Die Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit

Ausstellung in der Salvatorkirche Duisburg, Burgplatz 19, 47051 Duisburg
Eröffnung mit einem Gottesdienst am So, 28.1., 16 Uhr
Dann 28.1.2024 – 11.2.2024 zu den Öffnungszeiten der Kirche: Di-Sa 10-17 Uhr, So 9-13 Uhr. Mo geschlossen

Unter der Überschrift „Die Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit“ eröffnet am Sonntag, dem 28. Januar, um 16.00 Uhr mit einem Gottesdienst eine Ausstellung über die Ausgrenzung und Entrechtung der Minderheit der Roma und Sinti im Nationalsozialismus bis hin zu ihrer systematischen Vernichtung im besetzten Europa. In der Salvatorkirche werden sechs Tafeln zu Duisburger Sinti-Biografien gezeigt, die als Ergänzung zu einer Wanderausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma vom Zentrum für Erinnerungskultur erarbeitet wurden.
Es ist der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ an dem es Jahr um Jahr wichtig ist zu erinnern und zu mahnen. Die Aktualität wird darin deutlich, dass wir uns gerade in diesem vergehenden Jahr neu mit dem latent lauernden Antisemitismus und Rassismus auseinandersetzen müssen, was klare Antworten braucht.
Die Ausstellung machte die zerstörten persönlichen Lebenswege hinter den abstrakten Dokumenten der bürokratisch organisierten Vernichtung sichtbar. Neben der unvorstellbaren Verfolgung und Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens, waren auch Homosexuelle, Kommunisten und politisch Andersdenkende, sowie eben auch Roma und Sinti der Verfolgung ausgesetzt. Historische Familienfotos geben wiederum Einblicke in ihre Lebenswirklichkeit und lassen sie als Menschen, die unter uns ihr Leben lebten, hervortreten – bis sie durch Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung herausgerissen wurden.

Die Ausstellung wird bis zum 11. Februar in der Salvatorkirche zu den üblichen Öffnungszeiten zu sehen sein.

Eröffnunggottesdienst am So, 28.1., 16 Uhr:

Gottesdienst zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (Pfarrerin Süselbeck mit Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Duisburg-Mülheim-Oberhausen e.V., Schüler*innen des Landfermann-Gymnasiums, Kirchenkreis und kath. Gemeinde).

-> https://salvatorkirche.de/

Kurzgutachten: Religion und Macht

Unser Mitarbeiter Jobst Paul erstellte 2023 das Kurzgutachten Religion und Macht – Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus.

Es ist auf der Website des BICC – Bonn International Centre for Conflict Studies abrufbar.

Das Kurzgutachten entstand im Rahmen von Core-NRW – Netzwerk für Extremismusforschung in Nordrhein-Westfalen.

https://www.bicc.de/Publikationen/CoRE_KurzGutachten7_Religion_u_Macht_231016_web.pdf

Paul, J. (2023). Religion und Macht – Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus . In Kurzgutachten 7 . BICC.

ZUSAMMENFASSUNG

Im Rahmen des vorliegenden Gutachtens werden streiflichtartig die Fülle und Variabilität von christlich-fundamentalistischen Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen umrissen, die darin übereinkommen, nicht für, sondern gegen den Abbau von Diskriminierung und Ungleichheit einzutreten und danach zu streben, vergangene autoritäre, antidemokratische Machthierarchien wieder herzustellen. Entscheidend ist, dass in den vergangenen Jahren eine immer größere Anschlussfähigkeit der Positionen der erwähnten Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen und der Programmatik rechtsextremer Gruppen entstanden ist, wobei sich personelle Verbindungen und organisatorische Vernetzungen zwischen den Milieus ausgebildet haben.

Viele der Manifeste, die rechtsextrem motivierte Gewalttäter:innen u. a. auch in jüngster Zeit in legitimierender Absicht in Online-Netzwerken veröffentlichten, belegen, in welchem Ausmaß sich darin zentrale Positionen des christlichen Fundamentalismus mit rechtsextremen Agenden und deren Narrativen überschneiden. Die resultierenden Programmatiken, in denen sich Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen zunehmend zusammenfinden und unter deren Einfluss Radikalisierungsprozesse ausgelöst werden, sind durchzogen von verschwörungsideologischen, u. a. antisemitischen Grundthesen und von militanter Gegnerschaft gegen Selbstbestimmungsrechte im Bereich von Reproduktion, von Lebensformen und geschlechtlicher Identität.

