Björn Höcke (AfD) – Der Niedergang – der Umsturz – das Nichts

titel-jobstpaul-hoeckeUnser DISS-Mitarbeiter Jobst Paul legt eine ausführliche Analyse der IfS-Rede des Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke vom November 2015 vor:

Der Niedergang – der Umsturz – das Nichts. Rassistische Demagogie und suizidale Perspektive in Björn Höckes Schnellrodaer IfS-Rede

Anlässlich eines 2-tägigen Kongresses des Instituts für Staatspolitik (Schnellroda) am 21./22. November 2015 sprach auch der Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke zum Thema Asyl – Eine politische Bestandsaufnahme. Erst Wochen später veröffentlichte das Institut den Redemitschnitt und machte dadurch Höckes rassistische Einlassungen zu einem vermeintlich europäischen, bzw. afrikanischen ‚Reproduktionsverhalten‘ bekannt, die an die Rhetorik vor 1945 anknüpfen.

Jobst Pauls Analyse der Rede und ihrer rassistischen Thesen versteht sich als Fallstudie zu de-humanisierender und demagogischer Rhetorik. Zugleich erarbeitet sie Grundlagen, wie programmatisch der Vorstoß Höckes zu verstehen ist, der am Rassismus des 18. und 19. Jahrhundert orientiert ist.

Zum Inhalt des Artikels in der DISS Online Bibliothek:

Die Analyse betrachtet zunächst die Rede insgesamt, vor allem Höckes Beschreibung der AfD-Taktik, Parlamentsmandate als Ressource zu nutzen, um eine „Massenmobilisierung“ der Straße zu organisieren. Man wolle sich „nicht mit Landtagsarbeit überbeschäftigen“ und stattdessen „innerhalb kürzester Zeit“ und „in ganz Deutschland“ die letzte ‚friedliche‘ Chance zur sogenannten „Wende“ in die Hand nehmen. Höcke spricht von einer „Anti-These“, auf die er Deutschland festlegen möchte.

Eine Kostprobe, was damit gemeint ist, liefern dann die rassistischen Thesen Höckes, die nicht nur pseudo-wissenschaftliches Beiwerk sind, sondern vor allem auf die furchtbare Aussage zielen, den ‚Bevölkerungsüberschuss Afrikas‘ an den Grenzen sterben zu lassen – als Lektion für ‚Afrika‘. Björn Höcke’s Rhetorik erschöpft sich in einem Szenario des Niedergangs, der Zerstörung und rassistischer Brutalität und nimmt letztlich eine suizidale Perspektive ein.

Eine Transkription der vollständigen Höcke-Rede ist im Anhang dokumentiert.

Lesen Sie bitte die Analyse von Jobst Paul, 39 Seiten im PDF-Format: Der Niedergang – der Umsturz – das Nichts. Rassistische Demagogie und suizidale Perspektive in Björn Höckes Schnellrodaer IfS-Rede

 

Der Schäuble-Schwiegersohn und der Grieche

Mit Recht sorgen herabsetzende Äußerungen, insbesondere aus den Reihen verantwortlicher Politiker oder hoher Beamter, für breite öffentliche Empörung. Dagegen können kritische Analysen solcher Äußerungen zu nachhaltigeren Einsichten über den Tag hinaus führen. Im Zusammenhang der Griechenland-Krise des Jahres 2015 und der nachfolgenden, immer noch andauernden Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderer kam es (und kommt es weiterhin) zu menschenverachtenden Aussagen. Im Folgenden dokumentieren wir die Analyse, die Jobst Paul im Juli 2015 zu einer Äußerung von Thomas Strobl, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, formulierte.

Thomas Strobl (CDU-Vize) am 13.7.2015:
Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“1

Eine Analyse von Jobst Paul

Am 13. Juli 2015 kommentierte Thomas Strobl, „CDU-Vize und Schäuble-Schwiegersohn“, den Stand der Griechenland-Krise vor Kameras und Journalisten mit dem Satz „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt“ – als „ob er am Stammtisch säße beim dritten Glas Heilbronner Trollinger Rosé“, meinte Oliver Das Gupta in der SZ2. Strobl habe damit auf dem Höhepunkt von Ängsten in ganz Europa, Deutschland wolle anderen Staaten seinen Willen aufzwingen und den Kontinent beherrschen, genau diese Ängste geschürt.

Für scharfe Kritik hat zunächst die Formulierung „der Grieche“ gesorgt3. Es gibt allerdings mehrere Schwerpunkte für die Analyse. Zunächst aber erinnert der Singular „der Grieche“ tatsächlich an alte herabsetzende Muster, wie zum Beispiel „der Russe“, „der Chinese“ und ähnliches. Betrachten wir zunächst, wie die Herabsetzung in diesem Fall funktioniert.

Die Reduktion eines Kollektivs von Individuen auf einen Singular zielt auf die Charakterisierung des Kollektivs, bzw. seines Charakters und Verhaltens, als unveränderlich, als sozusagen für alle ‚gleich programmiert‘. Was aber als Charakter und Verhalten unveränderlich ist, ist einem individuellen menschlichen Willen entzogen. Ein solches Wesen kann nichts lernen und es kann von nichts abgehalten werden. Insofern ist es ein dummes, seinen Impulsen ausgeliefertes Wesen.

Dummheit“ kann ‚nur‘ (wie im Fall „das Schaf“, „die Kuh“, „der Ostfriese“) Passivität, d.h. eine gewisse Harmlosigkeit signalisieren. Es kann aber auch, je nach Kontext, andeuten, dass das Wesen automatisch (‚blind‘) seinen instinktiven, egoistischen Trieben folgt und von daher auf Angriff und gewaltsame Inbesitznahme gebürstet ist. Dann aber, wie offenbar im Fall des obigen Zitats, appelliert ein Kollektiv-Singular wie “der Grieche“ an den Impuls zur Abwehr und Verteidigung.

