DISS-Journal 45 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

 

Vorwort

Seitdem Putin den guten alten Lenin zur Unperson, Stalin dagegen zum Vorbild und die Kriegspredigten des Patriarchen Kyrill zu aufbauenden Traktaten erklärt hat, erscheint es ratsam, wieder einmal in die alten Texte Lenins hineinzuschauen, die er während des Ersten Weltkrieges im Schweizer Exil geschrieben hat. Im April 1916 veröffentlichte er Thesen zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen unter den Bedingungen eines Weltkrieges, in dem sich zwei imperialistische Blöcke gegenüberstanden. Mit Blick auf eine zukünftige sozialistische Revolution im Zarenreich schrieb er: „Die Tatsache, daß der Kampf gegen eine imperialistische Macht für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer anderen ‚Großmacht‘ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie genauso wenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, wie die mehrfachen Fälle der Ausnutzung der republikanischen Losungen durch die Bourgeoisie […] die Sozialdemokratie bewegen können, auf ihren Republikanismus zu verzichten.“

Die Ukraine gehört nicht (mehr) zur Russischen Welt (Russkij Mir). Ihr Selbstbestimmungsrecht anzuerkennen, will nicht nur Putin und Kyrill partout nicht einfallen, sondern auch den sog. ‚Putinverstehern‘ in Europa und speziell Deutschland, die den Ukrainekrieg als Auftakt zur Abrechnung mit dem „Regenbogenimperium“ der angelsächsischen Vormacht sehen und von einem europäischen „Großraum“, selbstverständlich unter deutscher Führung, träumen, den sie mit russischer Hilfe zu installieren trachten. Björn Höckes Kriegsrede in Gera ist diesbezüglich ein Thema in diesem Heft, kontrastiert mit dem Ansinnen der „realistischen“ Fraktion der extremen Rechten, die „Zeitenwende“ diskursiv zu okkupieren, um die Nation endlich mental und militärisch (sogar zur Atommacht?) aufzurüsten und in den Zustand der viel beschworenen Souveränität zu versetzen, wenn auch noch, unter den gegebenen Bedingungen, innerhalb der NATO.

Im Ukrainekrieg geht es aber nicht nur um die nationale Unabhängigkeit, sondern auch, gewissermaßen überdeterminiert, um die zukünftige Weltordnung. In dieser Hinsicht ist der Ukrainekrieg ein Vorspiel zu einer noch schwerwiegenderen Konfrontation. Aus der Sicht amerikanischer Militärstrategen, schreibt Wolfgang Kastrup in seinem Beitrag, bleibe Russland „zwar durch seine Nuklearmacht weiterhin strategisch bedeutend, China als neue Nuklearmacht habe aber gegenüber Russland politisch, ökonomisch und militärisch eine andere Größenordnung, es sei ein systemischer Rivale, der die Weltordnung bedrohe“. Kastrup untersucht die Determinanten dieser sich schrittweise zuspitzenden Systemrivalität-

In einem zweiten Schwerpunkt geht es um die Engführung der ökologischen Transformation auf den sogenannten Green New Deal. Dringend benötigte, weiterreichende Konzepte wie die Option eines Degrowth, passen nicht in die grün gefärbte, kapitalistische Fortschrittsgläubigkeit.

Die Zuversicht der Politik, den ökologischen Kollaps rein technologisch abwenden zu können, klingt geradezu naiv angesichts des Energiehungers des vermeintlichen Allzweckheilmittels der künstlichen Intelligenz. Auf deren politische Schadwirkung blicken wir mit einer kritischen Untersuchung des derzeitigen Hypes um den künstlich ‚intelligenten‘ Chatbot namens ChatGPT.

 

Inhalt

4 VORWORT

5 (UNGEHALTENE) REDE ZUM OSTERMARSCH 2023
Von Helmut Loeven

6 USA UND CHINA – HEGEMONIEKAMPF UM DIE WELTORDNUNG
Von Wolfgang Kastrup

14 HÖCKES KRIEGSREDE AM 3. OKTOBER 2022 IN GERA
Von Helmut Kellershohn

18 „ES GEHT UM UNSERE NATION. ES GEHT UM UNSERE
LEKTIONEN AUS DEM UKRAINE-KRIEG AUS DER SICHT DER JUNGEN
Von Helmut Kellershohn