Ganz besonders hervorzuheben ist dabei, dass diese Entwicklung zur Voraussetzung hatte, dass es zunächst zu inter-konfessionellen Koalitionen zwischen radikalen Fraktionen katholischer, evangelikaler und orthodoxer Provenienz kam, bevor es zu Bündnissen von diesen mit extrem rechten Gruppierungen, u. a. aber auch mit einem breiten Spektrum des esoterischen Aktionismus kommen konnte.

In ihrer Gesamtheit haben diese Prozesse zu einer derzeit kaum überschaubaren Bandbreite von Organisationsund Aktionsformen geführt, die zudem zwischen lokalen und regionalen, zugleich aber auch nationalen und dann internationalen Ebenen hin- und herchangieren. Dabei scheinen sechs unterschiedliche und zugleich komplementäre Dynamiken am Werk zu sein:

So tendieren (1) diese Prozesse in die Richtung einer Konzentration, d. h. der Bildung immer schlagkräftigerer Kooperationen und Verbände, und hin zu einer entsprechenden Verbreiterung der finanziellen Machtbasis. Wie sich zeigte, sind nach bisherigem Stand oligarchische Geldquellen, aber auch Großspender äußerst relevant. Großverbände wie z. B. Tradition, Family and Property (TFP) haben aber gezeigt, dass die organisatorische und ökonomische Professionalisierung des Personals (2), das im Aufbau und Ausbau von lokalen und regionalen Klein- und Missionsgruppen und der Akquirierung von Finanzmitteln eingesetzt werden kann, zu fast autarken Finanzstrukturen führen kann.

Einen erheblichen Zuwachs an Macht erbrachte darüber hinaus (3) die Etablierung einer sehr effizienten, international agierenden juristischen Ebene, die, wie etwa der Verband Alliance Defending Freedom (ADF), versucht, in Musterprozessen gegenüber Verwaltungen die Aktionsfreiheit fundamentalistischer Akteure dauerhaft durchzusetzen, wobei sie auch (und gerade) regionalen Kleingruppen zu Hilfe kommt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sind zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen beobachtbar: So scheinen die Prozesse der Diversifizierung (4) und der regionalen und lokalen Dislozierung von Gruppen (5) einerseits dazu zu dienen, im Sinn von „Schneeball“-Systemen die Attraktivität für lokale, potenziell neue Mitglieder zu erhöhen, sei es als Besteller und Konsumenten einschlägiger Devotionalien, als Spender bzw. als ihrerseits in der Mission einsetzbare Akteure. Andererseits können so die größeren Organisationsstrukturen, in denen sie wirken, unsichtbar gemacht werden.

Eine sechste Tendenz, die der verbalen und politischen Radikalisierung (6), ergibt sich nicht nur aus den oben bereits beschriebenen, gegen Grundrechte gerichteten Programmatik des christlichen Fundamentalismus und der politischen Agenda extrem rechter Bewegungen, mit denen sich Kooperationen etabliert haben. Prozesse der Radikalisierung ergeben sich auch aufgrund fundamentalistischer Logiken selbst, die nach zunehmend „reinen“ Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, hier: zwischen eigenen, „reinen“ Ego-Idealen und dem „satanischen“ Anderen streben. Organisatorisch kann dies bedeuten, dass sich innerhalb der betreffenden Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen immer weiter abgehobene Führungsebenen entwickeln, es aber zugleich in ihnen zu einer verstärkten inneren Sozialkontrolle kommt.