Das Zitat hat aber zwei weitere Schwerpunkte. Betrachten wir zunächst die möglichen Valenzen von “nerven“. Man kann aus Formulierungen wie: ‚die Kinder nerven‘, ‚die Arbeitskollegen nerven‘, ‚der Pressluftbohrer nervt‘ eine ständige Belästigung extrapolieren, die an Schmerz grenzt oder Schmerz, vor allem auch psychischen Schmerz beinhaltet, da man der Situation ausgeliefert ist.

Hier wiederholen sich zwei bereits genannte Aspekte. Einerseits scheint die Belästigung unveränderlich und damit die Urheber nicht ansprechbar zu sein. Andererseits führt die Belästigung (auf der Seite des ‚Opfers‘) zweifellos zum Bedürfnis nach Abwehr und Verteidigung. Doch steht in dieser Konstellation (‚die Kinder nerven‘) noch merklich die Bereitschaft des Erduldens und Tolerierens im Vordergrund.

Dies verändert sich in der Perfekt-Form ‚hat (lang genug) genervt‘. Hier soll es zweifellos zur Gegenhandlung kommen oder es ist bereits zur Gegenhandlung gekommen, wobei die Ursache der Belästigung – sozusagen schlagartig – beseitigt wird oder werden soll. Damit aber verschiebt sich die Gesamtkonstellation: Nun sind es nicht mehr Kinder, Arbeitskollegen oder ein Pressluftbohrer, die nerven oder genervt haben. Nun ist es vielleicht ein entzündeter Zahn, der den Körper angreift und kurzerhand gezogen wurde, weil er „lang genug genervt hat“, eine Mücke, die nun nicht mehr nervt, weil sie abgeklatscht wurde, oder ein unbotmäßiger Schüler, der ‚von der Schule fliegt‘ und insofern ‚verschwindet‘.

Strobl partizipiert damit zunächst am stereotypen Erziehungsdiskurs, der im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise prägend war (‚die Griechen müssen ihre Hausaufgaben machen‘) und dem es insbesondere um ‚klare Regeln‘ mit angekündigten ‚Konsequenzen‘ geht, in Abgrenzung zu einem ‚libertären‘ (schwachen) Stil, der es zulässt, dass die Quälgeister ‚einem auf der Nase herumtanzen‘.4

Doch geht Strobls Assoziation definitiv weiter als der Vorstellungsgehalt der Zähmung und Domestizierung des ‚wilden Kinds‘, das am Ende ‚in den Stiefel gebracht wird‘. Denn offenbar ist der Fall hoffnungslos – das Kind lässt sich wohl nicht zähmen.

Damit allerdings nimmt der Erziehungsdiskurs Strobls, ganz entsprechend der Logik dehumanisierender Rhetorik, eine dramatische Wendung, weg von Methoden der schwarzen Erziehung hin zu einem Vernichtungsszenario: Der kleine Quälgeist, der einem ganz Großen zusetzen will/wollte, der freche David, der einen Goliath herausfordert(e), erhält die (tödliche) Quittung. Entscheidend wird der Aspekt der Beseitigung, nicht nur der Belästigung, sondern des Quälgeistes selbst. Dies verrät Strobls Vorstellung eines binär, d.h. zwischen totaler Macht und totaler Machtlosigkeit organisierten Machtgefälles zwischen dem ganz Großen (als vermeintlichem Opfer) und dem ‚Quälgeist‘.

Offen ist lediglich, ob Strobl mit der Perfektform (hat … genervt) zum kurzen gewaltsamen Schlag gegen den ‚kleinen frechen‘ Aggressor aufruft oder ob er Vollzug melden möchte. Allgemein unterstreicht Strobl die Heftigkeit und Unmittelbarkeit des ‚Schlags‘ durch die Einfügung eines ‚jetzt‘ (hat jetzt lang genug genervt). Die geringfügige schwäbische Dialektfärbung (lang genug statt lange genug) bindet die Haltung des ‚kurzen Prozesses‘ – stark genug für die Wahrnehmung – zudem an ein ‚gesundes Volksempfinden‘.

In der Presse wurde übrigens gut verstanden, dass Strobl eine Vernichtungsphantasie formuliert hatte:

Und dann kommt dieser Strobl daher und sagt mit Blick auf das Land, das die Deutschen vor nur etwas mehr als 70 Jahren überfallen und grausam beherrscht hatten: ‚Der Grieche hat lang genug genervt.‘“5

2 Ebd.

4 Strobl verknüpft damit das Griechenland-Thema subkutan mit den Links/Rechts-‚Schlachten‘ im Erziehungsdiskurs in verschiedenen deutschen Bundesländern.

CSU: 60 Millionen Flüchtlinge stehen an Bayerns Grenzen

Eine Analyse von Jobst Paul.

Andreas Scheuer (Generalsekretär der CSU):

„An den Grenzen stehen 60 Millionen Flüchtlinge. Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? Wir können nicht die ganze Welt retten.“

Dies äußerte Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, im Rahmen eines Gesprächs mit der Passauer Neuen Presse, das am 20. Juli 2015 veröffentlicht wurde.1

Scheuer griff dabei auf Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR2 vom Juni 2015 zurück, wonach sich Ende 2014 „weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht“ befanden. Betroffen waren/sind zumeist Menschen in Bürgerkriegsregionen und in Staaten in Auflösung. Daher waren von diesen 60 Millionen im Jahr 2014 38,2 Millionen Menschen „innerhalb ihres eigenen Landes“ auf der Flucht und davon wiederum 11 Millionen Menschen auf der Flucht „in ein angrenzendes Nachbarland“.3

Von daher war die UNHCR-Angabe „weltweit“ als Hinweis auf eine statistische Summe zu verstehen, in der unterschiedlichste humanitäre Katastrophen auf den Punkt kommen und für die der Westen – wie man hinzufügen darf – einen großen Teil der Verantwortung trägt. Aus der UNHCR-Mitteilung war aber nicht ein Szenario herauslesbar, in dem sich all diese Menschen auf der Flucht nach Europa (und in die USA) befänden.

