Thesenpapier zur Rolle der Medien im Integrationsprozeß

Der folgende Text bildete die Grundlage für ein Impulsreferat bei der Eröffnung der Duisburger Interkulturellen Woche am 21.9.2010 in der „Black Box“ des „Kleinen Prinzen“. Die anschließende Podiumsdiskussion relativierte und/oder bestritt die vorgetragenen Thesen zum Teil heftig, allen voran der Stellvertretende Chefredakteur der WAZ, Wilhelm Klümper, der Gutmenschentum, 1968 und Political Correctness in seinen Redebeiträgen deutlich kritisierte. Das Podium war nahezu ausschließlich von lokalen Journalistinnen besetzt.

(Den Bericht auf dem Portal der WAZ-Mediengruppe Der Westen über die Veranstaltung finden Sie hier: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/Medienberichte-schueren-oft-Rassismus-id3745341.html)

Die Rolle der Medien im Integrationsprozess
(Thema der Eröffnungsveranstaltung)

Thesenpapier zur Podiumsdiskussion am 21.9.10 in Duisburg

Autor: Siegfried Jäger

Vorbemerkung:

Meine folgenden knappen Thesen, um die mich die Veranstalter zur Einstimmung gebeten haben, stützen sich auf empirische wissenschaftliche Diskurs-Analysen der Medien zum Thema Einwanderung, Flucht und Asyl wie sie von mir und anderen im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und andernorts seit etwa 1985 durchgeführt worden sind. Diese Thesen bringen auf den Punkt, welche Meinungen zu dieser Thematik in zentralen Medien in Deutschland geäußert worden sind.

Zu diesem Stichwort, also zu Meinung, möchte ich eine These voranschicken, ehe ich mich auf die Stichwörter beziehe, die mir von den Veranstaltern vorgegeben worden sind.

In Artikel 5, Absatz 1 des GG heißt es:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten … Eine Zensur findet nicht statt.

Im 2. Absatz heißt es aber: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze ..“

Bei den Grundrechten heißt es, ich erinnere: 1. Die Würde des Menschen ist unantastbar…. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Auf diesem Hintergrund ist auch die Presse und Meinungsfreiheit zu verstehen. Sie ist also nicht absolut frei, wie häufig behauptet wird: Sie findet ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Diese Schranken werden von den Medien oftmals nicht eingehalten, insbesondere wenn es um den sog. Integrationsprozess geht.

1. Erscheinungsbild von Migrantinnen und Migranten in den Medien

Ich komme nun zur ersten These, Stichwort Erscheinungsbild von Migrantinnen und Migranten in den Medien.

In den Printmedien, aber nicht nur dort, werden Einwanderer und Einwanderinnen, oftmals diskriminiert und rassistisch ausgegrenzt. Wegen des großen Einflusses auf das Bewusstsein der breiten Masse der Bevölkerung, kann man insofern sagen, dass es in Deutschland neben einer ethisch und grundgesetzlich verantwortlichen Meinungs- und Pressefreiheit auch eine ethisch nicht zu verantwortende Meinungs- und Pressefreiheit gibt.

2. Beitrag der Medien zur Normalität/Nichtnormalität

Die Medien tragen erheblich dazu bei, in unserer Gesellschaft für die Unterscheidung von Normalität und Nichtnormalität zu sorgen. Doch auch das ist zwiespältig. Denn als normal wird in den Medien oftmals auch das dargestellt, was rassistisch und nicht rassistisch ist. So wird z.B. behauptet, dass es so etwas wie einen „demokratischen Rassismus“ gebe, Rassismus also in gewisser Weise zur Normalität gehöre. Das mag zwar, statistisch gesehen, stimmen. Das kann man jedoch angesichts der Tausenden von rassistisch motivierten Gewalttaten und Brandanschlägen und mehr als 100 Todesopfern rassistischer Verbrechen seit 1990 nicht als normal und demokratisch bezeichnen.

Denn solche Verbrechen sind gewiss nicht normal im Sinne von menschenfreundlich. Da Rassismus aber auch von den Medien geschürt wird, lässt sich schließen, dass die Medien auch zur Nichtnormalität in unserer Gesellschaft beitragen.

3. Islamdiskurs (Transport von Vorurteilen)

Der mediale Islamdiskurs ist ein Teil des menschenverachtenden rassistisch getönten Einwanderungs-Diskurses. Er betont besonders nur einen Aspekt dieses Diskurses, nämlich die religiöse Komponente, verzichtet aber auch nicht auf sonstige, im rassistischen Diskurs vorhandene Diskriminierungen und Ausgrenzungsargumente.

4. Überhöhung in positiven/negativen Sinn

Ich nenne dazu nur ein Beispiel, den Kriminalitätsdiskurs in den Medien: Hier werden Straftaten von EinwanderInnen oft mit der Herkunft der Täter in Verbindung gebracht, auch wenn sie damit überhaupt nichts zu tun haben. Ferner werden die Straftaten von Einwanderern deutlich drastischer dargestellt als die von deutschen Straftätern. Es handelt sich also signifikant häufig um negative Überhöhungen und um völlig unzulässige Assoziationen von Herkunft und Straftat.

5. Rolle/Verantwortung der Medien

Zur Rolle und Verantwortung der Medien habe ich einleitend aus dem GG zitiert. Ich vertiefe das nur noch ein wenig, indem ich mich auf auf eine Aussage des Bundesverfassungsgerichts beziehe (7/198/2008), in der es heißt: „… das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (ist) eines der vornehmsten Menschenrechte … und für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, weil es erst die ständige geistige Auseinandersetzung, das Lebenselement der Demokratie, ermöglicht.“

Ich erinnere jedoch: Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze …“ In Artikel 3, Absatz 3 aber heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Wobei der Begriff Rasse eigentlich nicht mehr ins Grundgesetz gehört, denn es ist erwiesen, dass es menschliche Rassen nicht gibt.