Insbesondere die Radikalisierungsprozesse, die sich z. B. in Afrika und Südamerika zeigen, unterstreichen darüber hinaus, dass sie nicht denkbar sind ohne die ständige Steigerung der verbalen, rhetorischen Herabsetzung von Opfergruppen, um eine Polarisierung der Öffentlichkeit zu erreichen (und zu erhalten) und Opfergruppen dann der rechtlichen, öffentlichen, psychischen wie physischen Verfolgung preiszugeben. Mit diesen Prozessen ist auch in Deutschland, ggf. gerade in regionalen und lokalen Kontexten zu rechnen (Anonym 2023e).

Dabei könnten Hass- und Gewalt-Prediger, die – wie in Pforzheim (Anonym 2021d; Streib 2023a; Streib 2023b; Anonym 2023d) – zur „Tötung von LGBTQ-Personen“ aufrufen, in den Hintergrund treten gegenüber geografisch deutschlandweit bis in Kleinstgemeinden hinein gestreuten potenziellen Täter:nnen, die sich – wie im Fall des geplanten „Reichsbürger“-Coups um Heinrich XIII. Prinz Reuß – unterschiedlich und aufgrund unterschiedlichster, darunter christlich-fundamentalistischer Ideologiekonstrukte extrem radikalisiert hatten und sich offenbar spontan vernetzten (Anonym 2023e).

Gerade letzteres Beispiel zeigt, dass sich hate speech und Programmatiken der Ungleichheit nicht auf bestimmte Themen und Politikfelder beschränken lassen, sondern auf eine insgesamt totalitäre Ordnung zielen, auch wenn sie sich temporär auf die Verfolgung bestimmter Minderheiten fokussieren. Nicht zu unterschätzen in ihrer gesellschaftlichen Dynamik sind aber auch „kalte“ Wege einer Radikalisierung, die die – bereits genannte – Ausbildung zunehmend abgehobener Führungsebenen und einer intensivierten inneren Sozialkontrolle der betreffenden Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen zur Voraussetzung haben: Zu nennen sind hier eine aggressive Siedlungstätigkeit und/oder der Land- und Immobilienerwerb durch vernetzte Kleingruppen, wie aktuell in der Bundesrepublik im Fall der völkischen, extrem rechten, so genannten „Anastasia“- Bewegung mit über 20 Siedlungsprojekten, die mit Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber der umgebenden Bevölkerung einhergehen (Kelan 2023; Takac 2023).

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 4

1 Rückblick. Eine Kontextualisierung. 7

2 Rechtliche Aspekte 9

2.1 Religiöser Fundamentalismus als Familien- und Jugendproblem 9

2.2 Verschiebungen der Perspektive 11

2.3 Haltung der Bundesregierung 13

2.4 Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 14

3 Forschungslage 16

3.1 Strukturen der Forschung 16

3.2 Dokumentations- und Informationsstelle für die Bundesregierung

zum Bereich „Sekten und Psychogruppen“ 18

4 Diabolisierung als Konstante im christlichen Fundamentalismus 19

4.1 Ältere Gutachten 20

4.2 Religionsgeschichtlicher Rückblick 20

4.3 Katholischer Fundamentalismus 21

4.4 Protestantischer Fundamentalismus 22

4.5 Russisch-Orthodoxer Fundamentalismus 23

5 „Anti-Gender“ als fundamentalistischer Nenner 24

6 Taktiken, Konzeptionen, Finanzen 26

6.1 Taktisch-theoretische Konzeptionen von rechts 26

6.2 Christlich-fundamentalistische Vernetzungen mit rechtsextremistischen Gruppierungen 29

6.2.1 Katholische Akteure (Auswahl) 31

6.2.2 Evangelikale Akteure (Auswahl) 32

6.2.3 Vernetzungen mit dem russisch-orthodoxen Machtapparat – und darüber hinaus (Auswahl) 34

6.3 Astroturfing, Multiple Gruppen, Mega Churches 36

6.4 Finanzierungsformen 37

7 Zwei Fallstudien 40

7.1 Tradition, Family and Property (TFP) 40

7.2 World Congress of Families (WCF) 41

8. Schlussfolgerungen und Empfehlungen 43

8.1 Befunde 43

8.2 Empfehlungen an die Praxis 45

i Foren für Austausch und Projektkonzeptionen 45

ii Schnittstellen zwischen Forschung, Praxis, Politik, Medien und Öffentlichkeit 45

