Rezensionen: Die „Deutsche Stimme“ der „Jungen Freiheit“

Zur DISS-Neuerscheinung
Helmut Kellershohn (Hg.)
Die deutsche Stimme der jungen Freiheit
Lesarten des völkischen Nationalismus in Publikationen der extremen Rechten
erschienen vier neue Rezensionen.

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der rechte rand
magazin von und für antifaschistInnen
Nummer 143, Juli/August 2013, S. 37

>Lesarten<
von Jens Breuer

Ein anspruchsvolles Unterfangen ist es, die »Junge Freiheit« (JF) mit der Monatszeitung »Deutsche Stimme« (DS) zu vergleichen: Die 1986 gegründete JF erscheint seit 1994 wöchentlich. Derzeit hat sie einen Umfang von 24 Seiten, in den letzten zwanzig Jahren sind so mehr als 20.000 Seiten bedruckt worden. Die DS besteht seit 1976, sie erscheint monatlich. Das heutige Format ist jedoch nicht mit dem von früher vergleichbar. In der >Ära< von Parteichef Udo Voigt ist sie kontinuierlich ausgebaut worden und umfasst heute 28 Seiten – das macht seit 1996 rund 5.000 Seiten. Hinzu kommt, dass beide Blätter einer unterschiedlichen politischen Ausrichtung folgen. Die JF möchte ein konservatives Medium sein, das Organ einer gemäßigten Rechten. Die DS indes ist die Parteizeitung der NPD und steht politisch im offen neonazistischen Milieu. Trotzdem betont Helmut Kellershohn, der Herausgeber des Sammelbands »Die >Deutsche Stimme< der >Jungen Freiheit<«, haben beide Zeitungen eine gemeinsame politische Basis, den völkischen Nationalismus. Neun Beiträge umfasst das Buch, ergänzt um biographische Angaben zu den rechten Publizistinnen. Inhaltlich wenden sich die Aufsätze Einzelfragen zu, fünf vergleichen beide Medien entlang der Diskursfelder Migration, Gender, Geschichtspolitik und Parteien(-kritik) sowie hinsichtlich ihres Antisemitismus. Auch die anderen Texte nehmen Einzelfragestellungen auf, die Grundzüge der NPD-Programmatik, Agitation gegen die EU-Freizügigkeit und Positionen zur deutschen Außenpolitik. Ihre Qualität ist unterschiedlich, das Niveau in der Regel hoch. Allerdings wäre ein weiterer Beitrag zu den gegensätzlichsten Positionen zwischen beiden Zeitungen interessant gewesen. Zwar sind alle Beiträge differenziert, dennoch besteht die Gefahr, die beiden Zeitungen für >eine Soße< zu halten.

Insgesamt ist der Band interessant. Allein die Einleitung von Kellershohn sowie sein Beitrag zum Konservativismusverständnis der JF sind lesenswert. Vergleichbares schreibt derzeit niemand. Das Geld für die Anschaffung des Buches ist gut investiert.

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junge welt
Die Tageszeitung
30.7.2013, Feuilleton, S. 12

Buchrezension
Ineinandergreifende Strategien
Das Duisburger Institut für Sozialforschung seziert den völkischen Nationalismus der Rechtspresse
Von Phillip Becher

