Fatale Effekte des V-Leute-Unwesens

Die Studie des DISS zu den V-Leuten in der NPD aus dem Jahr 2002 kam zu dem Schluß, es sei an der Zeit das V-Mann-Unwesen endlich vollständig zu beenden und die Geheimdienste der Bundesrepublik einer wirksamen demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Sie warnte aber auch vor Verschwörungsmythen, die die Organisationen und die Gewalttäter der extremen Rechten zu bloßen Marionetten geheimdienstlicher Machenschaften umdeuten.

Wir präsentieren hier noch einmal Auszüge aus dem Fazit der damaligen Studie und plädieren dafür, auch im aktuellen Fall in Bezug auf Verschwörungsmythen einen kritischen, kühlen Kopf zu bewahren. Die vollständige Studie können Sie hier als PDF-Datei abrufen: V-Leute bei der NPD. Geführte Füh­rende oder Füh­rende Geführte?

 

Fatale Effekte

Das Thema V–Leute in Organisationen der extremen Rechten ist alles andere als neu. Wie wir bereits schilderten, erinnerten sich Frenz und Kameraden von der DRP anlässlich ihrer Kontaktaufnahme mit dem Verfassungsschutz daran, dass sich die NSDAP in den dreißiger Jahren V–Männern bediente, um die Parteikasse zu füllen. Diese Traditionslinie ließe sich noch weiter zurückverlängern. Auch Adolf Hitler begann seine politische Karriere als bezahlter V–Mann. Hitler besuchte im September 1919 mit Bespitzelungsauftrag eine Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), der Vorläuferorganisation der NSDAP, und er trat bald darauf mit Auftrag in die DAP ein. Die Geschichte der NSDAP begann also mit einem V–Mann. Übrigens hatte dieser V–Mann-Einsatz noch eine Schlusspointe, denn Hauptmann Karl Mayr, der damals ein Parteigänger der extremen konterrevolutionären Rechten war und Hitler ‚führte‘, wandelte sich später zum Kritiker Hitlers, trat dem sozialdemokratischen Reichsbanner bei, floh 1933 nach Frankreich, wurde später von den Nazis gefangen und starb 1945 im Konzentrationslager Buchenwald. So wurde er also von den langen Armen seines früheren politischen Ziehkindes eingeholt.

Die historisch belegte V–Mann-Verpflichtung Hitlers ist ein alarmierendes geschichtliches Beispiel für die V–Leute-Problematik insgesamt.

Es wäre aber schon sehr aberwitzig, daraus verschwörungsmythisch in einer platten historischen Analogie zu folgern, die damalige NSDAP und die heutige NPD seien willenlose Marionetten an den Fäden von allmächtigen Geheimdiensten gewesen. Erstens lassen sich Entstehung, Aufstieg und die spätere Politik von Krieg und Vernichtung der Nazis nicht auf einen geheimdienstlichen Auftrag reduzieren. Zweitens ist eine derart zurechtgestutzte historische Analogie nicht als Interpretationsfolie für die hier untersuchten Aktivitäten der V–Leute Frenz und Holtmann geeignet. Sie anzulegen reproduzierte nur die Selbstermächtigungs- und Größenfantasien von Frenz und Kameraden.

Den komplexen Prozessen von Kooperation und Konkurrenz innerhalb einer Partei wie der NPD, ihrer Entwicklung innerhalb der Parteienkonkurrenz mit REPs und DVU und der außerparlamentarischen Rechten und ihrem Durchsetzungsvermögen im Rahmen einer hochkomplexen Gesellschaft und eines pluralen politischen Systems wie denen der Bundesrepublik Deutschland wird ein derartiges Verständnis der Aktivitäten von V–Leuten in der NPD nicht gerecht. Es reduzierte völlig unzulässig die Komplexität sozialer und politischer Prozesse, während es gleichzeitig die Aktivitäten von V–Leuten ins schier Unmögliche aufbauschte.

Vor derartigen Interpretationen, die wir hier – zugegeben in ironischer Überspitzung, doch in Kenntnis dessen, was auf dem besinnungslosen „Sinn“-Markt so feil geboten wird – präventiv simulieren, sei ausdrücklich gewarnt.

Allerdings gehört die Produktion und Reproduktion verschwörungsmythischer Vorstellungen von Macht und Politik, die die gesellschaftlichen Akteure auf bloße Marionetten von hinter den Kulissen agierenden geheimen Mächten reduzieren, bereits zu den fatalen Effekten, die die V–Leute-Praxis zeitigt. Ihre einer Demokratie abträglichen Konsequenzen „Fatale Effekte des V-Leute-Unwesens“ weiterlesen

Zum Thema NPD-Verbot…

…ist längst alles geschrieben und längst alles gesagt, könnte man meinen. Hier ein Kommentar von DISS-Mitarbeiter Martin Dietzsch, der schon dreieinhalb Jahre alt ist, aber auch heute geschrieben worden sein könnte. Der Beitrag erschien zuerst am 21.4.2008 auf der Tagebuch-Seite von diegesellschafter.de.

 

Redaktioneller Vorspann von diegesellschafter.de:

Bei der Innenministerkonferenz in Bad Saarow hatte sich am Donnerstag geklärt, dass es wegen des Widerstands der Unions-Innenminister zunächst keinen neuen Anlauf für ein NPD-Verbot geben wird. Als Haupthindernis erwies sich, dass keine Einigung in der Frage der V-Männer innerhalb der NPD erzielt wurde, berichtet SPIEGEL ONLINE unter der Überschrift »Union würgt NPD-Debatte ab«. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble begründete die Ablehnung mit mangelnden Erfolgschancen eines Verbotsantrags. Gastkommentator Martin Dietzsch plädiert dafür, die Voraussetzung für einen erfolgreichen Verbotsantrag zu schaffen und die aus dem Ruder gelaufene V-Mann Praxis zu beenden.

 

Keine Partei wie jede andere

von Martin Dietzsch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung

Die Innenminister der Länder und des Bundes sind mehrheitlich gegen ein neues NPD-Verbotsverfahren. Das ist nicht überraschend, aber deshalb nicht weniger fatal. Die NPD ist keine Partei wie jede andere. Sie ist auch nicht einfach nur »verfassungsfeindlich«. Sie kombiniert eine geschlossene, menschenverachtende Weltanschauung mit Einschüchterung und Gewalt, und sie nutzt geschickt die Schwächen des demokratischen Staates aus.

Die von ihr ausgehende Gefahr wird immer noch unterschätzt. Es wächst so etwas heran, wie eine moderne NSDAP. Dass sie noch über keine talentierte Führerfigur verfügt und noch weit von den Schalthebeln der Macht entfernt ist, kann nur ein schwacher Trost sein.

Die NPD ist nicht nur verfassungsfeindlich, sondern verfassungswidrig, und man muss dem Bundesverfassungsgericht nur die Chance geben, dies auch in einem Urteil festzustellen. Ein solches Verbot würde das Problem des Rechtsextremismus nicht aus der Welt schaffen. Es würde aber einer auch im europäischen Vergleich ungewöhnlich gewalttätigen und radikalen Variante des Rechtsextremismus die Flügel stutzen und den staatlichen Schutz entziehen.