6. Frage: Wer transportiert was?

Das Thema „Wer transportiert was? Ist so etwas vage formuliert. Ich gehe einmal davon aus, dass damit gemeint ist, welchen positiven oder negativen Beitrag die Medien, alle Medien, für die Aufnahme von Einwanderinnen und Einwanderern in unsere Gesellschaft leisten. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass die Medien mehr oder minder uni sono unkritisch und weiter diskriminierend und rassistisch die Vorgaben der Regierungen zur Einwanderungspolitik in die Bevölkerung hinein transportieren. Diese Vorgaben sind jedoch im Resultat dafür verantwortlich, dass die Aufnahme von Einwanderern und Einwanderinnen in unsere Gesellschaft so schleppend und oftmals undemokratisch verläuft. Dominant sind dabei Kosten-Nutzenkalküle und nicht die Allgemeinen Menschenrechte, auf die sich das Grundgesetz immer noch stützt. Insgesamt kann man sagen, wie dies der freie Journalist Tom Schimmeck in seinem soeben erschienenen Buch behauptet, dass die Medien „kleinmütig und heruntergekommen“ sind und das bedeute, völlig unkritisch gegenüber der herrschenden Politik. Es herrsche nur das „Phantom der Pressefreiheit“.

7. Beitrag zur friedlichen Gesellschaft

Der Beitrag der Medien zur friedlichen Gesellschaft ist demnach, was das Thema Einwanderung betrifft, unterm Strich eher als eher kontraproduktiv einzuschätzen. Da sie aber zur großen „Verdummung“ der Bevölkerung beitragen, kann man vielleicht auch sagen, dass sie insgesamt zu einer politisch aphatischen Gesellschaft beitragen.

8. Manipulation

Abschließend das Thema „Manipulation“ durch Medien! Günter Wallraff glaubt feststellen zu können, dass die Medien, insbesondere BILD, nicht mehr so stark manipulieren wie in den 60er Jahren, was Fälschung und Verzerrung von Statistiken und offene Lügen angeht.

Da mag Günter Wallraff Recht haben. Durch die ständige Wiederholung von Stereotypen und Vorurteilen tragen sie jedoch erheblich dazu bei, dass sich in den Köpfen der Menschen Vorurteile verfestigen, wie sie natürlich mit dem Grundgesetz und den Allgemeinen Menschenrechten nicht zu vereinbaren sind.

Literatur:

Siegfried Jäger/Dirk Halm (Hg,): Mediale Barrieren. Rassismus als Integrationshindernis, Münster (Unrast), 2007 Margret Jäger/Gabriele Cleve/Ina Ruth/Siegfried Jäger: Von deutschen Einzeltätern und ausländischen Banden, Duisburg (DISS), 1998 Website des Projekts „Migration, Integration und Medien

Veranstaltungshinweis: Bochum 24.9.

Am Freitag, 24.9.2010, stellt DISS-Mitarbeiter Rolf van Raden in Bochum sein Buch „Patient Massenmörder“ vor. Beginn: 19 Uhr. Ort: Soziales Zentrum, Bochum, Josephstr.2 /Ecke Schmechtingstr.

Die Veranstaltungsankündigung des Sozialen Zentrums finden Sie HIER: http://www.sz-bochum.de/2010/08/05/buchvorstellung-und-diskussion-zum-thema-psychiatrie-entartung-massenmord/

Netzfundstück: Protonormalistische Anten

Jürgen Link schreibt in seinem Blog Bangemachen gilt nicht zur aktuellen Debatte um die Äußerungen von Thilo Sarrazin:

Nun verteidigen sie ihre “Migrantinnen und Migranten” gegen Sarrazin, unsere Migrantinnen- und Migranten-Forscherinnen und -forscher, verliebt wie sie sind in ihren Begriff “Migrantinnen und Migranten”. Der klingt ja auch so wissenschaftlich, genau wie Repräsentant und Signifikant. Damit kann man vielleicht sogar Exzellenz werden, mit der Migrantinnen- und Migrantenforschung, insbesondere der Migrantinnen- und Migranten-Kinder-Defizite-Forschung. Bloß: Warum kommt das bei “den Menschen” (Angela Merkel) irgendwie schlecht an und wirkt vielleicht sogar wie Wasser auf Sarrazins Mühle?

Weil es die Anten in der deutschen Sprach-, Diskurs- und Kulturgeschichte so in sich haben.

[…]

Warum scheut der “deutsche” Diskurs die sehr deutschen Signifikanten EINWANDERER UND EINWANDERINNEN wohl so sehr? So sehr, dass er selbst dort, wo er ein deutscheres Wort als “Migranten” vorzieht, pedantisch und skrupulantisch “Zuwanderinnen und Zuwanderer” sagen muss? (Während er Auswanderer glatt über die Zunge bringt – und nicht etwa Abwanderer sagen muss.)Etwas theoretischer gefasst: Die Anten gehören diskurshistorisch zum Protonormalismus, d.h. zu jener Auffassung von “Normalität”, die auf starren Grenzen von Normalitäts-Klassen auch innerhalb einer “Population” beruht. (Ausführlich dargestellt im “Versuch über den Normalismus”.) Also genau zu jener Spielart des Normalismus, für die Sarrazin plädiert, deren Wiederbelebungs-Manifest er gerade publiziert hat. Wenn irgendeinem, dann passen ihm die MIGRANTINNEN UND MIGRANTEN glatt ins Konzept – egal ob gegen oder “für” sie plädiert wird.

Lesen Sie den vollständigen Text von Jürgen Link: “Migrantinnen und Migranten”: In diesem Zeichen können sie nur verlieren

Neuerscheinung: Saul Ascher

Der zweite Band der Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft ist erschienen:

Saul Ascher: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Renate Best. Köln: Böhlau 2010, 326 S., 39.90 €.

[Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Werkausgaben. Herausgegeben von: Michael Brocke, Siegfried Jäger und Jobst Paul, Band 2]

Link zum Verlag:

http://www.boehlau.at/978-3-412-20451-8.html

Der Philosoph und Schriftsteller Saul Ascher (1767-1822) gehört zum Berliner Kreis der jüdischen Aufklärung, der Haskala, in der Epoche von Moses Mendelssohn und Immanuel Kant. Als jüdischer Intellektueller in Preußen kritisierte er innerjüdische Zustände, aber auch gefährliche Tendenzen der Gesellschaft allgemein: Ascher reagierte als einer der ersten mit scharfen, ironischen Essays auf die neue, in Sprache und Haltung bis dato beispiellose Judenfeindschaft, die sich unter jungen christlichen Intellektuellen in Berlin ausbildete und die sich bald in der völkischen Bewegung fortsetzte.

Doch auch in Richtung der Berliner Jüdischen Gemeinde entwickelte Ascher unabhängige Vorstellungen von jüdischer Integration, er war einer der ersten Reform-Theoretiker des Judentums und er veröffentlichte seine originellen politischen Vorstellungen über Judentum, Christentum und Deutschtum in diversen Zeitschriften.

Der Band zeigt Aschers Haltung des unerschrockenen freien Schriftstellers schon anhand seiner ersten Schrift. In seinem Essay Bemerkungen über die bürgerliche Verbesserung der Juden, veranlaßt bei der Frage: Soll der Jude Soldat werden? (1788) bestreitet Ascher dem österreichischen Kaiser Joseph II. kurzerhand das Recht, von Juden Militärdienste zu fordern, solange ihnen bürgerliche und politische Rechte vorenthalten werden.

In den drei weiteren, im Band neu abgedruckten Schriften aus den Jahren 1792, 1802, und 1818 wendet Ascher seinen politologischen Scharfsinn auf die künftige Rolle des Judentums und des Christentum und auf die Frage einer wirklichen Revolution der politischen Verhältnisse.

Obwohl Ascher durch seine publizistischen Interventionen stets Aufsehen erregte (er saß sogar im Gefängnis), blieb seine Biographie bisher nur in Bruchstücken bekannt. Der Herausgeberin Renate Best ist es gelungen, über die Auswertung neuer Quellen und eines umfangreichen Archivs völlig neue Aspekte der Biographie Aschers herauszuarbeiten. So ist nun die enge Bekanntschaft zwischen Ascher und Heinrich Heine zwischen 1821 und 1823 gesichert.

Die Herausgeberin Renate Best ist Literatur- und Politikwissenschaftlerin sowie Historikerin mit dem Forschungsschwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte.

Die Edition basiert auf der interdisziplinären Kooperation zwischen dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen und dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung.

Vorankündigung: Rechte Diskurspiraterien

Regina Wamper / Helmut Kellershohn / Martin Dietzsch (Hg.)
Rechte Diskurspiraterien
Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen
Edition DISS Bd. 28
287 Seiten, ca. 20 EUR
Unrast-Verlag, Münster, erscheint im Herbst 2010
ISBN 978-3-89771- 757-2
Zur Vorbestellung beim Unrast-Verlag bitte hier klicken.

In den letzten Jahren ist ein verstärktes Bemühen auf Seiten der extremen Rechten zu beobachten, Themen, politische Strategien, Aktionsformen und ästhetische Ausdrucksmittel linker Bewegungen zu adaptieren und für ihren Kampf um die kulturelle Hegemonie zu nutzen. Dabei handelt es sich keineswegs mehr nur um ein Steckenpferd der intellektuellen Neuen Rechten, vielmehr wird dies auch von NPD und militanten Neonazis praktiziert. Im Resultat hat sich die extreme Rechte eine Bandbreite kultureller und ästhetischer Ausdrucksformen angeeignet, indem sie sich am verhassten ‚Vorbild’ der Linken abgearbeitet hat. Man könnte auch sagen: Um überzeugender zu wirken, hat sie kulturelle Praktiken und Politikformen der Linken ‚entwendet’ – allerdings nicht, ohne sie mit den eigenen Traditionen zu vermitteln.
Solche Phänomene sind keineswegs neu. Auch der Nationalsozialismus bediente sich der Codes und Ästhetiken politischer Gegner und suchte Deutungskämpfe gerade verstärkt in die Themenfelder zu tragen, die als traditionell links besetzt galten. Auch in den 1970er Jahren waren solche Strategien vorhanden. Es stellt sich die Frage, warum und in welcher Form diese Diskurspiraterien heute wieder verstärkt auftreten.
Inhalt
Helmut Kellershohn
Strategische Optionen des Jungkonservatismus
Martin Dietzsch
Strategiediskussion in der NPD
Christina Kaindl
Die extreme Rechte in der Krise
Sabine Kebir
Dekonstruktion von Wackelkandidaten und Diskurspiraten
Gramsci, Brecht und Anverwandlung linker Signifikanten durch rechte Politik
Volker Weiß
›Deutscher Sozialismus‹
Karriere eines Konzeptes von der Sozialdemokratie zu Oswald Spengler und Arthur Moeller van den Bruck
Volkmar Woelk
Tertium non datur
Anmerkungen zum Widerschein des revolutionären Nationalismus in der ›Neuen‹ Rechten
Renate Bitzan
Feminismus von rechts?
Richard Gebhardt
Völkischer Antikapitalismus
Zur Analyse und Kritik eines zentralen Strategie- und Ideologieelements des modernen Neonazismus
Fabian Virchow
Völkischer Nationalismus und Atomwaffen
Was die extreme Rechte unter einer »Politik des Friedens« versteht
Lenard Suermann
Rebel Without a Course
Der Diskurs um die »Autonomen Nationalisten«
Christoph Schulze / Regina Wamper
»Adolf H. didn’t booze or smoke«
Konsumkritik, Jugendkultur, Drogenverzicht von Rechts:
Die neonazistische Adaption von Hardcore und Straight Edge
Helmut Kellershohn
Provokationselite von rechts: Die Konservativ-subversive Aktion
Regina Wamper / Britta Michelkens
Was tun?!
Gegenstrategien zu Adaptionen von rechts
Regina Wamper / Siegfried Jäger
Überlegungen zu einem Forschungsprogramm zum Völkischen Nationalismus in Deutschland im Anschluss an die Diskussionen auf dem DISS-Colloquium 2009
Jens Zimmermann
Wissenschaftstheoretische Elemente einer Kritik an der Extremismusforschung und Kritische Diskursanalyse als alternative Perspektive für eine kritische Rechtsextremismusforschung