Seit vielen Jahren kann die Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) ohne Zweifel als das publizistische Flaggschiff der Neuen Rechten in Deutschland betrachtet werden. Nun hat das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung in dem Buch »Die Deutsche Stimme der Jungen Freiheit« den ideologischen Kern dieses Zeitungsprojekts unter die Lupe genommen: den »völkischen Nationalismus«. Dabei erweitert das Team um Herausgeber Helmut Kellershohn die Analyse mittels einer vergleichenden Perspektive, die die Deutsche Stimme (DS) als Organ der NPD mit einschließt. Dem liegt die theoretische Prämisse zugrunde, daß sich der völkische Nationalismus der Untersuchungsobjekte aus zwei unterschiedlichen Quellen speist, namentlich einer »jungkonservativen« im Falle der JF und einer »nationalsozialistischen« auf seiten der DS. Diesen Strömungen entsprechen divergierende Strategieoptionen (eine »Strategie der kleinen Schritte« versus rechter »Fundamentalopposition«), deren Verhältnis zueinander als »Gleichzeitigkeit von Konkurrenz und Konsens« bezeichnet wird. Mit der vergleichenden Betrachtung der Themenfelder Antisemitismus, Migration, Geschlechterdiskurse, Geschichtspolitik, Parteienkritik und Außenpolitik haben die Autorinnen und Autoren ein umfassendes Bild der Motivwahl in extrem rechter Publizistik gezeichnet. Insbesondere der von Regina Wamper durchleuchtete Antisemitismus veranschaulicht das Ineinandergreifen der von JF und DS verfolgten Strate­gien: Während die »Jungkonservativen« unter dem Motto einer angeblichen Verteidigung der Meinungsfreiheit die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung des Völkermords an den europäischen Juden inkriminieren, ohne den Holocaust selbst zu leugnen, läßt die neofaschistische Presse geschichtsrevisionistische Stimmen zu Wort kommen. Wo die JF einen Kult um rechtsgerichtete Hitler-Gegner wie Stauffenberg pflegt und eine totalitarismustheoretische Distanz zum historischen Faschismus aufbaut, um an hegemoniale Diskurse anzudocken, widmen sich die Schreiber der DS unter anderem der journalistischen Pflege des Mythos eines angeblichen »Bombenholocaust«. Von unmittelbar praktisch-politischem Interesse ist vor allem die Kritik der extremen Rechten am »Parteienstaat«, die sich Kellershohn gemeinsam mit Giesbert Hunold unter Rückgriff auf Nicos Poulantzas angesehen hat. Die in beiden Zeitungen vorgebrachten Forderungen nach mehr »direkter Demokratie« sind Teil der rechten Strategie. Wiederholt tauchen Namen wie Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck oder Armin Mohler als Referenzen auf, die als Stichwortgeber für unterschiedliche Teile der deutschen Rechten im letzten Jahrhundert wirkungsmächtig wurden. Eine von Michael Lausberg besorgte biographische Übersicht im Anhang erleichtert die Zuordnung der wichtigsten rechten Autorennamen. Leider verzichtet der Band, dem in großer Zahl Leser zu wünschen sind, auf ein Fazit, das die verschiedenen Themen und Argumentationsfäden wieder zusammenführt.

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Lotta
Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen
Heft 52, Sommer 2013

Die „Deutsche Stimme“ der „Jungen Freiheit“
Von Verena Grün

Die Texte des Sammelbands untersuchen diskursanalytisch die Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) und die monatlich erscheinende Deutsche Stimme (DS). Während erstere sich in einer jungkonservativen Tradition sieht und eine Zurechnung zum Spektrum der extremen Rechten von sich weist, stellt letztere das Parteiorgan der NPD dar. Dennoch, so die Analyse der Autor_innen, eint beide die Grundlage eines „völkischen Nationalismus“ – allerdings in einer je unterschiedlichen Lesart.

Die beiden ersten Beiträge des Buchs widmen sich der Ideologie der NPD bzw. der DS. Diverse Programme bzw. ausgewählte Artikel werden auf den völkischen Nationalismus hin untersucht. Ein langer Text des Herausgebers über den „’wahren‘ Konservatismus der Jungen Freiheit“ arbeitet die christlichen wie auch völkischen Grundlagen heraus und nimmt eine Positionsbestimmung des Blattes im konservativen Spektrum vor. Es schließen sich vergleichende Untersuchungen zu den Themenfeldern Antisemitismus, Migration, Geschlechterbilder, Geschichtspolitik, Parteienkritik und Außenpolitik an. Den Abschluss bilden Kurzdarstellungen zentraler Autorinnen der JF und der DS.

Die Methode erfordert eine umfassende Arbeit mit Zitaten. Daher findet stets eine enge Verknüpfung von Material und Analyse statt. Die Sprache ist allerdings eher universitär geprägt. Wer sich von Formulierungen wie „Resultat einer Applikation der Kernideologeme“ nicht abschrecken lässt, erhält bei der Lektüre einen breiten Überblick, wie in den Zeitungen einzelne Themen verhandelt werden und wie diese ideologisch fundiert sind.