Doch begnügte sich Andreas Scheuer am 20. Juli 2015 nicht damit, die UNHCR-Angabe allein in diesem Sinn zu fälschen und die schockierende Nachricht als rhetorisches Spielmaterial zu verwenden. Er beließ es auch nicht dabei, der bayerischen Öffentlichkeit in der Form einer ‚Mauerschau‘ mitzuteilen, dass sich diese ‚Vorhut‘ (also 60 Millionen Menschen) schon „an den Grenzen“ (Deutschlands, bzw. Bayerns) versammelt hätte. Vielmehr deutete er tendenziell an, dass sich hinter ihr bereits „die ganze Welt“, also die Weltbevölkerung, in Warteposition aufgestellt habe.

Bevor man die Frage beantworten kann, auf welche Handlungsanweisungen Scheuer mit dieser Zuspitzung bei seinem Publikum zusteuert, sollte man betrachten, wie die Zuspitzung selbst strukturiert ist, um auf diesem Weg zu erfahren, welche Denk- und Handlungsmuster Scheuer beim Publikum abrief. Wie verändert sich zum Beispiel die ‚Charakterisierung‘ von Flüchtlingen und globaler Fluchtbewegungen, wenn die millionenfachen menschlichen Tragödien, wie sie das UNHCR beschreibt, in eine uniforme Bewegung von „60 Millionen Menschen“ auf Europa zu und schließlich zu einer Bewegung der ‚ganzen Welt‘ in Richtung der deutschen (bayerischen) Grenzen umgedeutet werden?

Offenbar führt die Pauschalisierung dazu, dass konkrete Fluchtursachen (Krieg, Gewalt, regionale Bürgerkriege aufgrund der westlichen Interventionskriege der vergangenen Jahrzehnte, Zerstörung sozialer und ökonomischer Strukturen) aus dem Blickfeld gedrängt werden. In der Tat müssen global wirksame Fluchtgründe wegfallen, wenn doch ein einzelner Fleck (Deutschland / Bayern) davon völlig unberührt bleiben und sogar zur rettenden Oase für die „ganze Welt“ werden kann.

Entsprechend sorgt Scheuers Bild eines wandernden Kollektivs der „60 Millionen Flüchtlinge“ (und danach des Kollektivs der „ganzen Welt“) für die Einebnung alles dessen, was menschlich individuell ist und über rein körperliche Überlebensbedürfnisse hinausgeht. Stattdessen reduziert Scheuers Bild der „Massen“ Menschen auf ‚pure‘ Überlebensbedürfnisse und auf ein davon bestimmtes Flucht- oder ‚Wanderungs’verhalten, schreibt den „Massen“ also den uniformen Status menschlich reduzierter Wesen zu.

Dann aber haben wir es offenbar entsprechend der Scheuer’schen Logik und was Deutschland / Bayern einerseits und „die ganze Welt“ andererseits angeht, mit zwei Existenzformen zu tun:

Während Deutschland / Bayern über existenzielle ‚Lebensmittel‘ weit über den eigenen Bedarf hinaus verfügt, also in ‚humaner‘, zivilisatorischer Weise Vorräte angelegt hat, hat „die ganze Welt“ offenbar (in der nicht-zivilisatorischen Weise der ‚Wilden‘) keine Vorräte angelegt und möchte sich deshalb diese existenziellen ‚Lebensmittel‘ in Deutschland / Bayern holen.

Seit jeher arbeiten rassistische, aber auch antisemitische Stereotype mit dem Motiv des ‚Herumwanderns‘, um Minderheiten eine ‚zivilisatorische‘ Fähigkeit (die Vorratshaltung, den Verzicht auf unmittelbaren Genuss) abzusprechen und zu unterstellen, dass sie ‚auf Kosten anderer‘ leben wollen. Entsprechend evoziert Scheuers Äußerung die Vorstellung, dass die Flüchtlingsströme der Welt potenziell auf Deutschland / Bayern gerichtete Raubzüge sind, gegen die harte Vorkehrungen zu treffen wären.

Scheuers Frage Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? scheint diesen Aspekt inhaltlich zunächst aufzugreifen: Der naturhaften ‚Ströme‘ könnte man wohl nur mit äußerster Gewalt und Brutalität „Herr werden“, entweder, indem man sie „an den Grenzen“ blockiert oder aber im Land einer massiven Repression unterwirft. Dies entspräche wohl einem völkisch-rechtspopulistischen Drehbuch. Die Frageform Scheuers realisiert allerdings einen Bruch im martialischen Gestus. Sie deutet eher auf die Ratlosigkeit, wie man einer großen Aufgabe gewachsen sein soll, die man nicht abweisen kann.

Das Bild der „Massen“ an den Grenzen zeigt einen ähnlichen Bruch. Dort gibt es offenbar gar nicht die naturhaften ‚Ströme‘, die Deutschland überfluten wollen: Vielmehr haben die „Massen“ (d.h. „60 Millionen Flüchtlinge“) an den deutschen (bayerischen) Grenzen unversehens Halt gemacht. Sie stehen dort geduldig und warten auf Einlass, anerkennen also die Autorität des rettenden deutschen Gemeinwesens.