Erinnern wir uns. 2003 scheiterte der erste Anlauf zu einem NPD-Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Klageschriften führten öffentlich zugängliche Quellen gegen die NPD ins Feld, vor allem Texte, die von der Partei selbst veröffentlicht worden waren. Die Chancen für ein Verbot wurden damals als sehr hoch eingeschätzt. Es stellte sich aber heraus, dass einiges aus diesem Belastungsmaterial von Autoren stammte, die über eine Nebeneinkunft beim Staat verfügten und dass dies dem Gericht vorsätzlich verschwiegen worden war. Das Bundesverfassungsgericht verlangte, ihm gegenüber in Sachen V-Leute mit offenen Karten zu spielen. Dazu war man nicht einmal ansatzweise bereit, und deshalb scheiterte das Verfahren.

Hier ist nicht von Geheimagenten, von verdeckten Ermittlern, oder von Aussteigern die Rede. V-Leute in der NPD und deren Umfeld sind Rechtsextremisten, die Rechtsextremisten bleiben, die die Organisation aktiv aufbauen und vorantreiben, und immer wieder kommt es vor, dass sie auch an schweren Straftaten beteiligt sind. Sie unterscheiden sich von ihren Kameraden nur durch eine kleine Nebeneinkunft. Sie liefern auf konspirativem Wege Spitzelberichte an ihren V-Mann-Führer. Die so erlangten Informationen haben zweifelhafte Qualität, werden von den konkurrierenden Geheimdiensten eifersüchtig gehütet, und sie sind so geheim, dass sie nicht zu einer wirksamen Bekämpfung der NPD verwendet werden können.

Die V-Mann-Dichte in der NPD ist sehr hoch. Jedes von der NPD produzierte Material könnte durch die Mitwirkung von V-Leuten »kontaminiert« sein. Man muss sich das einmal vorstellen: Bei den Bundesvorstandssitzungen der NPD kommen die V-Männer des Bundes und der Länder und der anderen Geheimdienste zusammen, die alle von einander nichts wissen, und schreiben eifrig Spitzelberichte über andere V-Männer. Und das Ganze nutzt der NPD mehr als es ihr schadet. Es sei nur daran erinnert, dass ein gewisser Adolf Hitler seine politische Karriere als V-Mann der Reichswehr begann.

Von einer Kontrolle oder Steuerung der NPD durch die Geheimdienste kann nicht die Rede sein, das gehört ins Reich der Verschwörungsmythen und wird am eifrigsten von der NPD selbst als Schutzbehauptung verwendet, wenn sich mal wieder einer der ihren bei einer schweren Straftat hat erwischen lassen.

Geheimdienste entwickeln immer ein gewisses Eigenleben und werden leicht zum Selbstzweck. Deshalb unterliegen sie auch der demokratischen Kontrolle. Das sollte in demokratischen Staaten jedenfalls so sein. Vielleicht fehlt es ja an tapferen Politikern, die diese unpopuläre Kontrollfunktion auch wirksam ausüben? Liebe Politiker, verschont uns bitte mit weiteren Verbotsdiskussionen, wenn Ihr nicht die den Mut habt, das V-Mann Unwesen einzuschränken!

So wird die NPD also weiter als das gelten, was sie nicht ist: als eine ganz normale Partei. Sie wird gefördert durch staatliche Parteienfinanzierung und V-Mann-Gehälter; Spenden sind steuerlich absetzbar. Sie bemüht die Gerichte, um Aufmärsche und Kundgebungen zu erzwingen und Kritiker mundtot zu machen. Aus Polizeiperspektive werden diejenigen zu »Störern«, die mit bewundernswerter Courage gewaltfrei Neonazi-Aufmärsche blockieren, um denen nicht den öffentlichen Raum zu überlassen. Schlagstöcke und Wasserwerfer gegen Demokraten, damit Neonazis marschieren können.

Herr Biedermann hat die Brandstifter wieder in seinem Dachstuhl einquartiert, und das einzige, was ihn stört, sind die nörgelnden Nachbarn, die etwas von »Feuergefahr« faseln.

V-Leute bei der NPD

Aus aktuellem Anlass machen wir die Studie „V-Leute bei der NPD: Geführte Führende oder Führende Geführte?“ wieder zugänglich, die 2002 im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren von den DISS-Mitarbeitern Martin Dietzsch und Alfred Schobert vorgelegt wurde. Der Text ist leider heute immer noch so aktuell wie damals.

Titelseite der DISS Studie V-Leute bei der NPD

Im August 2002 kamen die Autoren zu dem Schluss:

Eine Analyse der Aktivitäten der V–Leute Holtmann und Frenz ergibt, dass diese nicht als agents provocateurs innerhalb der NPD wirkten. Vollkommen unsinnig wäre es, sogar von einer Steuerung der NPD durch Geheimdienste zu sprechen. Vielmehr verkörperten die beiden exponierten NPD-Funktionäre den Typus des omnimodo facturus, d.h. es handelte sich um Personen, die man zu nichts anstiften kann, weil sie ohnehin zu allem bereit sind. Ihre Aktivitäten deckten sich nahtlos mit dem sonstigen Kurs der Partei, und sie genossen gerade wegen ihrer antisemitischen und rassistischen Hetze über Jahrzehnte das Vertrauen der Partei. Aus diesem Grund kann die V–Mann-Affäre nicht als Argument gegen das lange überfällige Verbot der NPD dienen.

Freilich wirft die Affäre ein düsteres Licht auf die Aktivitäten der Verfassungsschutzämter, insbesondere auf deren V–Mann-Praxis. Diese führte letztendlich dazu, die NPD zu stärken, statt sie zu schwächen, und sie erbrachte geheimdienstliche Informationen, die zuvor von der NPD-Führung gefiltert worden waren und deren Wert auch deshalb mehr als zweifelhaft gewesen sein dürfte.

Es stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist, das V–Mann-Unwesen endlich vollständig zu beenden. Die Affäre ist ein Beleg dafür, dass sich die Geheimdienste der Bundesrepublik Deutschland einer wirksamen demokratischen Kontrolle erfolgreich entziehen.

Die komplette Studie V-Leute bei der NPD können Sie hier als PDF-Datei abrufen.

 

Vortrag: Elias Grünebaum – Glaube, Wahrheit, Wissen

Am 22. September 2011 hielt der Mitarbeiter des DISS, Dr. Jobst Paul, auf Einladung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Landau/Pfalz einen Vortrag zur Bedeutung des Landauer Rabbiners Elias Grünebaum. Grünebaums Sittenlehre des Judenthums erschien in der vom DISS und dem Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte (Essen) gemeinsam herausgegebenen Edition Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Jobst Paul wirkt als Koordinator der Gesamtedition. Nachfolgend finden Sie den Wortlaut des Vortrags.

 

Glaube, Wahrheit, Wissen
Der Landauer Rabbiner Elias Grünebaum (1807- 1893) und der deutsch-jüdische Aufbruch im 19. Jahrhundert.
Landau, 22. September 2011
von Jobst Paul

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Dezember 2007, zum 200. Geburtstag von Rabbiner Grünebaum, referierte Prof. Wilke hier in Landau zu Grünebaums großem Werk, der Sittenlehre. Die Schrift konnte im Jahr 2010 im Rahmen unserer Edition Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts: Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft völlig neu erscheinen, wobei Herr Wilke sein Landauer Referat zur Grundlage der umfangreichen Bandeinführung machte.