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Portal für Politikwissenschaft
Die Annotierte Bibliografie der Politikwissenschaft

Dirk Burmester, Rezension zu: Helmut Kellershohn: Die „Deutsche Stimme“ der „Jungen Freiheit“

Erstmals werden die Zentralorgane der extremen Rechten, „Junge Freiheit“ und „Deutsche Stimme“, vergleichend untersucht. Die Beiträge (allesamt entstanden am Duisburger Institut für Sprach‑ und Sozialforschung) sind indes meist schon einige Jahre alt und werden in diesem Band zusammengeführt. Die inhaltliche Auseinandersetzung ergänzt Michael Lausberg durch eine biografische Darstellung der wichtigsten Publizisten beider Medien. Insgesamt scheinen die Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden zu überwiegen – der Herausgeber schreibt von einem „Kontinuum mit Brüchen“ (7). Die intellektuell geprägte Bewegung der Neuen Rechten („Junge Freiheit“) teilt demnach mit der NPD (Parteizeitung „Deutsche Stimme“) einen völkischen Nationalismus und ist sich auch sonst über viele Inhalte mit ihr einig. Sie wählt aber eine Strategie der kleinen Schritte hin zu einer neuen rechtspopulistischen Bewegung oder Partei. Die NPD geriert sich als Fundamentalopposition, experimentiert aber auch mit gemäßigtem Auftreten und aktuellen Themen, die ihrer Ansicht nach potenzielle Wähler umtreiben. Um ihr Ziel der Anschlussfähigkeit an konservativ‑bürgerliche Diskurse zu erreichen, bemüht sich die „Junge Freiheit“ um eine eindeutige Abgrenzung zur NPD. Neben den verschiedenen Zielgruppen und Strategien bestehen auch einige inhaltliche Unterschiede, etwa in Bezug auf die Judenfeindlichkeit. Regina Wamper zufolge diskreditiert die „Junge Freiheit“ die Kritik am Antisemitismus und verschafft diesem einen diskursiven Raum, während die „Deutsche Stimme“ offen antisemitische Inhalte verbreitet. Die „Junge Freiheit“ vertritt „konservativ‑christliche Positionen mit einer traditionalistischen bis fundamentalistischen Prägung“ (120), während der klassische Rechtsextremismus eine Art Neuheidentum propagiert. Der Band führt tief in die Ideologiewelten des deutschen Rechtsextremismus ein. Es wird deutlich, wo und warum sich Neonazis von Neuen Rechten unterscheiden, aus welchen geistigen Traditionen heraus sie argumentieren und welche Strategien sie wählen. Da gerade Letztere mitunter schwer zu enttarnen sind, ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Sensibilisierung und politischen Bildung.

 

Dirk Burmester (DB)
Dr., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Angestellter der Freien und Hansestadt Hamburg.

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Helmut Kellershohn (Hg.) Die „Deutsche Stimme“ der Jungen Freiheit“. Lesarten des völkischen Nationalismus in zentralen Publikationen der extremen Rechten Unrast-Verlag, Münster 2013 329 Seiten, 28 Euro ISBN 978-3-89771-752-7

Rezensionen

Auf zwei neue Rezensionen von DISS-Publikationen möchten wir hinweisen: Auf dem PW-Portal (Portal für Politikwissenschaften) erschien eine Rezension von Christoph Busch zum Buch Rechte Diskurspiraterien.

Diese Diskurspiraterie wurde bereits in mehreren Aufsätzen an einzelnen Beispielen analysiert, allerdings gelingt es hier erstmals, das Thema hinsichtlich mehrerer Dimensionen in einem größeren Kontext zu bearbeiten. Aufschlussreich sind unter anderem die Artikel zu den Themenfeldern Antikapitalismus, Feminismus und Pazifismus. Sie verdeutlichen, wie die radikale Rechte diese aufgreift, völkisch-nationalistisch umdeutet und damit Anschlüsse an die Diskurse der „Mitte“ sucht. Interessant ist insbesondere der Beitrag von Lenard Suermann zu den Autonomen Nationalisten. Er arbeitet überzeugend am Material „ein vielschichtiges Bild des Phänomens ‚AN‘“ (188) heraus, das eben auch die Widersprüche und Spannungsfelder akzentuiert und in den Kontext der gesamten Neonaziszene setzt. Dabei wird auch deutlich, dass die AN keine Entwicklung nach einem Masterplan nehmen, sondern dass es sich vielmehr um eine tentative Suchbewegung handelt, die vor allem jugendkulturelle Praxen erfolgreich integrieren konnte.