8.3 Empfehlungen an die Forschung 46

i Forschungsverbundstrukturen in NRW aufbauen 46

ii Forschungsthemen etablieren 46

iii Psychologische Forschung 47

iv Territorialforschung 47

v Rechtsforschung 47

Literatur 48

Neu in der DISS Online-Bibliothek: Studie zu AfD-Landtagsreden in NRW

Bei den Wahlen zum NRW-Landtag im April 2017 zog die Partei „Alternative für Deutschland“ mit zunächst 16 Abgeordneten und 7,4% der Zweitstimmen in das Parlament ein. Die zu diesem Zeitpunkt bereits absehbare Entwicklung der AfD hin zu einer Partei mit personellen und inhaltlichen Bezügen zum Rechtsextremismus bildete dabei den Anlass, ihre Landtagsreden im Hinblick auf die Nutzung von Strategien der Herabsetzung zu untersuchen. Die Analyse hatte zum Ziel, die Mechanismen und die Funktionsweise dieser Herabsetzungsstrategien offen zu legen. Denn diese werden von den Abgeordneten der anderen Parteien nicht immer in all ihrer Tragweite wahrgenommenen. Daher sollte herausgestellt werden, welchen Effekt die von den AfD-Redner*innen verwendeten sprachlichen Bilder und Behauptungen haben und welche Absichten bestimmten Argumentationen und Falschbehauptungen zugrunde liegen. Weiterhin sollten die inhaltlich-ideologischen Positionen deutlich gemacht werden. Die Analysen stützen sich auf ein diskurs- und aussagenanalytisches Forschungsprojekt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung. Der Autor Jobst Paul hat sich bereit erklärt, seine Erkenntnisse für die weitere Analyse und Zusammenfassung der Ergebnisse zur Verfügung zu stellen. Gegenstand der Analyse waren Reden von Mitgliedern der AfD-Fraktion im Plenum im Zeitraum Juni 2017 bis Dezember 2019.

Parlamentarische Redebeiträge von Abgeordneten der Fraktion „Alternative für Deutschland“ (AfD)
Landtag Nordrhein-Westfalen – 17. Wahlperiode (2017 – 2022)
Halbzeitanalyse
1. Juni 2017 bis 31. Dezember 2019
Stand der Ausarbeitung: 16.12.2019
Autor: Paul Bey
Wissenschaftliche Beratung: Jobst Paul, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung

Bitte lesen Sie die hier verlinkte PDF-Datei.

Ein anderes Duisburg

Ein sehr spannendes Projekt zur Duisburger Zeitgeschichte ist am Wochenende mit einer Website online gegangen: Ein anderes Duisburg.

Eine rassismuskritische Erinnerungskultur und die Migrationsgeschichte in Duisburg stehen im Mittelpunkt von „Ein Anderes Duisburg“. Mit historischen Dokumenten, Fotos und Videointerviews von Zeitzeug:innen archiviert die Webdokumentation sowohl eindringliche Migrations-, Flucht- und Rassismuserfahrungen als auch Widerstände und Selbstorganisierungen. In thematisch aufgebauten Episoden werden bisher ungehörte Geschichten sicht- und hörbar. Die Webdokumentation zeigt: Eine multidirektionale Erinnerungskultur im städtischen Gedächtnis ist auch Voraussetzung für den Aufbau einer solidarischen Stadt für Alle an Rhein und Ruhr.

In Episode 1 (weitere sollen folgen) geht es um den Brandanschlag in Wanheimerort in der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984, durch den sieben Menschen gestorben sind: Von Rassismus wurde nicht gesprochen!

Wir freuen uns, dass wir mit einigen Dokumenten aus dem DISS-Archiv zu dieser wichtigen Recherche beitragen konnten.

Am 26.8.2023 konnte endlich eine Gedenktafel am Haus des Brandes  enthüllt werden, die im öffentlichen Raum an die Ereignisse von 1984 erinnert.