24 DER FALL MAASEN
Von Theo Morell

30 GRÜNER KAPITALISMUS – DIE LÖSUNG?
Von Lukas Gerke

32 KLIMATECHNOLOGISCHER KOLLAPS
Von Guido Arnold

36 CHATGPT – EIN POLITISCHES DESASTER
Von Guido Arnold

42 JUNG, MÄNNLICH, MIGRANTISCH – EXPLOSIV!
ZUR DISKURSIVEN VORGESCHICHTE DER SILVESTERDE-BATTE
Von Isolde Aigner

47 ZWISCHEN REPRESSION UND VERSTÄNDNIS
KOMMENTARANALYSEN ZU DEN EREIGNISSEN DER SIL-VESTERNACHT
Von Maria Kim Anastasia Pawlinski, Nuran Taner und
50 ZUR KRÖNUNG VON CHARLES III.
Von Jobst Paul

54 LESETIPPS
Leseempfehlungen von Helmut Kellershohn, Benno Nothardt

57 „ICH ÜBERLEGE, MEIN BAUCH ENTSCHEIDET“
HEINRICH STRUNK – NACHLASSAUSSTELLUNG
Veranstaltungsempfehlung von Margarete Jäger und Benno

57 ERST STIRBT DAS RECHT, DANN DER MENSCH

30 JAHRE NACH GRUNDGESETZÄNDERUNG & SOLINGEN
von Heiko Kauffmann

59 AUS DEM INSTITUT

DISS Neuerscheinung: (Post-)Pandemische Normalitäten

»Nicht die Viren sind ungerecht, sondern die Strukturen, auf die sie treffen« (Christa Wichterich)

Guido Arnold, Helmut Kellershohn, Margarete Jäger:
(Post-)Pandemische Normalitäten
Edition DISS Bd. 50
1. Auflage, Dezember 2022
160 Seiten, 19,80 €
ISBN 978-3-89771-779-4
UNRAST Verlag, Münster

Bestellungen bitte über den Unrast-Verlag:
(Post-)Pandemische Normalitäten

Einhergehend mit rassistischen und nationalistischen Entsolidarisierungsprozessen, veränderten Gerechtigkeitsvorstellungen und einer zunehmenden Entwicklung sozialer Ungleichheitsverhältnisse – nicht zuletzt aufgrund eines technokratisch geleiteten ›Solutionismus‹ im automatisierten Bevölkerungsmanagement – hat die Corona-Krise ›neue Normalitäten‹ generiert, die gesellschaftsverändernde Wirkung auf die post-pandemische Zukunft haben.

In 13 lesenswerten Beiträgen geht dieser Sammelband des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) der Frage nach, welchen Einfluss die Krise auf die Geschlechterverhältnisse hatte (und immer noch hat), auf den desolat ausgehöhlten Gesundheitssektor, auf die Digitalisierung im Bildungs- und Arbeitsbereich oder die zunehmende Bedeutung von Verschwörungsmythen.

Doch die Autor:innen sezieren nicht nur die spezifischen Merkmale der Pandemie. Sie nehmen auch möglicherweise kausale Zusammenhänge zwischen der pandemischen und der sich parallel zuspitzenden ökologische Krise in den Blick und analysieren die gesellschaftlichen Auswirkungen im Hinblick auf eine sich möglicherweise katastrophisch verschärfende Krisendynamik.

Inhalt

Guido Arnold /Margarete Jäger / Helmut Kellershohn
Vorwort

Jürgen Link
In welcher »neuen Normalität« wird die >Corona-Krise< enden?

Isolde Aigner
»Es ist Corona, was macht Ihr da?!« Jugendliche in der Corona-Pandemie

Christian Kolbe / Thomas Kunz
Hochschule und Digitalisierung in Post-Corona-Zeiten

Massimo Perinelli
Corona und Rassismus:
Die Krise der Solidarität im nationalen Shutdown

Christoph Butterwegge
Pandemische Ungleichheit im Corona-Kapitalismus

Christa Wichterich
Care, Geschlecht und Covid-19-Regime

Andreas Wulf
Der Pharma- und Patentekomplex

Guido Arnold
Postpandemisches Bevölkerungsmanagement

Bruno Kern
Die Rückkehr zum menschlichen Maß: Industrielle Abrüstung!