Neuerscheinung: Elias Grünebaum

Der erste Band der Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft ist erschienen:

Elias Grünebaum: Die Sittenlehre des Judenthums anderen Bekenntnissen gegenüber: Nebst dem geschichtlichen Nachweise über die Entstehung und Bedeutung des Pharisaismus … Edition der Ausgaben von 1867 und 1878. Herausgegeben von Carsten Wilke. Köln : Böhlau 2010, 336 Seiten, 39,90 €. 

Links zum Verlag: 

http://www.boehlau.at/978-3-412-20316-0.html

http://www.boehlau.at/download/161734/978-3-412-20316-0_WB.pdf 

Die christliche Tradition hat unter dem Begriff der Pharisäer ein Bild des Judentums geschaffen, das für Heuchelei, Selbstgerechtigkeit, Kleinlichkeit und für sinnlose Strenge steht. Weil Jesus gegen den Einfluss der Pharisäer das eigentliche Judentum habe bewahren wollen, sei – so die Darstellung im Neuen Testament – das Christentum entstanden.

Die Karikatur der Pharisäer hat erheblich zur christlichen Mentalität des Übertrumpfens beigetragen und auch die judenfeindliche Legendenbildung beflügelt. Das Zerrbild der Pharisäer stellt aber nicht nur die Wirklichkeit auf den Kopf, sondern trifft den Stifter der christlichen Religion selbst, denn er gehörte zu den Pharisäern.

Der Landauer Rabbiner Elias Grünebaum unternahm 1867 die Aufgabe (wie mit ihm der Frankfurter Rabbiner Abraham Geiger), die Leistung der Pharisäer im Rahmen der jüdischen Geschichte darzustellen und die Wurzeln der jesuanischen Ethik „im ächten Pharisaismus“ aufzuzeigen. Auf diese Weise stellte Grünebaum die „Sittenlehre des Judenthums“ neben die christliche Identität und begründete so „den gleichberechtigten Anteil beider Religionen an den Werten Europas“ (Carsten Wilke).

Als im Kaiserreich die judenfeindliche Agitation aufflammte, brachte Grünebaum seine »Sittenlehre« stark erweitert noch einmal heraus. Mit der vorliegenden Neuausgabe ist es dem Herausgeber gelungen, beide Ausgaben in einer leserfreundlichen, synoptischen Form zu vereinigen. Damit dokumentiert das Werk zugleich „jene Dekade, in der christliche Talmudfeinde der Rassenideologie den Boden bereiteten“ (Carsten Wilke).

Die Edition basiert auf der interdisziplinären Kooperation zwischen dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen und dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung.

DESPERATE – Der Tod kam, bevor Menschen starben

Duisburg wollte die Loveparade – es gab einen Beschluss des Rates der Stadt und dieser wurde unter der Verantwortung von Oberbürgermeister Adolf Sauerland letztlich unterschrieben.

Der Veranstalter wollte die Loveparade. Rainer Schaller, alleiniger Gesellschafter der Lopavent GmbH machte die Loveparade zum Marketinginstrument seiner Fitnessstudio-Kette McFit.

Die Landesregierung wollte die Loveparade – Jürgen Rüttgers und Hannelore Kraft setzten sich dafür ein.

Die Kulturhauptstadt wollte die Loveparade in Duisburg – Fritz Pleitgen sah die positive Ausstrahlung für die Ruhrstadt.

Die Loveparade sollte die größte Veranstaltung im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 sein, für Europa, Deutschland, NRW, das Ruhrgebiet und für Duisburg. Geld dafür gab es nicht aus dem Topf Kulturhauptstadt. Duisburg wurde mit seinen Ravern allein gelassen.

Und in den Medien wurde begeistert die Werbetrommel gerührt.

In Duisburg gibt es einen alten Güterbahnhof. Der kann schwerlich als ein sicheres, gut begehbares Gelände bezeichnet werden, auch nicht, nachdem einige Tonnen Schotter ausgeschüttet und plattgeklopft, die Schienen gesichert und die Fenster der alten Halle eh schon fast keine Glasscheiben mehr hatten.

Kosten durfte das ganze wenig, bringen sollte es viel. Hätte man die Bevölkerung der angrenzenden Stadtteile und die Leute gefragt, die das Gelände von eigenen Ausflügen kennen, so hätte man schwerlich Begeisterung über den Plan festgestellt. Über einen Plan, der schwer durchschaubar war und bleibt.

Foto: Tunnel Karl-Lehr-Str. 27.7.2010
Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010: "Berlin = Love / Duisburg = Kommerz, Finanzieller Gewinn, 19 Tote..."