Gedenktafel, Wanheimer Straße 301, enthüllt am 26.8.2023. Foto: M. Dietzsch

»Kriminalität wird ethnisiert«

nd, 25.7.2023, S. 4

Benno Nothardt über das »Feindbild junger muslimischer Mann« und sinnvolle Integrationsstrategien

• Interview: David Bieber

Vielfach hört man, wir hätten in unserer Gesellschaft ein Problem mit jungen muslimischen Männern. Sie widersprechen …

Unser Institut hat schon 2015 beobachtet, dass das Feindbild »junger muslimischer Mann« in den Medien eine wichtige Funktion für das Kippen von der Willkommenskultur in eine Notstandstimmung hatte. Besonders deutlich wurde das bei der Debatte über sexualisierte Übergriffe in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 in Köln. Um die Wirkung dieser Zuschreibung zu verstehen, hilft der Begriff Ethnisierung von Sexismus, den Margret Jäger schon vor mehr als 25 Jahren erarbeitete. Gemeint ist damit, dass patriarchales Verhalten oder sexualisierte Gewalt als ethnisches Merkmal beziehungsweise typisch muslimisches Verhalten konstruiert und zugeschrieben wird. In den zurückliegenden Jahren gewinnt die ähnlich strukturierte Ethnisierung von Kriminalität an Bedeutung, etwa in der Debatte über die Ausschreitungen der vergangenen Silvesternacht. Solche Zuschreibungen erklären nichts, sondern verorten Gewalt in einer Gruppe, die man somit ausgrenzen kann. Sie sind aber auch schmerzhaft für junge Männer, die aufgrund ihres Aussehens ständig befürchten müssen, als potenzielle Vergewaltiger oder Gewalttäter behandelt zu werden. Nicht junge muslimische Männer sind das Problem, sondern vielmehr, dass ihnen problematische Eigenschaften zugeschrieben werden, die es auch in anderen Teilen unserer Gesellschaft gibt.

Wie würde man es schaffen, diese jungen Männer besser zu integrieren und welche Fehler haben Staat und Behörden in Deutschland bisher gemacht?

Als Diskursanalytiker*innen können wir keine Integrationskonzepte erstellen oder anordnen. Aber wir können zeigen, wie ausgrenzende Zuschreibungen und aufgeheizte Debatten gerade die Menschen treffen, die sowieso schon unter Ausbeutung und Segregation im ungezügelten Kapitalismus leiden. Und wir können zeigen, wie problematisch es ist, wenn eben muslimische junge Männer nicht als Teil unserer Gesellschaft gesehen werden, also als Teil eines »Wir«, sondern per se als Delinquenten. Insofern ist es wichtig, mit Communitys und Personen direkt zu sprechen und nicht über sie, denn ihre Perspektive muss maßgeblich sein. In diese Richtung gehen Konzepte partizipativer Sozialarbeit, die ihr Gegenüber als politische Akteure ernst nehmen und sie vor allem auch darin bestärken, für ihre Rechte und Anliegen einzutreten.

Wie beurteilt Ihr Institut die mediale Berichterstattung über die sogenannten Silvester-unruhen oder aktuell über Schlägereien in Freibädern?

Ein Projektteam im DISS hat zumindest zu Silvester 2022/2023 eine kleine Medienuntersuchung gemacht. Dabei wurde deutlich, dass die Ereignisse hauptsächlich als Anlass für darüber hinausgehende politische Forderungen genommen wurden. In den Darstellungen von »Bild« bekommt man den Eindruck, es herrschten kriegsähnliche Zustände. Und »Bild« und »Frankfurter Allgemeine« glorifizierten angegriffene Polizei- und Rettungskräfte. Beide Medien ethnisieren Kriminalität und betonen eine Wertedifferenz zwischen einer angeblich kriminellen muslimischen Minderheit und einer vermeintlich unschuldigen Mehrheit der Gesellschaft. Als Konsequenz daraus werden in der »FAZ« schnellere oder härtere Strafen gefordert, während »Bild« die Abschiebung krimineller Migrant*innen fordert. Die Debatte in beiden Zeitungen war rassistisch aufgeheizt. Die »Taz« hingegen kritisiert diesen Rassismus und benennt in zwei Kommentaren auch unangemessenes Polizeiverhalten als mögliche Ursache für die Ereignisse. Trotzdem wird auch hier neben sozialen Maßnahmen vor allem ein restriktives Vorgehen seitens der Polizei und direkte Bestrafung gefordert. Dabei wird übersehen, dass dies häufig Auswirkungen auf Menschen hat, die als migrantisch wahrgenommen werden, etwa durch Racial Profiling.