Vor 120 Jahren, am 25. September 1893, ist Rabbiner Grünebaum gestorben, und heute soll Gelegenheit sein, ihn und sein Werk in einen größeren Rahmen einzuordnen. In meiner Skizze soll von innerjüdischen Kämpfen um Judentum die Rede sein – dafür steht das Stichwort Glauben. Dann auch vom Kampf gegen Judenfeindschaft und Zurücksetzung – dafür steht das Stichwort Wahrheit. Schließlich von einem deutsch-jüdischen Aufbruch, für den ich das Stichwort Wissen gewählt habe, denn es soll nur am Rand vom bürgerlichen Aufbruch die Rede sein.

Zunächst aber herzliche Grüße von Herrn Prof. Brocke und Herrn Prof. Jäger, mit denen zusammen ich die Edition betreue. Ich danke Ihnen, Herr Dr. Pauly, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, und dem Kulturzentrum sehr herzlich für die freundliche Einladung zu Ihnen und in diese wundervolle Landauer Altstadt – die mich bei der Vorbereitung übrigens sehr beschäftigt hat.

Gilt als Altstadt das Rechteck zwischen König- und Waffenstraße oder der Bereich innerhalb der Ringstraßen, die den Verlauf der alten Festung andeuten? Dort entstand eine repräsentative bürgerliche Architektur, aber die neue Raumordnung ermöglichte ja auch erst – an der Ecke Reiterstraße – den Bau der großen Synagoge, die am 5. September 1884, nicht zuletzt durch Grünebaums Energie, eingeweiht werden konnte – übrigens auf einem von der Stadt kostenlos überlassenen Bauplatz. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Rabbiner Einstein blühte das jüdische Gemeindeleben weiter auf, bis die Entrechtung begann. Im Dezember 1932 feierte Einstein noch seinen 70. Geburtstag. Die Feier wurde von der Elias-Grünebaum-Loge, einem 1926 gegründeten Landauer Sozialverein, ausgerichtet. Wenige Monate nach der Feier wurde der Verein schon per Polizeidekret aufgelöst.

Alteingesessene jüdische Familien haben hier in der Mitte der Altstadt gewohnt. Rabbiner Grünebaum mit seiner Familie soll – so die Auskunft von Herrn Dr. Martin – zuletzt in der Langstraße 11 gewohnt haben – und das später dort eröffnete Gasthaus soll es noch heute geben. Von der Langstraße waren es für Grünebaum nur wenige hundert Meter zur Königstraße 23, der städtischen Höheren Töchterschule, wo er ‚israelitische‘ Religion unterrichtete, wie auch an der Königlichen Studienanstalt in der Waffenstraße. Noch 1886, bei seinem 50jährigem Dienstjubiläum (da war er 79) schenkten ihm Schülerinnen der Töchteranstalt einen Rauchtisch und Schüler der Studienanstalt die Kulturgeschichte der neuesten Zeit des Kulturhistorikers Honegger.

Übrigens: Zwei Jahre später, im Jahr 1888, zog die Töchterschule an den Ort des heutigen Slevogt-Gymnasiums. Die Königliche Studienanstalt hieß ihrerseits bis 1872 Königlich Bayerische Lateinische Schule und stand Ecke Königstraße/Martin Luther-Straße. Sie wurde zum heutigen Eduard Spranger Gymnasium (auch für diese Informationen herzlichen Dank an Herrn Dr. Martin).

Grünebaum war ein Kind der Pfalz und er blieb es. Geboren 1806 in Reipoltskirchen, zieht er mit der verwittweten Mutter 1815 nach Münchweiler an der Alsenz, wo sich diese ein zweites Mal, nun mit Isaak Felsenthal, einem Eisenhändler, vermählt. Offenbar wird Felsenthal zur wirklichen Bezugsperson Grünebaums, denn 1838, nach Antritt seines Landauer Rabbinats, wird Grünebaum ihn öffentlich als „geliebten Vater“ ansprechen. Mainz, Mannheim, Frankfurt, Speyer sind schnell aufeinander folgende schulische Stationen einer Doppelausbildung: Elias absolviert gleichzeitig ein Talmudstudium und die gängige Gymnasialausbildung.

1831 folgt der Sprung hinaus, zuerst an die Universität Bonn mit den Fächern Philosophie und Arabisch, nach 2 Semestern aber schon an die neu eröffnete Modeuniversität in München, mit Friedrich Wilhelm Schelling als Magnet. Viele junge, jüdische Gelehrte zieht es nach der Juli-Revolution 1830 in Paris, die so viele Hoffnungen weckt, dorthin. Aber viel Zerstreuung gibt es für Grünebaum nicht – „Vortrag: Elias Grünebaum – Glaube, Wahrheit, Wissen“ weiterlesen

Regionalstudie zum Novemberpogrom 1938 in Duisburg

Eine Regionalstudie zum Novemberpogrom 1938 in Duisburg wurde von Robin Heun verfasst und ist ab sofort auf der Website des DISS als PDF-Datei abrufbar. Robin Heun studiert in Trier Politikwissenschaft und Geschichte. Er ist Mitglied im AK-Rechts und in der Diskurswerkstatt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS).


Der Novemberpogrom 1938 in Duisburg

Eine Regionalstudie unter besonderer Berücksichtigung der Polizeiberichte vom November 1938

Für zahlreiche Städte wurden in den letzten Jahren Regionalstudien angefertigt, in denen die lokalen Pogromausschreitungen aufgearbeitet, analysiert und rekonstruiert wurden. Für die Ruhrgebietsmetropole Duisburg existiert bisher noch keine vergleichbare Veröffentlichung. Wer sich über die Ereignisse des Pogroms in Duisburg informieren möchte und sich mit den Gedenktafeln, welche an die niedergebrannten Synagogen erinnern, nicht zufrieden gibt, der muss die wenigen Bücher, die sich mit Duisburg in der NS-Zeit beschäftigen, durchforsten und sich selbst auf die Suche nach geeigneten Quellenmaterial begeben. Die vorliegende Studie konzentriert sich daher voll und ganz auf die Ereignisse des Novemberpogroms von 1938 in Duisburg. Die hier gewonnen Erkenntnisse stützen sich zum einem auf den Quellenkorpus der erhalten gebliebenen Polizeiakten des Novembers 1938 (StA Duisburg – 306/253) und zum anderen auf die vorhandene Literatur, die sich mit Duisburg im Nationalsozialismus beschäftigt. Ziel der Studie ist es, alle auffindbaren Informationen zusammenzutragen, die Ereignisse so genau wie möglich zu rekonstruieren und die gewonnenen Erkenntnisse vor dem Hintergrund der aktuellen NS-Forschung zu bewerten bzw. einzuordnen und gegebenenfalls Besonderheiten herauszustellen.

1. Einleitung 1

2. Begriffsbestimmung 2

3. Vorgeschichte: antijüdische Hetze und Politik in Duisburg 3

4. Die Inszenierung des Novemberpogroms 6

5. Der Novemberpogrom in Duisburg 8

5.1 Die Duisburger Polizei erhält Anweisungen… 8

5.2 Ablauf und Bilanz – Täter und Opfer 10

5.3 Pogrom und Öffentlichkeit 15

5.3.1 Zuschauer 15

5.3.2 Zivilcourage und Hilfsleistungen 16

5.3.2 Presse 17

6. Schlussbetrachtung 18

 

Die komplette Studie gibt es hier als PDF-Datei.