Zwar hieß es früh, die Loveparade fände auf dem geschlossenen Gelände des alten Bahnhofs statt. Es gab auch das Gerücht, die A 40 werde für die Floats bereit stehen. Im Internet war ein Streckenverlauf zu sehen, auf dem eine Route durch die Innenstadt eingezeichnet war – deutbar war dieser Plan als Plan für den Verlauf der Parade. Dann gab es wieder die Meldung, dass die Parade nur auf dem abgeschlossenen Gelände stattfände. Noch am Abend vorher gab ein Floatbesitzer zu verstehen, es gingen Floats durch die Stadt. Die Polizei gab während der Feier die Auskunft, die Parade sei nur im Gelände des alten Güterbahnhofs. Gegen 15.15 Uhr fuhr ein Float in Polizeibegleitung die Friedrich-Wilhelm-Straße herunter bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz und wurde dort von einer jubelnden Menge umlagert.

Es habe deutliche Sicherheitsbedenken gegeben, von der Polizei, von der Feuerwehr, diese seien in Gutachten formuliert und den Verantwortlichen vorgelegt worden. Weder die Stadt, noch der Veranstalter Rainer Schaller hätten darauf angemessen reagiert. Sicherheitsvorschriften seien umgangen, mit Sondergenehmigungen abgeändert und auch schlicht nicht eingehalten worden. Und trotzdem fand sie statt – die Loveparade -und alle, alle kamen:

Der Veranstalter, die Polizei und die Stadtspitze und die 250.000 Besucher, für die das Gelände frei gegeben war und die ca. 1,2 Millionen, für die kein Platz auf dem Gelände vorgesehen war (105.000 kamen offenbar mit der Bahn und die Zahl der verkauften Tickets ist zurzeit die einzige Zahl auf die objektiv zurückgegriffen werden kann – Offenbar liegen weder Auswertungen von Zählungen der Fußgängerströme, der Kraftfahrzeuge, der Busse, der Radfahrern etc. vor – Luftbilderauswertungen sind bis heute nicht bekannt).

Richtungsweisend ist jedoch, dass auf den letzten Loveparade-Veranstaltungen in anderen Städten mehr als 1,3 Millionen Menschen waren – und auch das Event „Still-Leben“ auf der A-40 am 18. Juli 2010 hatte mit ca. 3 Mio. Besuchern mehr Interessierte als erwartet. Der Unterschied war: Es ging gut – es gab 60 km Autobahn, Auf- und Abfahrten, Zugänge und nur Leitplanken, über die man gut springen und sich ins Umland hätte retten können, wäre dies denn notwendig gewesen.

Foto: Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010
Tunnel Karl-Lehr-Straße, 27.7.2010: "Das konservative Bürgertum hat die Subkultur, aus der die Loveparade entstanden ist, zu keiner Zeit akzeptieren, geschweige denn verstehen wollen."

Verfolgte die Loveparade bei ihrer Gründung keine kommerziellen oder prestige-geleiteten Ideen, so bildet sie im Jahre 2010 mit ihren Profit- und Marketinginteressen einen Teil der viel zitierten Dienstleistungsgesellschaft.

Die Situation stellt sich dar wie folgt. Duisburg lädt ein zu einer Loveparade. Das ist ein Musikfestival mit sog. Floats, das sind riesige Lastwagen, die bis zu 200 Raver fassen, die auf den Wagen tanzen zu den Tönen, die verschiedene gefeierte DJs auflegen. Die Musik ist nicht jedermanns Sache; doch welche Musik ist das schon? Fest steht jedoch, dass man auf Techno gut tanzen kann. Viele Menschen verkleiden sich, es wird Alkohol getrunken und es werden auch Drogen genommen.

Es wird viel geredet über die Menschen, die auf diese größte Party der Welt gehen. Sie sind eher jung, jedoch nicht alle – wir waren z.B. auch da – manche sagen, sie sind dumpf, sogar dumm, enthemmt, lüstern, gewalttätig etc. Auf jeden Fall machen sie Dreck und irgendwo in einer anderen Stadt haben sie angeblich in einem Park alle Bäume und Pflanzen tot gepinkelt. Deshalb haben wir in Duisburg viele Reihen Dixi-Klos, den Kant-Park haben wir sicherheitshalber gesperrt und in Folie gepackt, damit ihn keiner sieht. Der Besitzstand der bedrohten Bürgerinnen und Bürger wird gewahrt, indem die Feiernden – fein eingezäunt nach links und rechts – durch von der Polizei bediente Schleusen geleitet werden, damit sie nicht ins offene Terrain ausbrechen und die Landschaft verunstalten können. Kleinbürgerliche Konzepte lassen kein freies Denken, Handeln und auch keine freie Bewegung zu; Profit- und Prestigedenken aber lassen sie zu – und ebenso Besitzstandswahrung in jeder Beziehung.

Eine alte Dame spricht zu ihrem Mann: „Da kannst du nichts mehr zu sagen.“ Er sagt auch gar nichts. er schaut nur interessiert einer aufreizend angezogenen Raverin hinterher.

Und die Dienstleistung? Der Platz liegt ca. 300 Meter weg vom Bahnhof. Die Leute werden jedoch auf vorgezeichneten Wegen ca. 2 Kilometer durch die Stadt geleitet – östlich und westlich vom Bahnhof. Ich sehe keine Hinweisschilder, jeder folgt dem anderen in die Bewegungsrichtung des unüberschaubaren Menschenstroms. Einige Fressbuden bieten ihre Dinge an. Aus einem Polizeiwagen dröhnt ein Megaphon – zu verstehen ist kein Wort. Warum eigentlich nicht?

Denn Musik gibt es nicht; es gibt keine Großbildschirme (bei der WM hatten wir doch genug), es gibt keine Lautsprecher aus denen Techno tönt, es gibt keine Bühnen, auf denen Musik gemacht wird und – es gibt keine Floats (bis auf den einen, eben erwähnten – später).