Vor allem in konservativen Kreisen wird beklagt, sobald man unangenehme Wahrheiten anspreche, werde der Rassismusvorwurf erhoben – und als Totschlag-Argument genutzt. Wie sehen Sie das?

Es handelt sich dabei um einen Abwehrmechanismus: Kritik an rassistischen Strukturen wird umgedeutet als angebliches Sprechverbot, gegen das man sich dann wehrt. Außerdem wird unterstellt, die Debatte über die angeblich wahren Probleme solle so unterbunden werden. Doch das ergibt nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die wahren Probleme Migration und Islam sind und nicht etwa Rassismus, soziale Ungerechtigkeit oder patriarchale Strukturen.

Was sollten Redaktionen tun, um Gewalt in ihrer Berichterstattung nicht zu stark zu ethnisieren?

Es ist schon viel erreicht, wenn Journalist*innen eventuell auch ungewollte rassistische Effekte reflektieren. Wenn man an die Asyldebatte der 1990er Jahre und die Diskurse zum Brandanschlag in Solingen 1993 oder über die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen zurück-denkt, kann man sagen, dass die Sensibilität bei einem Teil der Journalist*innen deutlich gestiegen ist. Allerdings fällt bei der Silvesterdebatte auf, dass linke Medien zwar benennen, dass rassistische Strukturen ein zentrales Problem sind, dann aber doch restriktive Maßnahmen statt besserer sozialer und antirassistischer Konzepte fordern. Es lohnt sich auch, darauf zu achten, welche »Wir«- und »Fremd«-Gruppen in Zeitungstexten konstruiert werden. Ob die Grenze zwischen Christ*innen und Muslim*innen, rechtschaffenen Bürger*innen und Kriminellen oder Erwachsenen und delinquenten Jugendlichen gezogen wird: Es kommt in allen Fällen zur Konstruktion eines ausgrenzenden »Wir«. Das zu reflektieren ist aber nur die halbe Miete. Außerdem sollten Redaktionen möglichst plural besetzt sein, es sollte häufig Gastbeiträge und Reportagen geben, in denen auch Menschen zu Wort kommen, die von Ethnisierung betroffen sind.

Benno Nothardt engagiert sich ehrenamtlich im Arbeitskreis Migration des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Das vor 35 Jahren gegründete Institut forscht zu gesellschaftlich relevanten Themen wie Rechtsextremismus, Migration, Geschlechterdiskurse, Antisemitismus und Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja.


online veröffentlicht 24.7.2023: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174992.feindbild-muslime-kriminalitaet-wird-ethnisiert.html
zugleich in der Printausgabe des Neuen Deutschland (nd), 25.7.2023, S. 4

»Von der Wiege bis zur Bahre«

Neu in der Edition DISS beim Unrast-Verlag:

Rebecca Folke:
»Von der Wiege bis zur Bahre«
Kindeswohlgefährdung im völkisch-neonazistischen Spektrum

ISBN 978-3-89771-781-7 | 128 Seiten | Edition DISS, Bd. 51 | 16,00 Euro

Seit den 1950er Jahren werden Kinder und Jugendliche in einem spezifischen Teil der organisierten neonazistischen Szene in der BRD in völkisch-nationalistischen und neonazistischen Jugendbünden erzogen. Dennoch war diese Form der institutionalisierten Erziehung bisher nicht Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung. Unter dem Pseudonym Rebecca Folke liefert die Autorin nun eine erste systematische Untersuchung der innerorganisationalen Sozialisationsbedingungen eines solchen Jugendbundes, der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ). Zwar wurde die HDJ 2009 aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus verboten, doch steht sie bis heute exemplarisch für diese spezifische Form institutionalisierter völkischer Erziehung. In ihrer Untersuchung beleuchtet die Autorin insbesondere den Aspekt der Kindeswohlgefährdung. Sie zeigt auf, dass die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen in diesem Spektrum systematisch verletzt werden und diskutiert in ihrem Fazit Implikationen für die erziehungswissenschaftliche Forschung und Praxis.