Den vollständigen Beitrag lesen Sie bitte hier: Rezension Christoph Busch

Michael Lausberg beschäftigt sich in TABULA RASA – Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur mit dem DISS-Titel zu den Anschlägen in Norwegen Das hat doch nichts mit uns zu tun.

Als Untersuchungsergebnis wurde festgehalten, dass alle untersuchten Medien eine Externalisierungen des Täters und der Tat betrieben: „Während zu Recht konstatiert wird, dass Breivik sich in rechten Milieus bewegt hat und offenkundig deren Ideologien vertritt, wird eine Auseinandersetzung mit zentralen Aussagen Breiviks Ideologie im je eigenen Spektrum abgewehrt.“
Die Morde Breiviks wurden vor allem in rechten Medien als Reaktion auf „islamistischen Terror“ gewertet, auf diese Weise wurde eine Schuldumkehr betrieben. Bei der Berichterstattung über die Anschläge in Norwegen kam es selbst zu rassistischen Argumentationsmustern; die Ursachen für (antimuslimischen) Rassismus wurden oft in der Migration selbst und bei den Migranten gesucht. Das Denken und Handeln Breiviks wurde in den Bereich des Pathologischen verschoben. Die These des „Einzeltäters“ wurde gebetsmühlenartig wiederholt. Diese Argumentationsmuster dienten auch der Abwehr der eigenen Verantwortung für die entsprechenden Diskurse.
Es wurde festgestellt, dass „rassistische Implikationen in Islam- und Migrationsdiskursen so fest verankert sind, dass dieses Ereignis nicht bewirkte, diese grundlegend zu hinterfragen.“ Eine Selbstreflexion über eigene Schuld und Mitverantwortung fand in den seltensten Fällen statt. Viele bürgerliche Medien betonten eine Mitschuld der extremen Rechten, die – gemäß der Extremismustheorie – am Rand der Gesellschaft verortet werden. Der alltägliche Rassismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spielte eine bei der Berichterstattung nur eine marginale Rolle, Verweise auf die so genannte Sarrazindebatte gab es kaum. Margarete Jäger konstatierte: „Dabei hätte die mediale Verarbeitung der Anschläge in Norwegen den Journalistinnen die Augen öffnen können. Sie hätten ein Lehrstück darüber werden können, was die Diskurse mit uns machen und wie stark wir in diese verstrickt sind. Dazu wäre allerdings eine kritische Hinterfragung der jeweiligen Perspektiven notwendig gewesen. Diese hat jedoch nur zaghaft stattgefunden und betraf auch nur die Notwendigkeit der anderen Kontextualisierung. (…) Aber vielleicht sind die Ereignisse in Norwegen ja dazu geeignet, die Diskurse in Deutschland auf mittlere Sicht durcheinander zu wirbeln und die reflexartige Reaktion der Medien zu korrigieren.“

Den vollständigen Artikel von Michael Lausberg lesen Sie hier: Tabula Rasa No 74 (4/2012)

 

Netzfundstück: „In seiner Dringlichkeit kaum zu überbieten“

Auf der Plattform „Kritisch Lesen“ erschien eine ausführliche Rezension unseres Buches zur Rezeption der Anschläge in Norwegen.

Jorane Anders schreibt, der Band sei „in seiner Dringlichkeit kaum zu überbieten“:

Kaum einmal ein halbes Jahr ist vergangen, seit im Anschluss an eine Bombenexplosion in Oslo und einen „Amoklauf“ auf der Insel Utøya die Welt der diskursiven Selbstverständlichkeiten über das Thema Terrorismus und Co ein kleines bisschen zu wanken begann, nur um sich fast im gleichen Augenblick neu zu erfinden. Der Band „,Das hat doch nichts mit uns zu tun!‘ Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien“ liefert in beeindruckender Aktualität politische Analysen und Kontextualisierungen der Diskurse rund um die Anschläge vom 22. Juli 2011. Die Beiträge durchzieht eine Offenlegung der spezifischen Sagbarkeitsräume, die die Verschiebung von einer Interpretation der Ereignisse als „Machwerk des internationalen islamistischen Terrorismus“ hin zur entpolitisierten Tat des extrem rechten und/oder geistig verwirrten Einzeltäters Anders Behring Breivik bedingen.