Scheuers Diktum verharrt also in dieser Unentschiedenheit zwischen martialischem Gestus und einer ‚gewissen‘ humanitären Verpflichtung: Wenn Deutschland / Bayern zwar nicht ‚die ganze Welt‘ ins Land lassen kann, so werden sich angesichts des „an den Grenzen“ aufgebauten Szenarios die „Massen“ nicht gänzlich abweisen lassen. In eine politische Ankündigung umgemünzt, könnte dies eine taktisch hinhaltende, dosierte Öffnung der Grenzen bedeuten und eine Behandlung der hereingelassenen Flüchtlinge nach humanitärem Mindeststandard.

Von daher kann nun die Funktion des zugespitzten Angstszenarios eingeschätzt werden, das Scheuer im Juli 2015 mit Hilfe einer Fälschung vor seiner politischen Anhängerschaft aufbaute. Offenbar wollte er einer rechten Klientel in ihrem politischen Selbstverständnis, insbesondere in ihrer rassistischen Perspektive auf Flüchtlinge entgegenkommen, um sie so zu bewegen, eine begrenzte Zuwanderung von Flüchtlingen (gewaltfrei) zu dulden.4 Dies entspräche dem Versuch, rechte Konkurrenz mit dem Versprechen zu ‚befrieden‘, am staatlichen Gewaltmonopol und an der politischen Macht der CSU zu partizipieren.

Abgesehen davon, dass solche Rückzugssignale faktisch zu einem Machtzuwachs rechts von der CSU führen müssen, könnte die CSU auch deshalb an Macht einbüßen, weil ihr Angebot ‚leer‘ ist: Sie hat gar nicht die Macht, die Zuwanderung restriktiv zu begrenzen und ihr autoritaristisch „Herr“ zu werden, oder gar eine bloße Minimalversorgung der Flüchtlinge (sozusagen nach ungarischem Modell) durchzusetzen.

Dies zeigte sich eklatant am 5. September 2015, als die deutsche Regierung (mit Beteiligung von CSU-Ministern) kurzfristig der Einreise von 8000 in Ungarn festgehaltener Flüchtlinge zustimmte, während sich der bayrische CSU-Innenminister Joachim Herrmann als ahnungslos – und ohnmächtig – gab und die Berliner Entscheidung als „völlig falsches Signal innerhalb Europas“ verurteilte. 5

1 Scheuer zur Asylpolitik: „Können nicht die ganze Welt retten“. In: Passauer Neue Presse (Lokalteil) vom 20.07.2015 [http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1749952_Scheuer-zur-Asylpolitik-Koennen-nicht-die-ganze-Welt-retten.html]

2 Vgl. World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement 2014. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html

3 In Deutschland wurden 2014 ca. 33.310 Personen als Flüchtlinge anerkannt, 4,0 Prozent erhielten einen Schutzstatus, und 1,6 Prozent Abschiebungsschutz. Im ersten Halbjahr 2015 lag die Anerkennungsquote (bei 180.000 Asylanträgen) bei etwa 37 %. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.html?nn=1366068

4 Nach massiver politischer und medialer Kritik nahm der CSU-Generalsekretär die UNHCR-Angabe am 30. Juli 2015 noch einmal auf. In einem Pressegespräch mit dem Oberpfalznet (unter http://m.oberpfalznetz.de/zeitung/454/4675558/) gab er sie nunmehr korrekt wieder („Es sind weltweit 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs“).

5 Angesichts der dramatischen Ereignisse am 5. September 2015 forderte Scheuer erneut, der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland müsse begrenzt werden. „So kann es nicht weitergehen.“ http://www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html

Jobst Paul: Unterhaltungswert Homophobie?

In der DISS-Online-Bibliothek publizieren wir einen Vortrag, den DISS-Mitarbeiter Jobst Paul am 11. Juni 2015 in Berlin auf dem Kongress Respekt statt Ressentiment. Strategien gegen die neue Welle von Homo– und Transphobie gehalen hat und der vom  Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) veransaltet wurde.

Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte den ‚Kampf gegen Rechts‘, mit dem sich – wie nie zuvor – nun auch die Regierungen solidarisieren und dabei an bürgerschaftliches Engagement appellieren, nicht in Zweifel ziehen und das Positive und sozial Produktive dieses Kampfs nicht in Frage stellen.

Aber wir müssen uns doch fragen, warum sich trotz dieses Kampfes und trotz zunehmender rechtlicher Errungenschaften die Ausbildung eines populistischen, völkisch-nationalistischen Lagers, warum sich dessen Bewegung in die politische Mitte und warum sich seine ideologische Radikalisierung letztlich ungehindert seit Jahrzehnten vollzieht. Alle Indizien sprechen also – auch wenn Deutschland als ökonomischer Weltmeister (gefühlt) in höchster Sicherheit lebt – für eine zutiefst labile soziale Tektonik. Ich möchte daher einige Schwachstellen und weiße Flecken des Kampf-Szenarios nennen.

Den vollständigen Text lesen Sie bitte hier:
Jobst Paul: Unterhaltungswert Homophobie?

Klare Positionen

Ludwig Philippson, Ausgewählte Werke: Die Entwickelung der religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam. Die Religion der Gesellschaft. Zwei Vorlesungsreihen. Herausgegeben von Andreas Brämer. Böhlau 2015

Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Schriften zur jüdischen Sozialethik. Band 2. Herausgegeben von Michael Brocke und Jobst Paul. Böhlau 2015

Zwei neue Bände der Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft sind erschienen.

von Jobst Paul

Mit der Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft schufen das DISS in Duisburg und das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte (Essen) im  Jahr 2010 eine Plattform, auf der sich Schritt für Schritt ein Thema von großer gesellschaftspolitischer Bedeutung entwickeln soll.