DISS-Journal 45 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

 

Vorwort

Seitdem Putin den guten alten Lenin zur Unperson, Stalin dagegen zum Vorbild und die Kriegspredigten des Patriarchen Kyrill zu aufbauenden Traktaten erklärt hat, erscheint es ratsam, wieder einmal in die alten Texte Lenins hineinzuschauen, die er während des Ersten Weltkrieges im Schweizer Exil geschrieben hat. Im April 1916 veröffentlichte er Thesen zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen unter den Bedingungen eines Weltkrieges, in dem sich zwei imperialistische Blöcke gegenüberstanden. Mit Blick auf eine zukünftige sozialistische Revolution im Zarenreich schrieb er: „Die Tatsache, daß der Kampf gegen eine imperialistische Macht für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer anderen ‚Großmacht‘ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie genauso wenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, wie die mehrfachen Fälle der Ausnutzung der republikanischen Losungen durch die Bourgeoisie […] die Sozialdemokratie bewegen können, auf ihren Republikanismus zu verzichten.“

Die Ukraine gehört nicht (mehr) zur Russischen Welt (Russkij Mir). Ihr Selbstbestimmungsrecht anzuerkennen, will nicht nur Putin und Kyrill partout nicht einfallen, sondern auch den sog. ‚Putinverstehern‘ in Europa und speziell Deutschland, die den Ukrainekrieg als Auftakt zur Abrechnung mit dem „Regenbogenimperium“ der angelsächsischen Vormacht sehen und von einem europäischen „Großraum“, selbstverständlich unter deutscher Führung, träumen, den sie mit russischer Hilfe zu installieren trachten. Björn Höckes Kriegsrede in Gera ist diesbezüglich ein Thema in diesem Heft, kontrastiert mit dem Ansinnen der „realistischen“ Fraktion der extremen Rechten, die „Zeitenwende“ diskursiv zu okkupieren, um die Nation endlich mental und militärisch (sogar zur Atommacht?) aufzurüsten und in den Zustand der viel beschworenen Souveränität zu versetzen, wenn auch noch, unter den gegebenen Bedingungen, innerhalb der NATO.

Im Ukrainekrieg geht es aber nicht nur um die nationale Unabhängigkeit, sondern auch, gewissermaßen überdeterminiert, um die zukünftige Weltordnung. In dieser Hinsicht ist der Ukrainekrieg ein Vorspiel zu einer noch schwerwiegenderen Konfrontation. Aus der Sicht amerikanischer Militärstrategen, schreibt Wolfgang Kastrup in seinem Beitrag, bleibe Russland „zwar durch seine Nuklearmacht weiterhin strategisch bedeutend, China als neue Nuklearmacht habe aber gegenüber Russland politisch, ökonomisch und militärisch eine andere Größenordnung, es sei ein systemischer Rivale, der die Weltordnung bedrohe“. Kastrup untersucht die Determinanten dieser sich schrittweise zuspitzenden Systemrivalität-

In einem zweiten Schwerpunkt geht es um die Engführung der ökologischen Transformation auf den sogenannten Green New Deal. Dringend benötigte, weiterreichende Konzepte wie die Option eines Degrowth, passen nicht in die grün gefärbte, kapitalistische Fortschrittsgläubigkeit.

Die Zuversicht der Politik, den ökologischen Kollaps rein technologisch abwenden zu können, klingt geradezu naiv angesichts des Energiehungers des vermeintlichen Allzweckheilmittels der künstlichen Intelligenz. Auf deren politische Schadwirkung blicken wir mit einer kritischen Untersuchung des derzeitigen Hypes um den künstlich ‚intelligenten‘ Chatbot namens ChatGPT.