Die vollständige Rezension lesen Sie bitte hier: http://www.kritisch-lesen.de/2012/03/gegen-entpolitisierung-und-extremismustheorie/

Das Buch erhalten Sie in jeder guten Buchhandlung:
Regina Wamper / Ekaterina Jadtschenko / Marc Jacobsen 2011: „Das hat doch nichts mit uns zu tun!”. Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien. Unrast Verlag, Münster. ISBN: 978-3-89771-759-6. 184 Seiten. 18 Euro.

 

 

Rezension: Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941

Autor: Anton Maegerle

Am 20. Juni jährt sich zum 70. Mal der Überfall Deutschlands  auf die Sowjetunion. Der Karlsruher Historiker Wigbert Benz dokumentiert in seiner Monografie „Der Hungerplan im ‚Unternehmen Barbarossa‘ 1941“, dass bei diesem NS-Großverbrechen „zig Millionen Menschen“ in den besetzten Gebieten der UdSSR verhungern sollten, um Nahrungsmittel für die Wehrmacht und deutsche Bevölkerung frei zu machen.

Dem von der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite des NS-Staates im Rahmen des Eroberungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion praktizierten Konzepts des gezielten Massenmordes durch Hunger, fielen mindestens vier Millionen Menschen in den besetzten Gebieten und mehr als zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer. Da der größte Vernichtungskrieg in der Geschichte nicht planmäßig verlief und der Hungerplan so nicht in vollem Umfang in die Tat umgesetzt werden konnte, wurde die von den NS-Machthabern einkalkulierte Zahl von „zig Millionen“ Hungeropfern jedoch nicht erreicht.

Buchcover: Wigbert Benz: Der Hungerplan

Im ersten Teil seiner Studie analysiert Benz die im Auftrag Hermann Görings  in den für die Kriegswirtschaft zuständigen Dienststellen erfolgten Planungen, beim sogenannten Russlandfeldzug „zig Millionen Menschen verhungern“ zu lassen, um die Ernährung im Deutschen Reich und die der Wehrmacht in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zu sichern. Göring wurde, heute ist dies selbst in Historikerkreisen vergessen, explizit auch wegen seiner Verantwortung für dieses Hungervorhaben bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum Tod verurteilt. Im zweiten Teil skizziert Benz die Entwicklung des Forschungsstandes zum Vernichtungscharakter des  „Feldzuges“, dessen Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Kriegszielen sowie den Grundzügen der Kriegführung und Besatzungspraxis des Regimes, in deren Rahmen das Hungerprojekt geschichtlich zu verorten ist und sich dessen zentrale Fragestellungen erschließen lassen. Die Konzeption des „Hungerplans“ sieht Benz im „Kern“ des nationalsozialistischen Weltbildes, der Einteilung der Völker in wertvolle und minderwertige, begründet. Die wertvollen, an der Spitze die Deutschen, haben das Recht, auf Kosten der minderwertigen besser zu leben, ja „Lebensraum“ und Wirtschaftsraum im Osten zu erobern. Die sowjetischen Gebiete sollen um unnütze Esser bereinigt werden.

„zig Millionen Menschen verhungern“

Im Fokus der Analyse des dritten Kapitels stehen die  zentralen Dokumente des Hungervorhabens. Der Plan, „zig Millionen Menschen verhungern“ zu lassen, wurde im Protokoll der Besprechung des Chefs des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), General der Infanterie Georg Thomas, mit den Staatssekretären aller wirtschafts- und sozialpolitisch wichtigen Ressorts am 2. Mai 1941 festgehalten. Das Protokoll, so Benz, zeigt das „extreme Hungerkalkül“ der deutschen Kriegsplaner für die Besatzungspolitik in der UdSSR. Weitere Eckpfeiler des Hungerplans bilden die wirtschaftspolitischen Richtlinien der Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft, im Vierjahresplan vom 23. Mai 1941 sowie Görings sogenannte „Grüne Mappe“ vom 1. Juni 1941, die als Richtlinien für die Führung der Wirtschaft die Ziele und Methoden zur wirtschaftlichen Ausbeutung der zu besetzenden Ostgebiete festlegten.

