Über zwei Monate nach der Loveparade ist die Duisburger Stadtspitze immer noch nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Autor: Herbert Marschall
Hinweis:
Wenn in diesem Beitrag die Leitung der Kulturhauptstadt Ruhr 2010, Veranstalter Lopavent, Polizei und Bundespolizei, Landesregierung, Aurelis etc. nicht oder nur am Rande vorkommen, so soll damit nichts darüber ausgesagt werden, ob und wenn ja, welche Mitverantwortung sie an der Katastrophe bei der Loveparade dieses Jahres haben. Dieser Beitrag wird auch weder auf den genauen Ablauf der Loveparade eingehen, noch eine Aussage darüber wagen, wer letzten Endes das Ereignis vor Ort ausgelöst hat, welches zur Katastrophe führte. Dieser Beitrag ist das Ergebnis des Versuches, zu verstehen, wieso Bedingungen zugelassen wurden, welche diese Katastrophe möglich gemacht haben.
Der Skeptiker ist eine Person, die in der Philosophie als Advocatus Diaboli benutzt wird, um gewisse Fragen der Erkenntnistheorie auf den Punkt zu bringen. Auch wenn man wenig Chancen hat, die Behauptung des Skeptikers – die Welt könnte nur ein Traum sein und man könnte sich alles nur einbilden – zu widerlegen, in der Praxis taugt die Realitätsverweigerung des Skeptikers nichts. Mit einer solchen Haltung lassen sich auch die Welt als Ganzes weg erklären, die Erde als eine Scheibe ansehen oder – wie seit über zwei Monaten in Duisburg – die Mitverantwortung für eine Katastrophe von sich wegschieben.
Gruppenzwang und Selbstüberschätzung
In seinem Buch „Die Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“ beschreibt Dietrich Dörner, inzwischen emeritierter Professor der Theoretischen Psychologie, den Reaktorunfall von Tschernobyl: „Das Unglück von Tschernobyl ist, wenn man die unmittelbaren Ursachen betrachtet, zu hundert Prozent auf psychologische Faktoren zurückzuführen.“ ((Dietrich Dörner: Die Logik des Mißlingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen Hamburg 1992, S. 48))
Die Instabilität des Systems ist nach seiner Analyse durch ein Fehlverhalten des Teams herbeigeführt worden, welches unter Zeitdruck und Erfolgszwang stand, Sicherheitsvorschriften verletzte und sich gleichzeitig in einer hohen Selbstsicherheit wiegte: „Man glaubte zu wissen, womit man zu rechnen hatte, und man glaubte sich vermutlich auch erhaben über die ‚lächerlichen‘ Sicherheitsvorschriften“. „Die Tendenz einer Gruppe von Fachleuten, sich selbst zu bestätigen, alles richtig und gut zu machen, Kritik in der Gruppe implizit durch Konformitätsdruck zu unterbinden“, ist „die Gefahr des ‚groupthink‘ bei politischen Entscheidungsteams“ ((Dörner zitiert Janis, 1972)). Auch in Duisburg war dieser Druck durch die Landesregierung, durch das Management der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 und durch selbstgemachten Ehrgeiz enorm.
Der „Groupthink“, die Wegrationalisierung von Bedenken, die Selbstzensur zur Herstellung einer Gruppenkonformität, die Überzeugung, alles richtig zu machen bzw. richtig gemacht zu haben sowie der Verzicht auf die Betrachtung von Handlungsalternativen ((Siehe ebenda, Abb. 16 und Text, beide S. 55)), sind genau die Merkmale, welche man auch im Zusammenhang mit der Loveparade bei der Duisburger Stadtspitze beobachten kann. Die Reaktion von Oberbürgermeister Sauerland auf die Meldung der ersten Toten war, dass er das Unglück den Betroffenen selbst in die Schuhe schieben wollte. Nicht der Veranstalter oder die Stadt hätten irgendwelche Fehler gemacht, sondern die jungen Leute selbst sollen aus der Reihe getanzt sein und sich durch die Kletterei an der Treppe und an dem Beleuchtungsgerüst in die gefährliche Situation gebracht haben. „Loveparade: Falsche Fragen und Realitätsverweigerung“ weiterlesen