Helmut Kellershohn
»Blue Deal« versus »European Green Deal«

Andrea Becker
Der Reset der Großen Transformation

Clemens Knobloch
Verschwörungstheorie

DISS-Journal 42 erschienen

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Vorwort

Der 9. November ist sicherlich ein schwieriger Tag der Erinnerung an die deutsche Geschichte. Anton Maegerle schreibt in einem aktuellen Beitrag für den DISSkursiv-Blog, der 9. November markiere „den Beginn der ersten deutschen Republik [1918], den Versuch eines rechtsextremen Umsturzes [1923], das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung [1938] und den Fall der Berliner Mauer [1989]“. Und: „Weitgehend in Vergessenheit ist geraten, dass – auch an einem 9. November – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde: Robert Blum.“ Es wäre absolut unangemessen, diese Erinnerungsdaten miteinander zu verrechnen, eine Art Plus-Minus-Rechnung aufzumachen. Etwas anderes gilt: Die Verhinderung (1848) bzw. die Zerstörung der Weimarer Demokratie waren die Voraussetzung für die Etablierung einer halbabsolutistischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. und das Vernichtungswerk des Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1918 und 1989 wiederum stehen für eine andere Problemstellung: Während Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die „deutsche Republik“ ausrief, proklamierte Karl Liebknecht etwas später am selben Tag die „freie sozialistische Republik“ – freilich ohne nachhaltige Wirkung. Die hier offenbar werdenden Gegensätze in der Arbeiterbewegung, von denen der Faschismus profitierte, verhinderten einen historischen Kompromiss zwischen Demokratie und Sozialismus, den auch unter anderen Vorzeichen die DDR nicht zu realisieren vermochte. Der 9. November 1989 war die ‚logische‘ Konsequenz.

Die Erinnerung an den 9. November als dem ‚Schicksalstag‘ der deutschen Geschichte wird immer verbunden sein mit der Frage nach der Zukunft der Nation. Wird sie aufgehen in den „Vereinigten Staaten von Europa“, die von Ernest Renan in seiner berühmten Rede über das Prinzip „Nation“ als „wahrscheinlich“ prognostiziert wurden? Wird es möglich sein, die Verbindung von Demokratie und Sozialismus unter den Bedingungen der „Klima-Krise“ auf die Tagesordnung der politischen Agenda zu setzen? Andeutungsweise, aber mit Optimismus hat die jüngste Abgeordnete im Bundestag, die 23-jährige Emilia Fester von den Grünen, auf der offiziellen Gedenkveranstaltung im Schloss Bellevue diese Problemstellung angesprochen. „Sie betonte in ihrer Ansprache, die derzeitigen Probleme wie die Klimakrise und die ungleiche Verteilung von Reichtum seien lösbar. Ein ‚Weiter-So‘ gehe aber nicht. Auch daran erinnere der 9. November 1918.“

Das vorliegende Heft des DISS-Journals ist kein Gedenkheft zum 9. November. Gleichwohl ist dieser Tag, um es mit dem Bundespräsidenten zu formulieren, auch für uns „ein Tag zum Nachdenken über unser Land“. Es kommt aber darauf an, über welche Fragen und wie nachgedacht werden muss. Über Beiträge aus dem Kreis der Leserschaft des DISS-Journals würden wir uns freuen.

Helmut Kellershohn

 

Inhalt

Ökotechnokratie
‚SMARTE ÖKOLOGIE‘
Von Guido Arnold

Der Reset der Großen Transformation
Von Andrea Becker

Ein- und Ausschließungsmuster in der Bevölkerung
Von Peter Höhmann

Etwas mehr Diversität im Bundestag
ABER DER FLÜCHTLING TAREQ ALAOWS MUSS SEINE KANDIDATUR ZURÜCKZIEHEN

Stolpersteine für schwule Männer
AUCH IN DUISBURG NICHT LÄNGER VERSCHWIEGEN
Von Jürgen Wenke

Gleichstellung oder Ökonomie
DIVERSITÄTSKONZEPTE INTERNATIONALER UNTERNEHMEN IM VERGLEICH
Von Sarah Bungard

Tragische Einzelfälle?
WIE MEDIEN ÜBER GEWALT GEGEN FRAUEN BERICHTEN.
Christine E. Meltzer: Tragische Einzelfälle?
Rezension von Louisa Brand

Moria. System. Zeugen.
EIN BILDBAND ÜBER DAS FLÜCHTLINGSLAGER MORIA
Martin Gerner: Moria. System. Zeugen.
Rezension von Benno Nothardt

Von „America First“ zu „America Second?“
DIE USA, CHINA UND DER WELTMARKT
Christoph Scherrer: America Second?
Rezension von Wolfgang Kastrup

Arbeiter*innen und ihre Sympathien für die radikale Rechte
„IN DER WARTESCHLANGE“
Klaus Dörre: In der Warteschlange.
Rezension von Wolfgang Kastrup

„Mythos Mitte“ und die Klassenfrage
Ulf Kadritzke: Jenseits von „Mitte und Maß“.
Rezension von Wolfgang Kastrup

Thomas Biebricher: Die politische Theorie des Neoliberalismus
Rezension von Helmut Kellershohn