Doch die Leute sind noch ganz gut drauf und feiern sich selbst mit Freunden, mit Fremden, mit den Leuten, die aus den Fenstern hängen und Party in der eigenen Wohnung machen. Dann wird es eng und enger. Am Polizeipräsidium sehen die Einsatzkräfte noch ganz entspannt aus. Erste Schleusen werden geschlossen – man verengt, wie ein Beamter erklärt. Warum die Leute denn jetzt alle hier stehen, wird gefragt. Weil es hier so schön ist, lautet die polizeiliche Antwort. Mit den Polizeikräften über die Lage in der Stadt, über Wege und Anreisen zu sprechen ist hoffnungslos. Es kommen Antworten wie: „Ich hab keine Ahnung“; „ich bin nicht von hier“; „die Straße kenne ich nicht“ oder „ich hab doch keine Zeit, Wege zu erklären“.

Es verdichtet sich mehr und mehr. Leute sind auf die Straßenbahnhäuschen, auf Laternen, Lampen, Verteilerhäuschen, Hausdächer, Imbissbuden geklettert. Um besser sehen zu können. Was? Es passiert nichts, keine Musik, keine Floats und – keine Bewegung mehr. Es ist 15 Uhr und links geht es in den Tunnel an der Karl-Lehr-Straße.

Wir drehen um. Wir sind verabredet um 17 Uhr in der Altstadt. Durch Seitenstraßen gehen wir heim. Mit uns sind tausende Menschen, die alle in die falsche Richtung laufen, enttäuscht, fragend, suchend. Telefonisch teilen sie Freunden mit: „Ich bin in Duisburg, auf einer Polizeiparade.“ Oder: „Wir sind 2,5 Stunden gefahren, dann fahren wir eben wieder nach Hause – hier ist ja sonst gar nichts los.“ Oder: „Wo ist denn das Gelände?“ Oder: „Gibt es einen Plan?“

Ja, wie war das gleich mit dem Plan?

Auf dem Boden kleben nun schon viele Sticker: Dance or die! Get no sleep!

Das sind die Slogans der Loveparade – die sich auf verhängnisvolle Weise verwirklichten.

Gegen 17 Uhr brach im Tunnel auf der Karl-Lehr-Straße eine Massenpanik aus – in dem Tunnel, der als einzige Zugangsmöglichkeit zum Festival-Gelände geöffnet war. Jedenfalls als einzige Zugangsmöglichkeit für die Gäste – der VIP-Eingang war in Bahnhofnähe – von der A 59 gab es großzügige Zugangsmöglichkeiten – doch die waren gesperrt – für den Notfall, wie die Notfalltüren. Notfallwege im Tunnel, eine Regulierung der ankommenden und das Gelände verlassenden Besucherströme, Überwachungskameras und genug Luft gab es im Tunnel nicht.

Das Desaster war vorprogrammiert und – ich kann es immer noch nicht wirklich glauben – es gab nur diesen einen Tunnel – Gelber Bogen genannt – der zum Festivalgelände führte. Ein Tunnel, 40 m breit und 200 m lang, der schon an normalen Tagen irgendwie gruselig ist, voll gedrängt mit Menschen, die in alle Richtungen drängen, deren Zugang – aus welchen Gründen auch immer – nun nicht mehr kontrolliert wird; ein Nadelöhr wird zur Todesfalle.

16 Menschen sterben vor Ort, 21 bis jetzt, über 500 werden verletzt. Es spielen sich unglaubliche Szenen ab (es gibt Videos im Netz, welche in keiner Nachrichtensendung liefen). Die Toten werden unter Planen gestapelt. Schuldzuweisungen zerreißen die politische Landschaft, Verschleierung herrscht neben blindem Aktionismus.

Die Loveparade glich einem Viehtransport. Nicht stärker hätte die Zielgruppe diskriminiert und degradiert werden können, nicht stärker hätte bewusste Fehlinformation stattfinden können und nicht geschickter hätte die Zielgruppe um ihr eigentliches Vergnügen gebracht werden können. In der Hoffnung, dass die Menschen das Festivalgelände nicht erreichen, weil sie schon zu müde oder zu betrunken sind oder weil sie etwas anderes abgelenkt hat, wurden sie durch die Stadt geschleust. Nicht ernstgenommen wurden sie, menschenverachtend behandelt. Dies wäre niemals bei einer Sportveranstaltung in Duisburg mit internationalem Flair passiert – und, dies wäre auch nicht bei einem Karnevalsumzug passiert.

In Duisburg kam der Tod schon, bevor Menschen starben. Der Tod eines Traumes, eines Konzeptes von Freiheit, Feier und Liebe. Der Tod der Dienstleistung, der Tod der Kulturhauptstadt, der Verantwortung und der Tod des Ernstnehmens der Zielgruppe, für die man arbeitet – und daran haben alle mitgewirkt:

Der Veranstalter, die Stadtverwaltung und die Polizei und auch die Medien.

Entschuldigungen und Ausreden sind nicht möglich. Es ist vorbei und nicht wieder gut zu machen – nirgendwo, zu keiner Zeit und mit keinen verfügbaren Mitteln.

Liz Henry

Zum Bochumer Tortenprozess

Neues Bilderverbot durch Bochumer Tortenprozess:
Stehen wir vor einer Einschränkung der Pressefreiheit?

Autor: Rolf van Raden

Vor dem Bochumer Amtsgericht hat am Mittwoch ein Aufsehen erregender Prozess stattgefunden: Der verantwortliche Redakteur des lokalen Internetportals bo-alternativ ist zu einer Strafe von 1.500 Euro verurteilt worden, weil er ein Anti-Nazi-Plakat dokumentiert hat. Auf dem Plakat ist eine Comicfigur zu sehen, die eine Torte in der Hand hält. In den Augen der Staatsanwaltschaft und der Richterin stellt die Abbildung auf dieser Seite aus dem Jahr 2008 einen „Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung“ dar.

http://www.bo-alternativ.de/aktuell/wp-content/uploads/2008/10/nazistopp.jpg
„Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung“? Die dokumentierende Abbildung dieser Grafik soll strafbar sein.