Am Rande seiner Monografie stellt  Benz ein für alle mal  klar, dass die von rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Kreisen immer wieder bemühte Präventivkriegsthese, wonach Hitler-Deutschland einem Überfall Stalins auf das deutsche Reich lediglich zuvorkam, ins Reich der Legenden und Mythen gehört. Mutmaßungen über Angriffabsichten Stalins, so Benz, sind „nicht nur unbewiesen“, sondern haben bei der  „Entscheidungsfindung der deutschen politischen und militärischen Führung an keiner Stelle eine Rolle gespielt.“ Enttäuscht zeigt sich Benz am Ende seiner Bilanz, dass der NS-Terror der aktiv betriebenen Hungerpolitik bislang im deutschen Sprachraum nicht zu einem Thema geworden ist. Der Historiker befürchtet, dass viele Bundesbürger beim Begriff „Hungerplan“ an einen Diätplan zum Abspecken überflüssiger Pfunde denken, statt an das nach dem Holocaust größte Massenverbrechen des NS-Regimes. Diesem Mißstand endlich entgegenzuwirken zu können, hat Benz mit seiner glänzenden Analyse der dokumentarischen Grundlage des Hungerplans, eingebettet in die Fokussierung der Ergebnisse der internationalen Forschung zu diesem Thema, selbst einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung getan.

Wigbert Benz
Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941
84 Seiten. Wissenschaftlicher Verlag Berlin wvb. Berlin 2011.
ISBN 978-3-86573-613-0
16 Euro

Dieser Beitrag erschien in gekürzter Fassung zuerst auf vorwärts.de.

Neuerscheinung über die Autonormalen Nationalisten

Zum Thema „Autonome Nationalisten“, einem Teil der militanten Neonazisszene, erschien im Wiesbadener VS-Verlag ein sehr lesenswerter Sammelband:

Jan Schedler, Alexander Häusler (Hrsg.)
Autonome Nationalisten
Neonazismus in Bewegung

VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011
ISBN 978-3-531-17049-7

Buchcover: Autonome Nationalisten

 

Aus der Einleitung:

In den Medien hat dieses neue Erscheinungsbild des Neonazismus oftmals zu oberflächlichen wie zugleich unsachlichen Gleichsetzungen zwischen AN und linken Autonomen geführt, die nach der schlichten Analogie hergeleitet wurden: Die sehen gleich aus, also sind sie auch gleich. Ähnliche Reaktionen sind auch in den politischen Debatten über ‚Extremismus‘ im allgemeinen Sinne zu finden. Ein solcher verkürzter Blick auf das Phänomen der AN findet sich auch in den Schriftenreihen der Extremismusforschung und der Verfassungsschutzbehörden: In der analytisch unhaltbaren Gleichsetzung von Wesen und Erscheinung werden dort stilistische und bewegungspraktische Ähnlichkeiten linksradikaler und neonazistischer Szenen zum Anlass genommen, diese als ‚identitäre Pole‘ eines übergeordneten ‚Extremismus‘ zu verorten. „Neuerscheinung über die Autonormalen Nationalisten“ weiterlesen

Von der freiwilligen Unterwerfung

„Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene“

Eine Rezension von Regina Wamper

Wie ein Krimi liest sich das neue Buch von Andrea Röpke und Andreas Speit. Verständlich und spannend geschrieben vermitteln die AutorInnen ein vielschichtiges Bild von Frauen in der männerdominierten Neonaziszene. Diese treten seit einigen Jahren selbstbewusster auf, präsentieren ihre Ideen in der Öffentlichkeit und spielen eine wichtige Rolle bei der kommunalen Verankerung extrem rechter Strukturen.

Das Buch behandelt Frauen in der NPD als Akteurinnen im Wahlkampf, die Neonaziorganisationen „Ring Nationaler Frauen“ und die „Gemeinschaft Deutscher Frauen“ sowie die Rolle von Frauen in freien Kameradschaften und bei sogenannten Autonomen NationalistInnen. Auch das Wirken von Einzelakteurinnen innerhalb brauner Netzwerke wird dargestellt, so beispielsweise die Aktivitäten der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck.