 

Inhalt

4 VORWORT

5 (UNGEHALTENE) REDE ZUM OSTERMARSCH 2023
Von Helmut Loeven

6 USA UND CHINA – HEGEMONIEKAMPF UM DIE WELTORDNUNG
Von Wolfgang Kastrup

14 HÖCKES KRIEGSREDE AM 3. OKTOBER 2022 IN GERA
Von Helmut Kellershohn

18 „ES GEHT UM UNSERE NATION. ES GEHT UM UNSERE
LEKTIONEN AUS DEM UKRAINE-KRIEG AUS DER SICHT DER JUNGEN
Von Helmut Kellershohn

24 DER FALL MAASEN
Von Theo Morell

30 GRÜNER KAPITALISMUS – DIE LÖSUNG?
Von Lukas Gerke

32 KLIMATECHNOLOGISCHER KOLLAPS
Von Guido Arnold

36 CHATGPT – EIN POLITISCHES DESASTER
Von Guido Arnold

42 JUNG, MÄNNLICH, MIGRANTISCH – EXPLOSIV!
ZUR DISKURSIVEN VORGESCHICHTE DER SILVESTERDE-BATTE
Von Isolde Aigner

47 ZWISCHEN REPRESSION UND VERSTÄNDNIS
KOMMENTARANALYSEN ZU DEN EREIGNISSEN DER SIL-VESTERNACHT
Von Maria Kim Anastasia Pawlinski, Nuran Taner und
50 ZUR KRÖNUNG VON CHARLES III.
Von Jobst Paul

54 LESETIPPS
Leseempfehlungen von Helmut Kellershohn, Benno Nothardt

57 „ICH ÜBERLEGE, MEIN BAUCH ENTSCHEIDET“
HEINRICH STRUNK – NACHLASSAUSSTELLUNG
Veranstaltungsempfehlung von Margarete Jäger und Benno

57 ERST STIRBT DAS RECHT, DANN DER MENSCH

30 JAHRE NACH GRUNDGESETZÄNDERUNG & SOLINGEN
von Heiko Kauffmann

59 AUS DEM INSTITUT

„Ich überlege, mein Bauch entscheidet“

Heinrich Strunk – Nachlassausstellung


Ausschnitt aus einem Bild von Heinrich Strunk

Wer das DISS kennt, kennt den 1949 geborenen Künstler Heinrich Strunk, denn ihm verdanken wir unser Logo und die Gestaltung von Buchcovern aus den 1990-Jahren. Auch der stilisierte Fink, der die Duisburger Studierendenkneipe Finkenkrug bis heute ziert, stammt aus seiner Hand.
Heinrich war Mitte der 1990er-Jahre zwei Jahre Mitarbeiter des DISS und hat uns einen immerwährenden, antirassistischen Kalender hinterlassen. Dieser spielt mit dem changierenden Verhältnis von Individualität und allgemeinmenschlicher Solidarität. Dazu kombiniert er verfremdete, vielfältige und ausdrucksstarke gemalte Portraits mit immer neuen Variationen des Mottos „Du bist wie keiner. Alle sind wie jeder“. Restexemplare können noch heute im DISS und der Buchhandlung Weltbühne erworben werden.

2016 verstarb Heinrich. Jetzt zeigt die cubus kunsthalle in Duisburg seinen Nachlass. Die Ausstellung zeigt, wie vielfältig, kritisch und humorvoll er war. Zwischen den Ausstellungsstücke sind Fotografien des Duisburger Fotografen Gernot Schwarz platziert, die mit künstlerischem Blick Ausschnitte aus Heinrich Strunks ehemaligen Atelier zeigen.

In der Ausstellung können Bilder zu Preisen zwischen 5 und 100 € erworben werden.  Das bedeutet aber auch: Je später man hingeht, je wenige Bilder sind noch zu sehen. Also los…

cubus kunsthalle
Friedrich-Wilhelm-Straße 64 in Duisburg.
bis Sonntag, 11.6.2023
Mi–So, 14–18 Uhr, Eintritt frei

 

Kalenderblatt des Kalenders gegen Rassismus, © 1994 DISS

Umschlaggestaltung © 1995