Es handelt sich bereits um den dritten Prozess zum Thema – vor einem Jahr gab es bereits einen Freispruch, worauf die Staatsanwaltschaft allerdings Revision einlegte. Der beschuldigte Redakteur hat jetzt angekündigt, gegen das neue Urteil selbst in Berufung zu gehen. Sollte die Verurteilung vor weiteren Instanzen Bestand haben, könnte das die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland empfindlich einschränken.

Die Anklage der Bochumer Staatsanwaltschaft (hier im Wortlaut) stand von Anfang an unter massiver Kritik. In einer Solidaritätserklärung bewerteten eine Reihe prominenter Persönlichkeiten den Prozess als einen „Affront gegen die Menschen, die sich am 25. Oktober in Bochum und an anderen Tagen in anderen Städten den Nazi-Aufmärschen entgegen stellten.” Andere BeobachterInnen weisen darauf hin, welche politischen Folgen die Verurteilung haben kann: Wenn nämlich schon die Abbildung einer Comicfigur mit einer Torte in der Hand dazu ausreicht, um das Recht auf Äußerungsfreiheit im Internet einzuschränken, dann wäre der behördlichen Willkür Tür und Tor geöffnet.

Die Anklage hat die Abbildung einer Torte zu einer „getarnten Bombe“ umgedeutet. Damit aber nicht genug. Denn im nächsten Schritt erklärte die Staatsanwaltschaft die angebliche Bombe zu einem verbotenen Aufruf, „Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder Beschädigung von Sachen geeignet und bestimmt sind, ohne behördliche Genehmigung mit sich zu führen und diese zur Begehung von Vergehen der gefährlichen Körperverletzung einzusetzen“. In einfache Sprache übersetzt behauptet die Staatsanwaltschaft: Indem das Internetportal das Plakat dokumentiert, rufe es dazu auf, mit Waffen zur Demo zu gehen und diese zu benutzen.

Kommt die Staatsanwaltschaft mit dieser obskuren Argumentation durch, wäre künftig keine grafische Veröffentlichung mehr vor solch aggressiver Interpretation und Umdeutung geschützt. Ein Plakat mit einer erhobenen Faust? Klar, da holt jemand zum Schlag aus. Es droht ein neues Bilderverbot für politische Publikationen. Und noch mehr: Die Strafverfolgungsbehörden bekämen ein einfaches wie mächtiges Instrument an die Hand, um politisch missliebige Äußerungen weitgehend willkürlich zu kriminalisieren. Das wäre eine massive Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit – und weil es sich bei dem Angeklagten ja nicht einmal um den Plakat-Urheber, sondern lediglich um den Redakteur eines Internetportals handelt, auch um eine Aushebelung der Pressefreiheit.

Der Diskursanalytiker und Herausgeber der Zeitschrift kultuRRevolution Jürgen Link ging noch einen Schritt weiter. Bereits anlässlich des ersten Tortenprozesses vor einem Jahr veröffentlichte er eine „Diskursanalytische Wortmeldung“, in welcher er deutlich machte: Selbst, wenn auf dem Plakat tatsächlich eine Bombe zu sehen wäre, würde es sich dadurch nicht um einen Aufruf zu Gewalt handeln – weil bei einer Interpretation immer Kollektivsymboliken und diskursive Kontexte zu berücksichtigen sind. Um das zu verdeutlichen, überträgt Link das Argumentationsmuster der Staatsanwaltschaft probeweise auf eine Karikatur, welche die WAZ elf Jahre zuvor veröffentlicht hatte. In der Grafik ist der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe zu sehen, der den im Rollstuhl sitzenden Wolfgang Schäuble mit einem Panzer bedroht. Folge man der Logik der Bochumer Staatsanwaltschaft, stelle diese Veröffentlichung „zweifelsfrei sogar einen Aufruf zum Mord dar.“ Jürgen Link weiter: „Staatsanwältin W. weiß nicht, dass Karikaturen Konflikte symbolisch darstellen und dazu groteske Übertreibungen als ihr wesentliches Mittel einsetzen müssen. ‚Panzer’ bedeutet symbolisch ‚große Entschlossenheit’ (und nicht: realer Panzereinsatz!!!) – Torte mit Lunte bedeutet symbolisch ‚Entschlossenheit mit Spaß’ (erheblich kleinere als Panzer!!!), und nicht realen Terrorismus! Man muss schon nicht bloß völlig humorlos, sondern außerdem diskursanalytisch eine Null sein, um derart danebenhauen (keine Unterstellung, Staatsanwältin W. habe wirklich zugeschlagen!!!) zu können.” Zum vollständigen Text von Jürgen Link.

Ob die Staatsanwaltschaft und die vorsitzende Richterin tatsächlich diskursanalytische Nullen sind, oder ob es andere Gründe dafür gibt, dass sie eine Interpretation des Plakats für gültig erklären, die überhaupt nichts mit der tatsächlichen diskursiven Wirkung der Veröffentlichung zu tun hat, das kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Fest steht jedenfalls, dass die Demonstration, zu der das Plakat aufrief, selbst in den Augen der Polizei völlig friedlich verlaufen ist. Und obwohl die Polizei – wie zu solchen Anlässen üblich – umfangreiche Taschenkontrollen durchführte, konnte sie nicht einen einzigen „gefährlichen Gegenstand“ finden – weder als Torten getarnte Bomben, noch andere Gegenstände, die zur Beschlagnahme geeignet waren. Darüber hinaus ist der jetzt wegen „Aufruf zur gefährlichen Körperverletzung“ verurteilte Redakteur seit Jahrzehnten ein aktives Mitglied der Friedensbewegung und für seine kompromisslos gewaltfreie politische Linie bekannt.