Ausgangspunkt ist der Gedanke, wichtigen deutsch-jüdischen Autoren des 19. Jahrhunderts und ihren Werken in der Gegenwart die kulturelle und gesellschaftliche Rezeption zu verschaffen, die ihnen in Deutschland so lange verwehrt war. Gruppiert um die Begriffe Staat, Nation, Gesellschaft skizzierten viele deutsch-jüdische Autoren – als Juden – seit der Aufklärung und während des gesamten 19. Jahrhunderts in beispielloser Breite und Vielfalt die sozialethischen Grundlagen, auf denen ein demokratisches Deutschland erstehen sollte, als Beispiel für Europa und die Welt. Sie bekräftigten damit aber auch das Jahrtausende gewachsene, ethische Erbe des Judentums selbst, das in diesem Deutschland endlich anerkannt und zu neuem Leben erweckt werden sollte, insbesondere die Lehre von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Kern des Judentums.

Dabei hatten sie sich allerdings mit der schillernden, zutiefst unaufrichtigen Haltung der christlichen Kirchen auseinander zu setzen, die diese Lehre nicht nur Juden und dem Judentum aberkannten, sondern sie für sich selbst in Anspruch nahmen. Um dies zu erreichen, schufen sie ein Zerrbild des Judentums, das zur Grundlage für Judenfeindschaft und Antisemitismus wurde.

Die beiden Bände, die nun erschienen sind, positionieren sich in dieser Auseinandersetzung differenziert und mit Umsicht, aber auch mit großer Deutlichkeit.

Der erste Band der Schriften zur jüdischen Sozialethik (erschienen im Jahr 2011) spürte den Ursprüngen der jüdischen Gerechtigkeitslehre im jüdischen Gottesverständnis nach. Im zweiten Band geht es nun um die konkreten Inhalte der ethischen Selbstverpflichtung dem Mitmenschen gegenüber. Damit ist freilich nicht Mitleid gemeint, sondern „das tatsächliche Tun“: „Die Liebe zum Nächsten soll Leidenschaft sein, den Mitmenschen vor Not und Unrecht zu bewahren, d.h. für Gerechtigkeit zu sorgen, Bedürftigen und Hilfesuchenden zur Seite zu stehen und sie mit Würde zu behandeln. Für die Empfangenden wiederum gilt, mit der ihnen zukommenden Mildtätigkeit verantwortlich umzugehen.“
Die Autoren beklagen allerdings nicht nur die judenfeindliche Inanspruchnahme diese Ethik durch die christlichen Kirchen über Jahrhunderte. Sie bedauern auch die christliche Verwässerung der jüdischen Gerechtigkeitslehre zu einer Haltung des Mitleids, das sich zwar den Folgen von Unrecht, weniger aber dem Unrecht selbst in den Weg stellen will.

Auch Ludwig Philippson (1811-1889), ein „Wortführer des religiös-progressiven Judentums und des politisch liberalen jüdischen Bürgertums“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts, streitet in seinen Schriften um eine Anerkennung der sozialethischen Botschaft des Judentums und des Judentums selbst als moderner bürgerlicher Konfession.

Doch in den beiden Vorlesungsreihen (Die Entwickelung der religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam und die Religion der Gesellschaft), die im nun vorliegenden Band wieder zugänglich werden, wendet er sich engagiert und in wohltuend verständlicher Sprache eben auch einer „Fundamentalkritik des Christentums“ zu. In einer differenzierten, aber gleichwohl ungeschminkten Analyse spürt er dem epochalen Unrecht der christlichen Diskreditierung des Judentums nach, kommt aber zu dem nüchternen, wie aufregenden Schluss, dass sich die Einfachheit der jüdischen Gerechtigkeitslehre gegen ihre Bekämpfer historisch durchsetzen wird – eine Vision, die heute, fast 70 Jahre nach der Shoa, und angesichts der Verwerfungen einer aus den Fugen laufenden Globalisierung eine unübertroffene Brisanz beinhaltet.

Der dritte Band der Schriften zur jüdischen Sozialethik soll daher nicht ganz zufällig dem Thema Recht – Soziale und ökonomische Gerechtigkeit gewidmet sein. In ihm sollen übrigens auch deutsch-jüdische, wirtschaftspolitische Wortmeldungen und Entwürfe aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu Wort kommen.

DISS-Neuerscheinung: Nächstenliebe und Barmherzigkeit

In der Reihe Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Anthologien (herausgegeben von: Michael Brocke, Jobst Paul und Siegfried Jäger) erschien der Band

Nächstenliebe und Barmherzigkeit
Schriften zur jüdischen Sozialethik
Herausgegeben von: Michael Brocke und Jobst Paul.

cover-naechstenliebe-Aus jüdischer Sicht ist Gotteserkenntnis nicht denkbar ohne die ethische Selbstverpflichtung dem Mitmenschen gegenüber. Dabei geht es um mehr als um Gesinnung oder Mitleid, sondern um das tatsächliche Tun, aus Selbstachtung und Pflicht-Empfinden heraus: Die Liebe zum Nächsten soll Leidenschaft sein, den Mitmenschen vor Not und Unrecht zu bewahren, d.h. für Gerechtigkeit zu sorgen, Bedürftigen und Hilfesuchenden zur Seite zu stehen und sie mit Würde zu behandeln. Für die Empfangenden wiederum gilt, mit der ihnen zukommenden Mildtätigkeit verantwortlich umzugehen. 19 deutsch-jüdische Autoren thematisieren im vorliegenden Band die Lehre von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Kern des Judentums. Sie beklagen zugleich, wie das Christentum diese Lehre dem Judentum aberkannte, um sie für sich selbst zu reklamieren, und dazu ein Zerrbild des Judentums schuf, das als Grundlage für Judenfeindschaft und Antisemitismus dient. Die Autoren sind sich gleichwohl gewiss, dass all dies die Geltung der jüdischen Religion nicht treffen kann.