Netzfundstück: Darf man lachen?

„Darf man über Nazis lachen?“ lautete die telefonische Anfrage von Spiegel-Online Anfang Juli. Heute erschien nun ein Artikel zum Thema, in dem auch DISS-Mitarbeiter Martin Dietzsch zitiert wird:

Quatsch mit brauner Soße. Humor gegen rechts (Link auf den Artikel bei Spiegel-Online)

Martin Dietzsch kommentierte:

Schade, dass der Spiegel mein Beispiel für eine gelungene Demo-Parole nicht brachte:
„NPD – ohne Verfassungsschutz wär’t ihr nur zu dritt.“
Der Interviewer musste jedenfalls lachen, und die anderen Experten hätten mir doch sicher auch zugestimmt.

Mein Dank für die Inspiration geht an die mir unbekannten zivilgesellschaftlichen Akteure vom Blog „Antifaschistische Nachrichten aus Duisburg und Umgebung“, die u.a. das „Türen raus“ dokumentierten.
Hier die Quelle: Nazischmiererei des Monats

Die Normalisierung des Einsatzes von militärischer Gewalt als Produkt multipler Denormalisierung

Autor: Siegfried Jäger

Normalerweise bedarf es eines längeren und oft Jahrzehnte langen diskursiven Vorlaufs, wenn ein wichtiges Essential der Verfassung gegenstandslos gemacht werden soll, wie etwa der Umbau der Bundeswehr von der Verteidigungsarmee zur Angriffsarmee und ihre Umrüstung zur Kriegsarmee, die für Blitzkriege und kriegerische sogenannte out-of-area-Einsätze aller Art in aller Welt geeignet ist. Bereits im Juli 1992 meinte der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe in einem Spiegel-Gespräch sinngemäß: Schön, dass deutsche Soldaten nun auch als Blauhelme agieren können, was ja ein erster Schritt in Richtung Angriffsarmee sei, der von ihm gewünschte Umbau zu einer Armee, die out-of-area operieren könnte, bedürfe aber eines langen Atems, da die Bevölkerung diese Erblast des Nazireiches nicht so schnell hinzunehmen bereit sei. ((Der Spiegel vom 20.7.1992. Wenig später geht Rühe aber schon einen Schritt weiter: „Ich kann mich bestimmten Maßnahmen nicht verschließen.“ Aber auch noch grundgesetzgemäß: „Für Deutschland bleibt es bei seinen von der Geschichte vorgegebenen Begrenzungen.“ (Der Spiegel vom 21.12.1992) Der Diskurs weicht sich bereits etwas auf, orientiert sich letzten Endes aber noch klar am Grundgesetz. Rühe antizipiert, wie sich der militaristische Diskurs in Deutschland entwickeln wird und sich bis heute auch entwickelt hat. Das ist jedoch nicht der Person Volker Rühes zu „verdanken“, der, wie heute de M., nur Sprachrohr eines politischen Diskurses ist, an dem unter Federführung viele konservative Politiker die gesamte medio-politische Klasse mitstrickt.))

Titelcover Wissenschaft & Frieden 3-2011

Und fast 20 Jahre hat es auch gedauert, bis dieses Ziel nach Durchlauf vieler Etappen und mancher diskursiver Kämpfe auch erreicht wurde. Das ist zwar nicht ohne Qualen und Querelen abgegangen und hat sogar einen Bundespräsidenten das Amt gekostet, doch jetzt, nachdem Köhler auch die ökonomischen Interessen, die mit deutschen Auslandeinsätzen zu wahren seien, ins Feld geführt hatte und deshalb heftigst gescholten wurde und wenig später der amtierende Kriegsminister zu Guttenberg völlig offen und ungeschützt dasselbe sagte und damit völlig ungeschoren davonkam, ohne auch nur ein wenig Qualm oder gar Gegenfeuer zu provozieren, ist die Wahrung deutscher ökonomischer Interessen aus dem Diskurs eliminiert und durch andere, bedeutend „ehren“-vollere konservative deutsche Interessen ersetzt worden, die der Mottenkiste des unseligen deutschen Militarismus von vor 1945 entsprungen zu sein scheinen. Was diesen zwar zu erwartenden, in seiner Konsequenz dennoch überraschenden Diskurswandel ermöglicht oder doch beschleunigt hat, dürfte auch mit der keineswegs bewältigten Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 ff. und anderen Denormalisierungen zu tun haben, primär aber als Effekt einer Verschränkung von militaristischem und ökonomischem Diskurs (und auch anderen Diskursen und manifesten Denormalisierungen) zu verstehen sein. ((Wir haben es mit einem diskursiven Gewimmel zu tun, aus dem heraus sich jedoch dominantere Diskurse herauskristallisieren konnten. Im Endeffekt hat eine Normalisierung eines militanten Kriegsdiskurses stattgefunden. Zum Problem der Normalisierung vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl., Göttingen 2006. Um ein etwas willkürliches Beispiel aus einem schriftstellerischen Diskurs zu nennen, sei auf Martin Walsers Loblied: Schlageter. Eine deutsche Verlegenheit hingewiesen, in: Martin Walser: Heilige Brocken, Weingarten 1986 S. 111-124. Hier wird ein extrem rechter Soldat gefeiert, der „ein Reiner“ gewesen sei. Schlageter spricht vom Krieg als etwas, „in dem Gott die Besten und Tüchtigsten als Opfer fordert.“ (zit. nach ebd. S. 115) Könnte dies de M. als Pflichtlektüre für junge Soldaten vorschweben, als der neue Resonanzboden für ein neues Verständnis von soldatischer Ehre?)) In dieser Situation multipler Denormalisierungen konnte Guttenberg offen verkünden, was wenig zuvor noch nicht ungestraft sagbar war.

Man könnte auch sagen, was Köhler seinen Rücktritt wert war oder ihn den präsidialen Kopf kostete, ist zur alltäglichen Wahrheit oder doch zur Selbstverständlichkeit mutiert, über die kein Hahn mehr kräht. Ist das diskursiver fauler Zauber, der gegen alle Regeln der normalen Überwältigung auch noch grundgesetzlich verankerter und historisch zutiefst begründeter Diskurse verstößt? Wie erklärt sich dieses diskursive Wunder, wie ist dieser ungeheuerliche Normalisierungsschub, der Nicht Normales als völlig normal erscheinen lässt, möglich geworden, den dieses diskursive Ereignis kennzeichnet?