Cover: Röpke/Speit: Mädelsache!Ein Kapitel widmet sich zudem heidnisch-völkischen Siedlungsprojekten und zeigt zugleich die Schwerpunktsetzung von Frauen in der Neonaziszene auf, Brauchtumspflege und Kindererziehung.

Röpke und Speit nähern sich ihrem Untersuchungsgegenstand sensibel. Sie betonen, dass extrem rechte Frauen und Mädchen sowohl radikal und aggressiv auftreten, nicht minder nazistische Positionen vermitteln als ihre männlichen Gesinnungsgenossen, jedoch „vor Ort, in Stadtteilen oder Gemeinden“ auch diejenigen sind, „die freundlich und nett das Gespräch mit Nachbarn und Vereinsmitgliedern suchen, über Kürzungen im sozialen Bereich, Streichungen bei den kommunalen Angeboten oder Einschränkungen im privaten Umfeld reden wollen“ (S. 8). Hier wird der sanfte Weg gewählt.

Neben dem Werben für Mutterschaft, Brauchtum und völkischer Tradition ist ein weiteres inhaltliches Feld das der sexualisierten Gewalt gegen Kinder, welches Neonazistinnen für eine Kampagne zur Wiedereinführung der Todesstrafe instrumentalisieren.

Bei ihren „Kameraden“ lösen sie mit selbstbewusstem Auftreten in den seltensten Fällen Wohlgefallen aus. Zwar werden Frauen gerne zum Zwecke des Wahlkampfes von Männern „eingesetzt“, die versprochenen Posten erhalten sie jedoch nur in Ausnahmen. Zwar weiß man inzwischen um die Wirkung, die Frauen bei der Vermittlung politischer Inhalte erzielen, doch werden männliche Privilegien gegen Frauen innerhalb der szeneinternen patriarchalen Hierarchie strikt verteidigt.

In der Öffentlichkeit löst das Wirken von Neonazistinnen im sogenannten vorpolitischen Raum immer wieder Verwunderung aus. Auch hier bestimmen nicht weniger sexistische Klischees die Wahrnehmung. Frauen fallen nicht auf, ihnen werden keine aktiven Rollen zugeschrieben. Dies lässt ihnen dann auch den Freiraum, von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeobachtet agieren zu können. Umso wichtiger ist dieses Buch, das mit Hilfe von Gesprächen mit Aussteigerinnen und hervorragender Recherche die aktive Rolle von Frauen im Neonazismus aufzeigt und Handlungsmöglichkeiten gegen die völkische „Graswurzelarbeit“ (S. 21) diskutiert.

Keinen Zweifel lassen die AutorInnen daran, dass es sich bei Aufstreben von Neonazistinnen nicht um antipatriarchale Akte handelt oder gar Positivbezüge auf Feminismen gezogen werden. Feminismus gilt rechten Frauen (wie Männern) nach wie vor als zersetzendes Prinzip. Vielmehr handelt es sich hier um einen offensiven Kampf für die Rückkehr von Frauen ins Private, in Familie und Mutterschaft. Binäre Geschlechterordnungen werden ebenso verteidigt wie Heterosexismus und männliche Dominanz, so widersprüchlich das aktive Eintreten für die eigene Unterwerfung auch sein mag.

 

Andrea Röpke / Andreas Speit: Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene, Ch. Links Verlag, Berlin, 2011, 237 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-86153-615-4

 

„Ich bin alter Nationalsozialist und SS-Führer…“ – Hanns Martin Schleyers Prager Jahre

Rezension: Erich Später: Villa Waigner. Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1939-45, Hamburg 2009: Konkret Verlag, ISBN 978-3930786572, 12€.