 

Der Band ist erhältlich im Boehlau-Verlag.

Nächstenliebe und Barmherzigkeit
Schriften zur jüdischen Sozialethik
Herausgegeben von: Michael Brocke und Jobst Paul
2015, 295 S.
Preis: € 39.90 [D]  |   € 41.10 [A]
978-3-412-22279-6

 

DISS-Neuerscheinung: Ludwig Philippson

In der Reihe Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Werkausgaben (herausgegeben von: Michael Brocke, Jobst Paul und Siegfried Jäger) erschien der Band mit ausgewählten Werken von Ludwig Philippson.

cover-philippson-Der Rabbiner und Publizist Ludwig Philippson (1811–1889) hat sich als einer der Wortführer des religiös-progressiven Judentums und des politisch liberalen jüdischen Bürgertums einen Namen gemacht. Sowohl mit rhetorischen und schriftstellerischen Talenten gesegnet als auch mit organisatorischem Geschick engagierte er sich für die politische Gleichstellung und gesellschaftliche Integration der Juden in ihrer deutschen Umwelt. Wann immer sich Gelegenheit bot, ergriff er zudem das Wort, um das Judentum als moderne bürgerliche Konfession zu beschreiben. Seine theologische Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben lenkte Philippsons Aufmerksamkeit daher aber auch immer wieder auf die christliche Religionsgeschichte sowie auf die jüdisch-christliche Beziehungsgeschichte, die er zum Thema zahlreicher Schriften machte.

 

 

 

 

Der Band ist erhältlich im Boehlau-Verlag.

Ludwig Philippson
Ausgewählte Werke
Herausgegeben von Andreas Brämer
2015, 337 S.
Preis: € 59.90 [D]  |   € 61.60 [A]
978-3-412-22444-8

Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit jage nach

Rede von DISS-Mitarbeiter Dr. Jobst Paul auf der Gedenkfeier anläßlich der Pogromnacht vom 9. November 1938 am Donnerstag, 7. November 2013, Ratssitzungssaal des Duisburger Rathauses

 

צדק צדק תרדף
(Dtn 16, 20) –

Zedek zedek tirdof

(…)

 

In diesen Tagen jährt sich die Pogromnacht 1938 zum 75. Mal.

Doch bedeutet diese Zahl, dass es eine besondere, ja eine hervorgehobene Wiederkehr dieses Tages geben könnte? Verhilft uns ein solcher Jahrestag allein schon zu einer inhaltlichen Orientierung? Offenbar ist eher das Gegenteil richtig – ein solcher Tag fordert besonders dazu heraus, die Inhalte von Gedenken und Erinnerung erneut zu bestimmen. Sie fußen in der Vergangenheit, reichen aber in die Zukunft.

Richten wir mit dieser Absicht unsere Vorstellung zunächst auf die Duisburger Novembertage des Jahres 1938, auf das Räderwerk der NS-Partei, auf parteilastige Verwaltungen und Dienste, auf die hier und dort, wie überall in Deutschland, zuschlagenden Trupps kräftiger Männer. Die Frage ist müßig, wie genau oder wie wenig das alles im Einzelnen geplant war. Die materielle Ausstattung der Trupps reichte jedenfalls zum Zerstörungswerk, das am 9. November 1938 um Mitternacht in Duisburg, Ruhrort und Hamborn begann und sich bis zum 11. November hinzog.

Wir sehen das Inferno des Brandes, hören das Klirren von Scheiben, das Zersplittern von Möbeln auf den Straßen der Stadt (einer der Verfolgten wird in dieser Nacht getötet). Und wir ahnen, wie viele Zeugen, Bürgerinnen und Bürger von Duisburg, es gegeben haben muss.

Ihnen gegenüber steht die nur noch kleine jüdische Gemeinschaft Duisburgs. Viele sind bereits geflohen oder emigriert. Und erst Tage zuvor ist die gesamte Gemeinde der jüdisch-osteuropäischen Einwanderer aus der Stadt deportiert worden. Der Terror vom 9. November zielt also auf die letzte Demütigung der verbliebenen Gruppe.

Und während die Synagoge an der Junkernstraße niederbrennt, drängen sich Mitglieder der restlichen Gemeinde um Rabbiner Neumark in dessen Wohnung in der Fuldastraße, um dort einen Gottesdienst zu halten. So beschreibt es später der Sohn Jehoschua Amir aus der Erinnerung.

Doch die Pogromnacht – das waren zwei Tage und Nächte. Da war die Entrechtung, der Entzug der Existenzgrundlagen der deutschen Juden schon fünf Jahre lang im Gang, Schritt für Schritt. Und die Transport- und Tötungsmaschinerie des NS-Staats sollte erst noch anlaufen.

Und doch beginnt hier nicht die Vergangenheit, die es zu erinnern gilt. Denken wir zum Beispiel an die besorgten Diskussionen in den Duisburger jüdischen Vereinen und Gemeinden schon 30 Jahre zuvor, etwa um 1904, als Mannaß Neumark hier in Duisburg sein Amt antrat, oder lesen wir in den Reden des Mülheimer Predigers Otto Kaiser zwischen 1901 und 1907: Ständiges Thema sind die immer neuen, nicht enden wollenden antisemitischen Kampagnen, die die Mitglieder der jüdischen Gemeinden und Vereine so schwer belasten.

Ja, sogar die Wahnvorstellung vom ‘Ritualmord’ ist um 1900 noch aktuell, die Beschuldigung nämlich, Juden raubten Christenkinder oder christliche Frauen, um an deren Blut zu kommen – fürs Pessach-Fest.