Schauen wir uns zunächst einmal das Personal an, das diesen Normalisierungschub repräsentiert. Da ist zum einen Guttenbergs auf den ersten Blick seriöser auftretender und medial nüchtern agierender Nachfolger, Thomas de Maizière, Sohn des ehemaligen Generalinspektors der Bundeswehr (von 1966-1972) Ulrich de Maizière zu nennen. Dieser hütet sich davor, offen von ökonomischen Interessen zu sprechen. Das muss er auch nicht mehr, denn das ist diskursiv „durch“, Schnee von Gestern und nicht mal mehr ein schlafender Hund, den man nicht wecken sollte. Offenbar schläft dieser Hund nicht nur, sondern er ist mausetot. Es gibt ihn nicht mehr. De Maizière ist zum Sprachrohr eines militaristischen Diskurses geworden, der seit ehedem in konservativen Kreisen rumort, und er konnte zu diesem Sprachrohr werden, weil er nicht wie Guttenberg den eleganten aber unseriös wirkenden Zappelhans spielt, sondern den bedächtigen und abwägenden Rhetor, der das globale deutsche Interesse Deutschlands im Auge hat, und dies ist vor allem ein wirtschaftliches Interesse. Er ist somit nicht der Zauberlehrling, der das Wunder vollbringt, und keine Geister beschwören muss, die er vielleicht nicht mehr los werden kann (wie dies etwa Köhler passiert ist) und der sich auch nicht als wissenschaftlicher Schwindler und Betrüger (wie Günter Grass ihn nennt ((S. Günter Grass: Die Steine des Sisyphos, SZ vom 4.7.2011, S. 11.)) )desavouiert hat. Sein Auftreten ist eher väterlich, eher jovial und er hat ein Herz für die kleinen Leute, die da in den Kampf geschickt werden. Beruhigend gibt er ihnen auf ihrem Weg in die Kämpfe zu verstehen: „Töten und Sterben gehören dazu“. ((Die im Folgenden nicht sonderlich gekennzeichneten Zitate entstammen einem Interview mit de M., das am 29. 6. 2011 an prominenter Stelle in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.)) Soldaten sind halt von Beruf Mörder und, wenn sie Pech haben, Helden zugleich. Der Minister sieht den pädagogischen Wert des Umgangs mit den Kriegs-Instrumenten: „Wer aber lernt, eine Handgranate in der Hand zu halten und den Abzugsring zu ziehen, der geht später auch verantwortungsvoller mit dem Thema Gewalt um.“ Und sinniger und schlichter Weise: Er lässt sich nicht von Computerspielen zu einem verantwortungslosen Umgang mit Waffen verführen.

Lassen wir das! Die Armee als Schule der Nation? Das hatten wir ja schon. Dies garstig Lied ist bekannt und soll hier nicht weiter ausgebreitet werden. Auch wenn es typisch ist für den militarisierenden Diskurs, der den Kampf und den Krieg mit zu legitimieren versucht. Überhöht wird das nun aber noch durch de Maizierès Angebot an die zu werbenden und auszubildenden harten Krieger. 19-jährige sollen erstens gutes Geld verdienen, an die 1000 Euro netto, zweitens durch eine „attraktive Zeit“ bei der Bundeswehr, aber besonders durch etwas Drittes, einen darüber hinausgehenden Mehrwert, den er mit dem „Begriff der Ehre“ und dem Gefühl des Dienens in Verbindung bringen möchte. Dieser Mehrwert stellt nach de M. sich ein, wenn man etwas für den Staat tut, „für Freiheit und Frieden in Deutschland und in der Welt.“ De M. beklagt nämlich: “Wir Deutschen verbinden mit Ehre und auch Dienen zu oft etwas Schwerblütiges. Etwas, das drückt. Wer dient, hat hängende Schultern oder Mundwinkel. Ich will versuchen, diesen Begriffen einen neuen Resonanzboden zu geben, ein breiteres Spektrum. Dienen ist nobel und ehrenhaft, aber es kann einfach auch Freude machen und das Selbstbewusstsein stärken.“ Ob das noch oder wieder nötig sein wird, dürfte angezweifelt werden können. De M. kann einfach auf das zurückgreifen, was vielen unserer Väter auch heute noch klar ist. Denn, wie es im Rat eines Vaters an einen deutschen Jungen in Afghanistan heißt: „Mach es wie ich auf der Jagd. Der Kopfschuss ist auf kurze Distanz das Beste. Deine Ehre heißt Treue. Vergiss das nie!!“ ((Zitiert aus einer Reportage „Zwei von 4397“ in der SZ vom 12./13 Juni 2010.))

Angesprochen auf den desolaten und aussichtslosen Krieg in Afghanistan und den Tod deutscher Soldaten sowie auf den ausbleibenden deutschen Abzugsplan, geht aber de M. nicht von der Fahne und vertraut der alten Doppelstrategie: „Eine zeitweilige militärische Verstärkung, um die Taliban wirksamer zurückzudrängen und zu bekämpfen, und einen politischen Ansatz zur Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die Afghanen.“ Und er beharrt: „Diese Strategie ist auf dem richtigen Weg.“ Angesprochen auf die abweichende Option der USA, reagiert de M. zwar leicht verunsichert, doch mit deutscher Sturheit: Auf die Frage der SZ: „Sie haben jüngst gesagt, Wohlstand verpflichtet. Heißt das: mehr Einsätze für die Bundeswehr“, antwortet er „Ich erwarte, dass es zunächst keine Abstriche bei den Kernfähigkeiten gibt.“ Die entstehende Lücke in der Front lässt sich ja schließen: durch die deutschen Jungs, die bereit sind, zu töten und zu sterben.

Nun sind das keine Tagträume eines Mannes, der sich nicht von der Lektüre von Ernst Jüngers armee- und kriegsverherrlichenden Auslassungen frei machen kann, also dummes Zeug, das auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen gehört, sondern Ausdruck einer konservativen Restauration oder vielleicht auch Revolution, die die deutsche Politik und ihren Anspruch auf Demokratie insgesamt zu beherrschen begonnen hat. ((Das geschieht nur scheinbar hinter dem Rücken der Kanzlerin, die allerdings die Unbeteiligte spielt. Vgl. dazu Klaus Naumann: Ohne Strategie und Leitbild. Die neue deutsche Berufsarmee, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2011, S. 68-76. Naumann weiß auch: „Hier ist mehr gefragt als Ressortkompetenz.“ (Ebd., S. 69) Das Ressort ist nur ein Element eines weite darüber hinausgehenden politischen Konzepts, das dieses allerdings insgesamt repräsentiert und, wenn auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt vielleicht eher zufällig, stark macht.)) De M. ist ja nicht ein beliebiger alter Haudegen, der seine privaten Ansichten zum Besten geben möchte, sondern prominentes Mitglied einer Regierung, der mit dem, was er sagt, auch deren Sprachrohr ist. Dabei geht es nicht allein um völkisch-militaristische Wahnvorstellungen, sondern – aus de M.s´ Mund – um den Standort Deutschland und um Deutschlands Rolle in der Welt- und um Wirtschaftsmacht, die umso stärker geschützt und entwickelt werden muss je tiefer die Krise ist. Woran Köhler noch gescheitert ist, was Guttenberg bereits forsch hinausposaunen konnte, umschreibt der „nüchterne Minister“ der Verteidigung deutscher Interessen in der Welt zwar etwas kryptisch, aber deutlich: „Deutschland ist mit der Einheit erwachsen geworden. Wir können keine Sonderrolle mehr beanspruchen, sondern müssen wie andere auch internationale Verantwortung übernehmen. Wir haben jetzt knapp 7000 Soldaten im Einsatz. Wir wollen die Zahl der Soldaten, die wir der internationalen Völkergemeinschaft anbieten können, auf 10000 erhöhen, weil wir künftig von den Vereinten Nationen absehbar stärker gefragt sein werden.“ Wenn Klaus Naumann die Perspektive des Umbaus der Bundeswehr, „nun endgültig zur interventionsfähigen Streitmacht“ zu werden, als Schwarzmalerei der Linkspartei oder einiger ihrer Anhänger abtut, kann man sich nur noch an den Kopf fassen. ((Nauman, ebd., S. 71. Grass dürfte wohl kaum der Partei der Linken zuzurechnen sein, obwohl er schreibt „die gegenwärtigen Ermüdungs- und Zerfallserscheinungen im Gefüge unseres Staates bieten Anlass genug, ernsthaft daran zu zweifeln, ob unsere Vwerfassung noch hält, was sie verspricht, …nicht zuletzt der Würgegriff der Banken machen aus meiner Sicht die Notwendigkeit vordringlich, etwas bislang Unaussprechliches zu tun, nämlich die Systemfrage zu stellen.“ (S. Anm. 3.) )) Da ist schon ein wenig mehr an analytischer Kompetenz ins Spiel zu bringen als sich allein auf das Verhältnis von Bundeswehr und Gesellschaft allgemein zu kaprizieren. Es geht nicht allein und keineswegs in erster Linie um den Umbau der Bundeswehr und hier geht es auch nicht nur um ein paar technische Probleme, sondern um den Umbau der gesamten deutschen Gesellschaft.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden 3/2011, S. 6-8