Diese Tatsachen verweisen auf eine Fragestellung, um die es bei der Berufungsverhandlung zumindest implizit auch gehen wird: Wenn Strafverfolgungsbehörden und Gerichte über die Strafbarkeit einer Publikation befinden, dürfen sie dann einfach eine Interpretation zur Grundlage machen, die weder vom Publizisten selbst, noch von der Zielgruppe der Publikation, und noch nicht einmal im Rahmen des Hegemonialdiskurses als naheliegend oder gar zwingend angesehen wird? Oder verletzen die Behörden vielleicht sogar ihre Sorgfaltspflicht, wenn sie sich auf eine Interpretation berufen, die nichts mit den diskursiven Verhältnissen zu tun hat, in denen die Publikation veröffentlicht worden ist?

Diese Fragen sind aus einer diskurs- und machtanalytischen Perspektive interessant. In der politischen Dimension wird in der Berufungsverhandlung allerdings nicht weniger verhandelt als die Reichweite der Grundrechte auf Presse- und Äußerungsfreiheit. Deswegen ist sicher, dass weiterhin viele Augen auf den Bochumer Tortenprozess gerichtet sein werden.

Zum Weiterlesen: Alle Stellungnahmen und Berichte zum Bochumer Tortenprozess auf bo-alternativ.de

Wortmeldung

Netzfundstück: Laudatio „Verschlossene Auster“

Heribert Prantl hielt die Laudatio zur Verleihung der „Verschlossenen Auster“ an die katholische Kirche. Den vollständigen Text finden Sie hier:

Heribert Prantl: Das kalte Herz der Kirche – Katholische Kirche erhält Negativ-Preis. Süddeutsche Zeitung, 10.07.2010

Es gibt eine Kirche, deren Selbstmitleid größer ist als das Mitleid mit den Opfern. Es gibt eine Kirche, die glaubt, sie habe lediglich ein Problem mit angeblich missliebigen Medien. Dieser Kirche widme ich diesen Negativ-Preis, die „Verschlossene Auster“. Ich widme ihn, pars pro toto, dem Bischof meiner Heimatdiözese Regensburg, dem Bischof Gerhard Ludwig Müller. In diesem Bistum Regensburg liegt Wackersorf, der Ort, an dem einst eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut und mit aller Macht und Staatsgewalt gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden sollte. Was Wackersdorf für die CSU war, ist Bischof Müller für die katholische Kirche: ein Fiasko.

Kirche kann ihr gesellschaftliches Gewicht nicht mit Geld, Geschichte und Steuermitteln erhalten oder zeugen. Es entsteht von selber durch Glaubwürdigkeit, und es verfällt mit Unglaubwürdigkeit. Die Kirche braucht das, was die Mediziner „restitutio in integrum“ nennen, die vollständige Ausheilung. Mit der Forderung nach Öffnung und Demokratisierung hat Papst Johannes Paul II. einst den Ostblock gesprengt. Diese Forderung „liegt jetzt auf den Stufen des Petersdoms“ (so Jobst Paul im DISS-Journal 19/2010). Damals, im Ostblock, hieß das Neue „Glasnost“ und „Perestrojka“. Heute, in der katholischen Kirche, heißt es, unter anderem, Aufhebung des Pflicht-Zölibats und Frauen-Ordination. Glaubwürdig wird die Kirche nur dann, wenn sie den Ursachen für die sexuelle Gewalt und deren jahrzehntelange Vertuschung auf den Grund geht. Sie muss dazu die verstörten und empörten Fragen der Menschen hören.

Ich habe mit dem Heiligen Franz von Sales begonnen; mit ihm will ich meine Rede jetzt auch beschließen. Dieser heilige Franz von Sales ist nämlich nicht nur Patron der Journalisten. Er ist auch Patron der Gehörlosen. Als solchen möchte man ihn bitten, sich doch der katholischen Kirche anzunehmen.

EuroPhantasien (1995) als e-book

Der lange vergriffene Band  EuroPhantasien von Irmgard Pinn und Marlies Wehner aus dem Jahr 1995 ist jetzt als e-book in unserem Textarchiv abrufbar (Klicken Sie bitte auf die Abbildung des Covers).

Irmgard Pinn und Marlies Wehner
EuroPhantasien
Die islamische Frau aus westlicher Sicht

Elektronische Fassung, erstellt im Juli 2010
Copyright 1995/2010: DISS

Aus dem Vorwort der Autorinnen (1995):

„Das westliche Bild der Muslimin basiert wesentlich auf Projektionen »abendländischer« Werte und Gefühle. Es ist Bestandteil eines Gegenentwurfes zur »europäischen Zivilisation« und dient in erster Linie der Konstitution und Stabilisierung einer deutschen bzw. »abendländischen« Identität. Uns geht es im folgenden weniger darum – und das sei vorab besonders betont –, wie es in islamischen Ländern nun wirklich zugeht oder was wirklich im Koran über die Frau gesagt wird. Unser Anliegen ist es vielmehr, Klischeebilder und deren Konstruktions- und Reproduktionsprinzipien aufzuzeigen sowie die Diskussion darüber anzuregen, wie Mechanismen der Ausgrenzung auch in progressiven, linken, feministischen, internationalistischen Kreisen wirken, welche Funktion sie haben und wie derartige Denk- und Handlungsblockaden überwunden werden könnten.“

Der lange vergriffene Band EuroPhantasien von Irmgard Pinn und Marlies Wehner aus dem Jahr 1995 ist jetzt als e-book in unserem Textarchiv abrufbar.