Oder gehen wir weitere 30 Jahre zurück, in die Jahre nach der Reichsgründung, nach dem Börsenkrach des Jahres 1873. Es sind keine verrückten Außenseiter, sondern politische, bürgerliche und wissenschaftliche Eliten, die sich in antisemitischen Parteien organisieren, um nun ‘den Juden’ den Kampf anzusagen. Verlage in Westfalen verschicken 100 000de antisemitischer Hetzbroschüren kostenlos nach Osteuropa, nach Ungarn und ins Österreichische. Die Namen August Rohling und Wilhelm Marr werden zum Synonym für den christlichen und den völkischen Vernichtungswillen dem Judentum gegenüber.

Blicken wir noch weiter zurück, stellen wir uns der deutschen Judenfeindschaft in und nach der deutschen Aufklärung, die in Gesetze und Verordnungen Dutzender deutscher Staaten gegossen war, eine Feindschaft, die Wissenschaft, Philosophie und Künste, ja die Alltagskultur beherrschte. Seit 1804 kommt es regelmäßig zu antijüdischen Hetz-Kampagnen, losgetreten von Literaten, Kirchenvertretern oder Staatsbeamten.

Aber nicht nur das – wir sehen eine jüdische Minderheit in Deutschland, die man seit 1800 – Generation um Generation – bis 1869 – um ihre Würde und rechtliche und politische Gleichberechtigung kämpfen lässt, um sie ihr – eigentlich immer – doch wieder vorzuenthalten. Es ist ein sehr, sehr böses Spiel über viele Jahrzehnte, meist im Namen der Doktrin vom christlichen Staat und aus Motiven, die oft genug auch ausgesprochen wurden, Neid und Habsucht.

All dies ist unserer Erinnerungsarbeit anheim gegeben, die tief eingeschriebene Judenfeindschaft in der Mitte der deutschen Gesellschaft – über einen Zeitraum von 1 ½ Jahrhunderten, vor der Pogromnacht 1938, vor der Shoah (von Mittelalter, Reformation und Gegenreformation ganz zu schweigen).

Dies ist die erste Form, wie wir das Wort aus der hebräischen Bibel Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit jage nach beherzigen und beglaubigen sollten: Gerechtigkeit den, d.h. allen Verfolgten gegenüber.

Aber dies ist nicht alles. Es ist nur die Hälfte. Die zweite Hälfte ist die Frage, wie man dieses unermessliche Unrecht Menschen deshalb antun konnte, weil sie sich zum Judentum bekannten.

Die einfache Antwort haben deutsche Juden im 19. Jahrhundert hundert- und tausendfach zu Papier gebracht: Nur dort, wo Lügen über das Judentum eine Chance haben, weil die Unkenntnis des Judentums kultiviert und die Kenntnis des Judentums diskreditiert wird, sind Judenfeindschaft und Antisemitismus möglich, oder sogar programmiert. Und tatsächlich gehörte es 150 Jahre lang – vor der Shoah, vor der Pogromnacht 1938 – zum kulturellen Selbstverständnis der Deutschen, in Schulen, Kirchen und Universitäten die herabsetzendsten Dinge über das Judentum zu lehren, – und darauf zu achten, dass deutsch-jüdische Sprecher und Autoren möglichst nicht zu Wort kamen oder gehört werden konnten.

Gerechtigkeit dem Judentum gegenüber, das ist daher die zweite Form, in der das Bibelwort zum Appell wird – Gerechtigkeit einer ‘Religion der Gerechtigkeit’ gegenüber, die seit über 3000 Jahren von jedem Einzelnen, er sei an hoher oder tiefer Stelle, Liebe, Achtung und Respekt für den Nebenmenschen fordert. Einer Religion gegenüber, die es jedem zur Pflicht macht, für die friedliche Weltgesellschaft, für soziale und ökonomische Gerechtigkeit innerhalb der menschlichen Geschichte, also hier und jetzt, zu arbeiten.

Und was Deutschland betrifft: Wir sollten in uns aufnehmen, dass Immanuel Kants Kategorischer Imperativ, seine Vorstellung von der Pflicht dem Nächsten gegenüber, nicht ohne das Denken eines großen jüdischen Lehrers in Berlin möglich gewesen ist. Gemeint ist Moses Mendelssohn, der 1763 den 1. Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften gewann – mit der Schrift Über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften.

Kant, der übrigens mit Sprüchen gegen ‘die Juden’ nicht geizte, erhielt damals nur den zweiten Preis. Danach faszinierte ihn Mendelssohns Selbstständigkeit, insbesondere seine naturrechtliche Begründung der Gewissensfreiheit, so sehr, dass er sogar auf eine Zusammenarbeit hoffte. Mendelssohns Werk ‘Jerusalem’ feiert er 1783 – Mendelssohn selbst gegenüber – als “Verkündigung einer großen bevorstehenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird.”

Das alles mitzubedenken ist wichtig, beim Blick auf Deutschland nach der Shoah, als eine ‘deutsche Kultur’ zu existieren aufgehört hatte, als kein Werte-Kompass fürs neue deutsche Grundgesetz mehr überdauert hatte – bis auf die Kant’sche Philosophie, d.h. bis auf ihr, von der deutsch-jüdischen Aufklärung inspiriertes Gleichheits-Ethos.

Denken wir auch daran, wie sehr sich die deutsche Tradition des Wohlfahrtsstaats der Energie verdankt, mit der viele starke, jüdische Frauen zu Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland für soziale Gerechtigkeit kämpften. Sie halfen, dem Bismarck-Reich etwas abzutrotzen, das ebenfalls seinen Weg ins deutsche Grundgesetz fand – als Sozialstaatsgebot. Und erinnern wir uns schließlich auch daran, wie sehr Ludwig Erhardts Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft von dessen jüdischem Lehrer, Franz Oppenheimer, inspiriert war.