 

Begeisterung bei Diskurswerkstatt – trotz Hochschulreform (Rom 2011)

Autor: Jörg Senf 

Wie in Deutschland, so macht sich derzeit auch in Italien die Hochschulreform speziell im geisteswissenschaftlichen Lehrbetrieb nachteilig bemerkbar. Die nunmehr in Kraft getretene Riforma Gelmini (Mariastella Gelmini, Ministerin für Bildung, Universität und Forschung) – gegen die im November-Dezember 2010 erstmalig seit vielen Jahren wieder massive Studentendemonstrationen stattgefunden hatten, von den Berlusconi-Medien sogleich gründlich umdiskursiviert durch gezielte Feindbild- und Krisenkonstruktion („Studenten potenzielle Mörder“) – hat einen Abbau besonders der discipline umanistiche noch verschärft, wie er bereits seit Einführung des europäischen Bachelor-Master-Systems zu beobachten ist. Studierende wie Lehrpersonal sehen sich in einer fortschreitend prekären Lage: Seit Jahren weiß niemand, was die Studienordnung im jeweils nächsten Semester bringen wird. Die Motivation zum Studium reduziert sich entsprechend auf ein recht lustloses Abhaken der erforderlichen Kreditpunkte, wo möglich über den Weg des geringsten Widerstandes.
Umso bemerkenswerter, ja nahezu verwunderlich, erscheint es da, wenn sich Studierende – trotz (oder gerade wegen?) dieses wenig anregenden Klimas – mit manifester Begeisterung ihren (kulturwissenschaftlichen) Studien und Recherchen widmen. Gerade dies ist nun in der diesjährigen Diskurswerkstatt an der römischen Universität „Sapienza“ geschehen! Ein Enthusiasmus, eine konstruktive Mit- und Zusammenarbeit, wie ich sie in meiner 20jährigen Lehrtätigkeit in  diesem Ausmaß bis dahin nur selten angetroffen hatte.
Die Diskurswerkstatt, die ich in Rom seit drei Jahren als Fortgeschrittenen-Seminar anbiete, fand diesmal im reformierten Fachbereich Studi Politici im Rahmen der Wahl-Lehrveranstaltung „Weitere Sprachkenntnisse Deutsch“ statt: 4 Kreditpunkte, Note nicht vorgesehen (lediglich der Vermerk „erfolgreich teilgenommen“).  Recht geringe Aussicht auf abrechenbaren Profit also, was die 5-6 teilnehmenden Studierenden jedoch keineswegs daran hinderte, mit Begeisterung bei der Sache zu sein.
Zur theoretisch-methodischen Einführung in die Diskurswerkstatt wurden zunächst die Grundlinien der Duisburger KDA vorgestellt ((Unter anderem nach SENF, J. (in Vorbereitung) Analisi critica del discorso. Approccio linguistico didattico a un testo di S. Jäger )), wobei die reichliche Lektüre authentischer DISS-Texte dem Anspruch eines fortgeschrittenen universitären Deutsch-als-Fremdsprache-Kurses besonders in terminologischer Hinsicht (Fachsprachen-Kompetenz) förderlich war.
Gleichzeitig begann die konkret aktive Werkstatt-Arbeit, ausgehend von der Wahl eines brisanten Diskursstranges, der nicht nur zum Kursbeginn, März 2011, aktuell war sondern die italienischen Medien noch voraussichtlich bis Mai beschäftigen sollte. Zwei kamen in die nähere Wahl: Immigrazione (anhaltende Medienberichte zur Immigration aus Nordafrika, auf nicht selten versinkenden Booten) und Rubygate (fortdauernde Berichterstattung und Kommentare zur Minderjährigen-Affäre des Premiers Berlusconi). Die Teilnehmer entschieden sich mehrheitlich für letzteres Thema, das ja bereits in der Diskurswerkstatt des Vorjahres ansatzweise thematisiert worden war ((Siehe hierzu SENF, J. (2011) Das Ende der Berlusconi-Ära Deutungskämpfe und Sagbarkeitsfelder in den italienischen Medien in Rolf van Raden/ Siegfried Jäger (Hg.): Im Griff der Medien. Krisenproduktion und Subjektivierungseffekte, Münster: Unrast-Verlag)) und das – besonders relevant an einer Facoltà di Scienze Politiche, Sociologia e Comunicazione – in den kommenden Monaten noch weitere interessante Verschränkungen zu Diskursen um Zustand und Rolle der Institutionen, Parlamentsmehrheit und, allgemein, politische Ethik versprach.
In zwei Arbeitsgruppengruppen sammelten die Teilnehmer darauf hin über drei Monate hinweg eifrig Zeitungsartikel, einerseits aus der hegemonialen Berlusconi-Presse (insbesondere Il Giornale), zum anderen aus den linksliberal oppositionellen Blättern (insb. La Repubblica), um anschließend dann – Siegfried Jägers Werkzeugkiste an der Hand – die sprachlich diskursiven Merkmale der medialen Deutungskämpfe heraus zu arbeiten und in der Folge diskursanalytisch zu deuten.
Ende Mai legten die Teilnehmer der Diskurswerkstatt ihre schriftlichen Ausarbeitungen vor. Als Ergebnis einer lediglich etwa 25 Stunden (plus intensiver Hausarbeit) umfassenden Lehrveranstaltung können diese – überdies in der Fremdsprache Deutsch verfassten – Analysen sicherlich noch keine ausgereifte Wissenschaftlichkeit beanspruchen; doch dieser Aspekt erscheint mir in vorliegendem Fall auch eher zweitrangig. Als prioritären  „Lernerfolg“ würde ich dagegen die Tatsache werten, dass Studierende – trotz erschwerender Umstände gerade in den Geistes- und Kulturwissenschaften – (wieder) Motivation und Lust zum Studium an den Tag legen.
Der Eindruck solch autotelischer (nicht profitgebundener) Begeisterung fand dann auch Bestätigung in dem durchweg positiven expliziten Feedback seitens der an der Diskurswerkstatt teilnehmenden Studierenden. Als Grund ihres so manifesten Eifers war unter anderem zu hören: „Wissen Sie, hier an der Fakultät  werden doch sonst nur alte Kamellen gelehrt“.
Kritische Ansätze und Methoden, die wie die KDA aussichtsreich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit applizierbar sind, werden ganz offenbar von der studierenden Jugend derzeit dankbar aufgenommen. Könnte eine solche Deutung verallgemeinerbar sein? Bleiben dergleichen Episoden auf das im immobilismo politico verstrickte Italien beschränkt? Deuten sie möglicherweise auf eine politisch soziale Aufbruchstimmung (ausgehend vom arabischen Frühling) im Mittelmeerraum hin? Diese und ähnliche Fragen möchte ich offen lassen.

