriegelten Gaza-Streifen. Dass ein politisches Ereignis in die Aufmerksamkeitssphäre des interaktiven „sozialen Netzwerkes“ gerät, ist schon eine Besonderheit. Zu Selbstbezüglich agieren solche Gruppen sonst. Dieses mal jedoch gab es kein Halten mehr – schließlich ging es um Israel. Und so verschlug es selbst den hartgesottenen LeserInnen den Atem, was dort auf den persönlichen Profilen der NutzerInnen gepostet wurde.

Großer Beliebtheit erfreuten sich krude und verfälschte Hitler-Zitate. Dazu kamen unzählige weitere Referenzen, die keinen Hehl daraus machten, dass es der einzige Fehler Hitlers war, nicht alle Juden umgebracht zu haben. Das alles passte gut zur Überzeugung mancher NutzerInnen, dass der Holocaust sicher keine unbegründete Sache gewesen sei, wie man an den aktuellen Ereignissen sehen könne, und er es im Grunde verdiene, fortgeführt zu werden. ((Ich verzichte bewusst auf eine Zitation und Verlinkung der Aussagen, da ich ansonsten direkt auf die Profile der NutzerInnen verweisen würde. Wer dennoch die Originalzitate haben möchte, kann sie beim Autor anfragen.)) Solch‘ unverblümte Affirmation von offenem Vernichtungsantisemitismus würde an sich reichen, um vor Scham den Browser zu schließen. Es grenzt so schon ans Unerträgliche. Doch wenn es um Israel und Juden geht – das ist für die alle ProtagonistInnnen der Hetze selbstredend dasselbe –, kennt der Wahnsinn keine Grenzen. In muskelbetonter Pose, lockerem Outfit oder flankiert vom Hochzeitsbild geben die selbsterklärten ExpertInnen für Nahostpolitik ihre Judenfeindschaft zum Besten.

Auch das ansonsten sehr beliebte Anonymisieren durch Nicknames ist deshalb nicht nötig: man bürgt mit seinem Namen. Die Datenschutzpolitik von Facebook, welche in den letzten Jahren immer mehr in die Kritik geraten ist, tut hier ihr übriges, um die Postings öffentlich zu machen. ((Mehr Kontrolle übers eigene Profil, 27.5.2010 http://www.taz.de/1/netz/netzkultur/artikel/1/mehr-kontrolle-bei-persoenlichen-daten/)) Viele NutzerInnen werden nicht wissen, dass ihr Profil auch von Nicht-Mitgliedern einsehbar ist und nicht nur „Freunde“ die Postings lesen können. So reicht ein Sucheintrag auf der Seite youropenbook, um die judenfeindlichen Äußerungen auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.

Blanker Hass scheint in Teilen der Facebook-Gemeinschaft kein Tabu mehr zu sein – bewusst und offen verschafft man seinem Vernichtungswunsch Luft. Auch aktuell reißt die Flut an antisemitischen Postings nicht ab – davon kann man sich leicht im Netz überzeugen. Mittlerweile – nachdem unter anderem der österreichische Standard ((Gaza-Hilfsflotte: User toben sich auf Facebook antisemitisch aus, 01. Juni 2010 http://derstandard.at/1271377916109/Gaza-Hilfsflotte-User-toben-sich-auf-Facebook-antisemitisch-aus)) über die Vorfälle berichtete – mehrt sich jedoch auch die Gegenwehr anderer NutzerInnen, die sich mit der Hetze nicht abfinden wollen. Doch als Mittel stehen ihnen kaum mehr als Gegenpostings und Löschanträge ((Löschanträge müssen auf Facebook für jeden einzelnen Eintrag (!) verfasst werden.)) zur Verfügung, die anschließend von den Betreibern geprüft werden. Ein insgesamt zeitaufwändiges und mühseliges Verfahren, denn für beständigen Nachschub an Einträgen scheint gesorgt zu sein. Die Aussicht auf Erfolg ist klein. Und so wird sich das perpetuum mobile auf Facebook weiter drehen, zumal vermehrt antiarabische und antiislamische Postings als Kritik am Antisemitismus missverstanden werden.

Die aktuellen judenfeindlichen Auswüchse sind nicht als isoliertes Phänomen misszuverstehen. Insgesamt scheint es sich um eine Entgrenzung des Antisemitismus im Netz zu handeln. Dafür spricht auch, dass angesichts der Finanzkrise im Jahr 2008 „jüdische Spekulanten“ in zahlreichen Internetforen als Verantwortliche für den Crash ausgemacht wurden. ((vgl. DISS-Journal 18, 7 http://www.diss-duisburg.de/DISS-Journale/diss-journal-18-2009.pdf)) Und auch im Zuge der israelischen Katastrophenhilfe für die Erdbebenopfer auf Haiti kursierte das Gerücht, jüdische Ärzte würden dort den Opfern Organe für den israelischen Schwarzmarkt entnehmen ((Haiti und das antisemitische Nachbeben im Web http://www.hagalil.com/archiv/2010/01/20/haiti-2/)). Das alles sind modernisierte Remakes klassischer antisemitischer Klischees, die auch in Zukunft das Internet zu genüge bevölkern werden.