Ich denke, diese wenigen Streiflichter genügen, um uns von unserer zweiten Deutung des Bibelworts, nämlich als Appell zur Gerechtigkeit dem Judentum gegenüber, zu einer dritten Deutung zu führen, nämlich zur Forderung, Gerechtigkeit zu üben unserer heutigen kulturellen Identität gegenüber.

Manche werden darin eine Forderung sehen, die erneut eine bloße Last beinhalten soll. Tatsächlich kann es für uns keine Identität geben, die nicht durch Verantwortung für die Vergangenheit geprägt bleibt.

Es gibt allerdings noch eine zusätzliche – und überraschende Antwort. Sie findet sich schon in den Aufsätzen, Predigten und Büchern deutsch-jüdischer Autoren des 19. Jahrhunderts wie Abraham Geiger, Ludwig Philippson, Gabriel Riesser oder Leopold Stein. Diese litten nicht nur unter ihrer unduldsamen Umwelt, sondern sie beklagten auch das Leiden, das sich diese Umwelt durch ihre eigene Unduldsamkeit selbst zufügte und damit ihre eigene intellektuelle und kulturelle Entwicklung blockierte – oder genauer: das Leiden, das sich diese Umwelt durch ihre Weigerung zufügte, sich zu einem Teil der eigenen Identität zu bekennen, nämlich zum jüdischen Teil ihrer christlichen Identität.

Die Lehre daraus für uns heute ist: Wir können der Verantwortung für die Vergangenheit gar nicht gerecht werden, wenn wir uns nicht zur eigenen Identität bekennen, und das heißt – übrigens für Christen und Muslime – zu einer im Judentum wurzelnden Identität.

Oder umgekehrt: Wenn dieser Akt des Erkennens, der An-Erkennung des Judentums weiterhin vertagt und wenn das ‘Jüdische’ in der beliebten Formel von der christlich-jüdischen Tradition ein unverstandenes oder gar – dem Christlichen gegenüber – ein zu vernachlässigendes Anhängsel bleibt, bleiben alle Gefahren latent, denen Juden und Judentum durch nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaften bisher ausgesetzt waren.

Es ist dieser Zusammenhang zwischen dem Nicht-Kennen und Nicht-Anerkennen des Judentums durch die nicht-jüdische Umwelt einerseits und Antisemitismus und Gewalt andererseits, der Generationen deutscher Juden seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1938 umtrieb. Nicht wenige sahen schon im frühen 19. Jahrhundert Tod und Vertreibung voraus, sollte es bei der Leugnung bleiben. Alle aber hofften auf die Zeit, da die christliche Kultur endlich von der Übertrumpfungshaltung ablassen und stattdessen das Judentum als ihre ethische Grundlage anerkennen würde. Dann würde sich diese Kultur sozusagen mit sich selbst versöhnen und könnte ‘heil’ werden und dann würde ein ungeahnter Aufbruch in der Menschheit möglich.

Wie gehen wir an diesem Tag damit um? Entscheiden wir uns dafür, vor allem die dunkle Mentalität der Antisemiten, die Macht der Gewalt zu beklagen, oder gedenken wir des Leidens der Verfolgten, indem wir den, allem zum Trotz, ungebrochenen Optimismus des Judentums in uns aufnehmen, die jüdische Friedens- und Gerechtigkeitsvision, die von der Gewalt vernichtet werden sollte?

In seinem großen Werk Das Wesen des Judentums, das er 1905 in Düsseldorf abschloss, schreibt Leo Baeck, der Gedanke der Zukunft sei ein “Eigenes der jüdischen Religiosität”. Eine “Spannung mit all ihrer Tragik” zwischen einem “Menschendasein” und der Ferne des Ziels. Diese Spannung, aber auch die Einheit von beiden, “das ist die Zukunft, wie sie im Judentum erfahren wird, das Messianische, das ihm eigen ist”. Es ist die Sehnsucht nach der “Einheit der Nationen” und der “Einheit der Zeiten”.

Und der Mülheimer Prediger Otto Kaiser fragt im gleichen Jahr 1905, warum wir die Hoffnung auf die “Vervollkommnung der Menschheit” aufgeben sollten? Das Vertrauen auf die Zukunft sei “das Lebenselixier” Israels – “weil das Judentum ohne den Mut der Zukunft, ohne das Vertrauen auf die Erhebung der Menschheit längst ein Raub der Zeiten, ein Raub der Verfolgungen, ein Raub des Elends, des Drucks und der Verachtung geworden wäre”.

Und 70 Jahre später, nach dem Völkermord, 1975 hier an dieser Stelle in Duisburg, sprach Yehoshua Amir, der Sohn Mannas Neumarks, vom “sengenden Feuer der Verwüstung”, das sich ins Gedächtnis dieser Stadt und dieses Landes eingeätzt habe. Doch zugleich möge auch die “göttliche Gegenwart” nicht verlöschen, in der “Menschen und Völker zu Brüdern werden”. Und ein Jahr später, in der Synagoge in Düsseldorf spricht er die Hoffnung aus, die Deutschen mögen die Fähigkeit wiedererlangen, ihres Volkes froh zu werden, denn nur “aus heilen Völkern” erbaue sich die “heilige Menschheit”.

Das ‘Heil-Werden’ aber – soviel wissen wir nun – führt über die Hinwendung zum jüdischen Teil unserer Identität. Versuchen wir daher, am heutigen Tag, beim Gang zur Gedenkstätte am Rabbiner-Neumark-Weg, neben der Trauer das Messianische zuzulassen, die lebendige Vision der Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach der “Einheit der Nationen” und nach der “Einheit der Zeiten”.