Prof. Jörg Senf
Università di Roma “Sapienza”
Facoltà di Scienze Politiche, Sociologia, Comunicazione
Dipartimento di Studi Politici
P.le Aldo Moro 5 – 00185 Roma
E-Mail: jorg.senf@uniroma1.it

„Denn das Reich der Freiheit wird erstehen…“

In der aktuellen Ausgabe 89 (Juli 2011) der österreichischen jüdischen Kuturzeitschrift David erschien fogender Beitrag von DISS-Mitarbeiter Jens Zimmermann, der im Zusammenhang mit unserem Forschungsprojekt zur deutsch-jüdischen Publizistik des 19. Jahrhunderts entstand.

 

„Denn das Reich der Freiheit wird erstehen…“ –
Anmerkungen zur politischen Publizistik Leopold Zunz‘

Autor: Jens ZIMMERMANN

Das Emanzipations- und Glücksversprechen, das die bürgerliche Gesellschaft den Individuen in Aussicht gestellt hat, blieb im historischen Verlauf wirkmächtige Fiktion. Nichts gibt darüber mehr Auskunft als der von der deutschen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts abgelehnte Versuch deutsch-jüdischer Autoren, in die politischen Debatten über Demokratie, Staatsbürgerschaft und Nationalbegriff publizistisch einzugreifen.1 Die an den eigenen Emanzipationswunsch geknüpfte Hoffnung deutscher Juden, einen eigenen Beitrag zur Konstitution eines republikanisch-demokratischen Deutschlands zu leisten2, wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts einerseits durch Ignoranz der politischen Öffentlichkeit, andererseits durch den virulenten Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft zunichte gemacht.

Trotz dieser Ablehnung konstituierte sich im Vor-Kaiserreich eine vitale und umfangreiche Publikationslandschaft deutsch-jüdischer Autoren, in welcher um Staatsbürgerschaft und demokratisch-rechtsstaatliche Ideen aus einer spezifisch deutsch-jüdischen Perspektive diskutiert und gestritten wurde. Leopold Zunz (1794-1886) kann – neben Gabriel Riesser und Johann Jacoby – als einer der engagiertesten Streiter für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie innerhalb dieses Diskurses angesehen werden. Seine Positionierung als „öffentlicher Gelehrter“, der seine Intellektualität als Verantwortung für die Gesellschaft verstand, kann retrospektiv als die charakteristische Facette seines publizistischen Wirkens angesehen werden, was vor allem durch seine zahlreichen öffentlichen Reden und Vorträge unterstrichen wird. Dabei schrieb und redete Zunz als jüdischer Intellektueller – 1819 gründete er in Berlin den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, dem auch Heinrich Heine angehörte.

Seine politische Publizistik zwischen den 1840er und 1860er Jahren plädiert für die Realisierung bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, an die er gleichzeitig eine jüdische Emanzipationshoffnung knüpft, welche durch das Gesetz gestützt werden soll: „Ein Recht besitzen heisst, die Freiheit es auszuüben haben, und gleiches Recht für Jedermann, demnach gleiche Freiheit: so ist der Rechtsstaat zugleich der Staat der Freiheit. Fort mit eingebildeten Unterschieden!“3 Auch während der revolutionären politischen Wirren der Jahre 1848/49, die Zunz in Berlin erlebte, postulierte er immer wieder die Grundsätze einer demokratisch verfassten politischen Gemeinschaft. In zahlreichen politischen Reden argumentierte Zunz leidenschaftlich für die aus seiner Sicht zwingende Symbiose von Staat, Nation und demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsnormen: „Denn das Reich der Freiheit wird erstehen: das auf Nationalwillen gegründete Gesetz, die in freiwilligem Gehorsam bestehende Ordnung, die Anerkennung des Menschen unbehelligt vom Unterschiede der Sekten und Stände, die Herrschaft der Liebe als Zeugniss der Erkenntnis Gottes.“4

Auch nach dem Scheitern der Revolution, dem Rückzug vieler Juden aus dem öffentlich-politischen Bereich und der daran anschliessenden autoritären Restauration wird Leopold Zunz nicht müde, von der Souveränität des politischen Volkes zu reden und sich dabei auf den in Deutschland so verhassten Jean-Jacques Rousseau und dessen contract social zu beziehen. „Fortschritt, Freiheit und Wahrheit“ bilden dabei für Zunz den unhintergehbaren Kern der „Verfassungsseele“, den er auch gegen die politische Restauration in Deutschland verteidigte, die statt eines bürgerlichen Nationalverständnisses die Nation als genealogische Abstammungs- und kulturelle Exklusionsgemeinschaft definierte. Mit diesem aufklärerischen Impetus polemisierte er in einer Wahlrede in Berlin 1861 gegen die mächtigen Institutionen des Militärs und der Kirche: „Das Wesen beider, als altererbter Einrichtungen, sträubt sich noch in mehr als einer Richtung gegen das constitutionelle Gesetz.“5

Die Konsequenzen, die Zunz aus dieser Feststellung zog, war die Forderung nach einer Trennung zwischen Staat und Kirche sowie nach der politisch-rechtsstaatlichen Einhegung des Militärs. Zunz erkannte die gesellschaftspolitische Sprengkraft, die von einem militärischen Apparat ausgehen konnte, der „ausserhalb der Verfassung“ steht, und sah auch den im Kaiserreich aufkeimenden Konflikt zwischen der katholischen Kirche und dem preussischen Staat voraus.

Das politisch-publizistische Wirken Leopold Zunz‘ schöpft seine Überzeugungskraft aus dem bedingungslosen Eintreten für eine universalistische politische Ethik und Staatskonzeption, in der keine konfessionellen und sozialen Schranken das gesellschaftliche Zusammenleben reglementieren sollen – Staatsbürgerschaft und moderne Rechtsstaatlichkeit verkörpern für ihn politischen Fortschritt. Seine vielleicht radikalste Idee ist die der politischen Demokratie:

„Demokratie, d.h. das zur Geltungbringen des allgemein Menschlichen, damit der ganze Staat, die ganze Nation das Bewusstsein von sich bekomme, dass nur durch die gegenseitige Gerechtigkeit, durch die Gleichheit, also durch die gleiche Berechtigung der Freiheit bestehe, und dass die Freiheit das Mittel werde, dass die Nation, d.i. der Staat, Niemanden anders gehorcht, als sich selbst, weil sie selbst den sittlichen Gesamtwillen hat.“6

Schon 1849 formuliert Zunz die politisch-theoretischen Kernelemente demokratischer Verfassungen, wie sie für Deutschland erst genau hundert Jahre später, im Grundgesetz, festgehalten werden sollten. Das politische Denken Leopold Zunz‘, geprägt durch die Französische Revolution und die Amerikanische Verfassung, steht dabei zugleich für die Verschränkung von politischer und jüdischer Ethik. Der innerjüdische Diskurs des 19. Jahrhunderts deckte ein breites Spektrum an politischen und zivilgesellschaftlichen Problemfeldern ab, so etwa die Themen der bürgerlichen Gleichstellung, des Zusammenlebens zwischen Juden und Christen, aber auch von Regierungsformen und den damit verbundenen universalistisch-kosmopolitischen Souveränitätskonzeptionen. Dieser Diskurs, an den auch die vielfältigen Emanzipationshoffnungen der deutschen Juden geknüpft waren, wurde allerdings konsequent ignoriert und letztlich im Deutschen Kaiserreich durch den sich formierenden politischen und weltanschaulichen Antisemitismus diffamiert.