Autor: Jens Zimmermann

Am 9. Mai 1945 befreite die Rote Armee die Stadt Prag und damit das von den Nationalsozialisten besetzte Protektorat Böhmen und Mähren. Damit endete eine fast sechs Jahre andauernde Terrorherrschaft, in deren Zeit die erste tschechoslowakische Republik zunächst von der Wehrmacht überfallen und anschließend systematisch vom nationalsozialistischen Herrschaftsapparat ausgeraubt wurde. Mit dem Auftakt zum Vernichtungskrieg im Osten Europas einher ging die Installation eines umfassenden administrativen Apparates zu Erfassung und Vernichtung der tschechoslowakischen Juden. In einem faktenreichen und kompakten Essay zeichnet der profilierte Historiker Erich Später die Jahre vom Münchner Abkommen, das letztlich die militärisch-aggressive Zerschlagung der CSR einleitete, bis hin zur Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Deutschland nach. Auf insgesamt neunzig Seiten erwartet den/die LeserIn eine gut lesbare Studie und das vor allem, weil Später beständig zwischen chronologischer und thematischer Darstellung vermittelt.

Im ersten Kapitel resümiert Später die außenpolitischen Entwicklungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Tschechoslowakei bis zur Invasion der Wehrmacht im März 1939. Bis zum Münchner Abkommen, in dessen Folge die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei annektiert wurden, was die staatliche Souveränität des deutschen Nachbarstaates entscheidend schwächte, war Prag „das Zentrum des politischen und kulturellen Widerstands gegen das nationalsozialistische Deutschland“ (10), welches zahlreichen deutschen Intellektuellen, unter anderem der Familie Heinrich Manns, Asyl und Bürgerrechte gewährte. Die demokratische Tradition der ersten Republik der Tschechoslowakei wurde nun gewaltsam durch den Einmarsch deutscher Truppen beendet. Einen Tag nach der Invasion erschien der Erlass über die Einrichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. Zugleich begannen die administrativ-politischen Bemühungen, das Gebiet der ehemaligen Republik in einen Rassestaat nach dem Vorbild der völkischen Ideologie einzurichten. Fortan schlug sich der antisemitische Vernichtungswahn der deutschen Besatzer in einer massiven Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung nieder, die systematisch ausgeraubt und letzten Endes vernichtet wurde. „„Ich bin alter Nationalsozialist und SS-Führer…“ – Hanns Martin Schleyers Prager Jahre“ weiterlesen

Netzfundstück: Rezension des Schobert-Bandes

Sebastian Friedrich veröffentlichte auf der Website der Stattzeitung für Südbaden eine ausführliche Rezension des Bandes Alfred Schobert: Analysen und Essays.

Brecht bezeichnete jene Intellektuelle, die sich aus Pragmatismus an fetischisierten Sachzwängen orientierten und damit ihre politische Emanzipation aufgaben, als „Kopflanger“ der herrschenden Klasse. Bei der Betrachtung gegenwärtiger Debatten fällt auf, dass Brechts Beschreibung – nicht nur in Bezug auf Sloterdijk – aktuell ist. Mal abgesehen von der Frage, was Intellektuelle zu Intellektuellen macht, trifft sie jedoch nicht auf alle zu. Manche “Intellektuelle“ handeln wider vermeintlicher Wahrheiten, sprechen gewissermaßen gegen den Strich. Einer von ihnen war Alfred Schobert (1963-2006). Beim Unrast Verlag (Edition DISS) erschien kürzlich ein Sammelband von 30 ausgewählten Texten aus dem fulminanten Fundus von etwa 500 Veröffentlichungen Schoberts.[…]

Den vollständigen Text der Rezension finden Sie HIER: stattweb-Rezension: ‚Analysen und Essays‘ von Alfred Schobert

Rezension: Die kollektive Unschuld (Gunnar Schubert)

Autor: Jonathan Messer

Gunnar Schubert: Die kollektive Unschuld.
Wie der Dresden-Schwindel zum nationalen Opfermythos wurde

2009, 2. Auflage, Hamburg: Konkret-Verlag, 13 EUR
ISBN: 978-3-930786-47-3

In ihrem Essay Besuch in Deutschland schrieb die politische Theoretikern Hannah Arendt 1950 ihre Erfahrungen mit dem jüngst besiegten Nazideutschland nieder. Es ist der Text einer irritierten jüdischen Exilantin, die minutiös die Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber dem Geschehenen dokumentiert:

„Diese Gleichgültigkeit und die Irritation, die sich einstellt, wenn man dieses Verhalten kritisiert, kann an Personen mit unterschiedlicher Bildung überprüft werden. Das einfachste Experiment besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich daß man Jude sei. „Rezension: Die kollektive Unschuld (Gunnar Schubert)“ weiterlesen