Es ist kein Zufall, dass mit der Verweigerung dieses Dialogs und der damit verbundenen kulturellen und politischen Exklusion des deutschen Judentums auch die zaghaften Bestrebungen nach einer demokratischer Regierungsform und einem universalistischem Staatsbürgerverständnis in Deutschland kein Gehör mehr fanden und die politische Kultur des Kaiserreichs zunehmend autoritäre Züge annahm.

Leopold Zunz, Gründungsvater der „Wissenschaft des Judentums“, ist einer der exponiertesten Vertreter deutsch-jüdischer Publizistik des 19. Jahrhunderts, welche die jüdischen Emanzipationsbestrebungen, die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Grundlagen des Judentums sowie die Propagierung republikanischer Politikformen in Einklang brachten.

1  Vgl. Brocke, Michael/Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried/Paul, Jobst/Tonks, Iris (2009): Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhundert, Köln u.a.: Böhlau.

2  Zahlreiche Texte dieser Autoren sind online unter http://www.deutsch-juedische-publizistik.de/ abrufbar.

3  Zunz, Leopold (1976): Gesammelte Schriften, 3 Bände in einem Band, Hildesheim/New York: Olms, 320.

4  Zunz, 302.

5  Zunz, 322.

6  Zunz, 303.

Rezension: Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941

Autor: Anton Maegerle

Am 20. Juni jährt sich zum 70. Mal der Überfall Deutschlands  auf die Sowjetunion. Der Karlsruher Historiker Wigbert Benz dokumentiert in seiner Monografie „Der Hungerplan im ‚Unternehmen Barbarossa‘ 1941“, dass bei diesem NS-Großverbrechen „zig Millionen Menschen“ in den besetzten Gebieten der UdSSR verhungern sollten, um Nahrungsmittel für die Wehrmacht und deutsche Bevölkerung frei zu machen.

Dem von der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite des NS-Staates im Rahmen des Eroberungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion praktizierten Konzepts des gezielten Massenmordes durch Hunger, fielen mindestens vier Millionen Menschen in den besetzten Gebieten und mehr als zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer. Da der größte Vernichtungskrieg in der Geschichte nicht planmäßig verlief und der Hungerplan so nicht in vollem Umfang in die Tat umgesetzt werden konnte, wurde die von den NS-Machthabern einkalkulierte Zahl von „zig Millionen“ Hungeropfern jedoch nicht erreicht.

Buchcover: Wigbert Benz: Der Hungerplan

Im ersten Teil seiner Studie analysiert Benz die im Auftrag Hermann Görings  in den für die Kriegswirtschaft zuständigen Dienststellen erfolgten Planungen, beim sogenannten Russlandfeldzug „zig Millionen Menschen verhungern“ zu lassen, um die Ernährung im Deutschen Reich und die der Wehrmacht in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zu sichern. Göring wurde, heute ist dies selbst in Historikerkreisen vergessen, explizit auch wegen seiner Verantwortung für dieses Hungervorhaben bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum Tod verurteilt. Im zweiten Teil skizziert Benz die Entwicklung des Forschungsstandes zum Vernichtungscharakter des  „Feldzuges“, dessen Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Kriegszielen sowie den Grundzügen der Kriegführung und Besatzungspraxis des Regimes, in deren Rahmen das Hungerprojekt geschichtlich zu verorten ist und sich dessen zentrale Fragestellungen erschließen lassen. Die Konzeption des „Hungerplans“ sieht Benz im „Kern“ des nationalsozialistischen Weltbildes, der Einteilung der Völker in wertvolle und minderwertige, begründet. Die wertvollen, an der Spitze die Deutschen, haben das Recht, auf Kosten der minderwertigen besser zu leben, ja „Lebensraum“ und Wirtschaftsraum im Osten zu erobern. Die sowjetischen Gebiete sollen um unnütze Esser bereinigt werden.

„zig Millionen Menschen verhungern“

Im Fokus der Analyse des dritten Kapitels stehen die  zentralen Dokumente des Hungervorhabens. Der Plan, „zig Millionen Menschen verhungern“ zu lassen, wurde im Protokoll der Besprechung des Chefs des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), General der Infanterie Georg Thomas, mit den Staatssekretären aller wirtschafts- und sozialpolitisch wichtigen Ressorts am 2. Mai 1941 festgehalten. Das Protokoll, so Benz, zeigt das „extreme Hungerkalkül“ der deutschen Kriegsplaner für die Besatzungspolitik in der UdSSR. Weitere Eckpfeiler des Hungerplans bilden die wirtschaftspolitischen Richtlinien der Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft, im Vierjahresplan vom 23. Mai 1941 sowie Görings sogenannte „Grüne Mappe“ vom 1. Juni 1941, die als Richtlinien für die Führung der Wirtschaft die Ziele und Methoden zur wirtschaftlichen Ausbeutung der zu besetzenden Ostgebiete festlegten.

Am Rande seiner Monografie stellt  Benz ein für alle mal  klar, dass die von rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Kreisen immer wieder bemühte Präventivkriegsthese, wonach Hitler-Deutschland einem Überfall Stalins auf das deutsche Reich lediglich zuvorkam, ins Reich der Legenden und Mythen gehört. Mutmaßungen über Angriffabsichten Stalins, so Benz, sind „nicht nur unbewiesen“, sondern haben bei der  „Entscheidungsfindung der deutschen politischen und militärischen Führung an keiner Stelle eine Rolle gespielt.“ Enttäuscht zeigt sich Benz am Ende seiner Bilanz, dass der NS-Terror der aktiv betriebenen Hungerpolitik bislang im deutschen Sprachraum nicht zu einem Thema geworden ist. Der Historiker befürchtet, dass viele Bundesbürger beim Begriff „Hungerplan“ an einen Diätplan zum Abspecken überflüssiger Pfunde denken, statt an das nach dem Holocaust größte Massenverbrechen des NS-Regimes. Diesem Mißstand endlich entgegenzuwirken zu können, hat Benz mit seiner glänzenden Analyse der dokumentarischen Grundlage des Hungerplans, eingebettet in die Fokussierung der Ergebnisse der internationalen Forschung zu diesem Thema, selbst einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung getan.

Wigbert Benz
Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941
84 Seiten. Wissenschaftlicher Verlag Berlin wvb. Berlin 2011.
ISBN 978-3-86573-613-0
16 Euro

Dieser Beitrag erschien in gekürzter Fassung zuerst auf vorwärts.de.