Liberale Traditionen und Faschismus
EIN ISRAELISCHER HISTORIKER THEMATISIERT EINEN BRISANTEN ZUSAMMENHANG
Ishay Landa: Der Lehrling und sein Meister.
Rezension von Helmut Kellershohn

Philosophische Aufarbeitung:
Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus
Werner Konitzer u.a. (Hg.): Vermeintliche Gründe.
Rezension von Stefan Vennmann

Neues aus dem Institut

DISS-Kolloquium
„DIE CORONA-KRISE – DER WEG IN EINE NEUE NORMALITÄT?“

 

DISS-Journal Sonderausgabe 4: Neue Rechte und AfD

Die neue Sonderausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

Neue Rechte und AfD
Wirtschaft | Klima | Soziales – die Bundestagswahl 2021

AUTOR*INNEN
Andrea Becker
Fynn Bitz
Johanna Bongers
Laura Geray
Helmut Kellershohn
Maria Luna Kindermann
Karina Korneli
Max Kroppenberg
Laura Schlöter
Louisa von der Weydt
Lara Wiese

INHALT
3 VORWORT
4 VORÜBERLEGUNGEN
8 METHODIK / VORGEHENSWEISE
9 VÖLKISCHER NEOLIBERALISMUS – ANMERKUNGEN ZUM BUNDESTAGSWAHLPROGRAMM 2021 DER AFD
22 DISKURSE GEGEN DEN KLIMASCHUTZ IN AFD-PROGRAMMEN
29 UMKÄMPFTE RENTENPOLITIK IN DER AFD
35 ZEITSCHRIFTENPORTRÄT DIE KEHRE
39 PORTRÄT RECHERCHE D
42 PORTRÄT „ZUERST!“
44 PORTRÄT „EIGENTÜMLICH FREI“
46 DER MITTELSTANDS-DISKURS IN MEDIEN DER NEUEN RECHTEN
54 RECHTE POSITIONEN ZUM BEDINGUNGSLOSEN GRUNDEINKOMMEN
57 DISKURS „NIEDRIGLOHN UND MIGRATION“ IN DER JUNGEN FREIHEIT
59 VÖLKISCHER ANTIKAPITALISMUS
61 AUSGEWÄHLTE LITERATUR ZUR NEUEN RECHTEN

Vorwort
Auf der 20. Sommerakademie des Instituts für Staatspolitik 2019 hielt Götz Kubitschek, einer der Vordenker der sogenannten Neuen Rechten, einen Vortrag, der dann unter dem Titel „Normalisierungspatriotismus“ in der in
stitutseigenen Zeitschrift Sezession erschien (92/2019). Der Begriff erinnert an einen Text von Peter Glotz (SPD) aus dem Jahr 1994, in dem dieser die unter dem Label „Neue demokratische Rechte“ auftretende intellektuelle Rechte – ihr Aushängeschild war der von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebene Sammelband Die selbstbewußte Nation – mit dem kritisch gemeinten Begriff „Normalisierungsnationalisten“ belegte. Kubitschek macht sich ihn zu Nutze, verändert ihn und seine Bedeutung und empfiehlt ihn nunmehr der AfD als Kampfbegriff. „Normalisierungspatriotismus: Das ist die Wiederherstellung des Selbstverständlichen und Tragfähigen, die Rekonstruktion des Angemessenen und Zuträglichen, und bereits das ist, so bescheiden es klingt, eine Herkulesaufgabe.“ Die Renormalisierung der Verhältnisse, gleichbedeutend mit der Renationalisierung der Repu
blik – das sei das „politische Minimum“, das sich die AfD zu eigen machen müsse und auch schon tatsächlich anstrebe.
Es verwundert nicht, wenn – auf welch verschlungenen Pfaden auch immer – die Normalisierungs-Parole auf dem neuen Wahlprogramm der AfD für die Bundestagswahl 2021 als Motto erscheint: „Deutschland. Aber nor
mal.“ Das klingt in der Tat „bescheiden“ oder „defensiv“, wie Kubitschek formulierte. Über das „politische Maximum“ freilich schwieg er 2019 genauso wie heute die AfD. Wir haben es hier mit einem schönen Beispiel für das Zusammenspiel der Neuen Rechten und der AfD, von Metapolitik und Realpolitik zu tun. Die Neue Rechte – unabhängig von ihren disparaten Fraktionen – betrachtet die AfD als Transmissionsriemen ihrer Ideen, die AfD ihrerseits – unabhängig von ihren Flügeln – bedient sich des Arsenals ihrer Argumente.
Das hier vorliegende Sonderheft des DISS-Journals widmet sich schwerpunktmäßig, nicht zuletzt aus Gründen der Aktualität, der „Normalisierungs“-Agenda der AfD im Vorfeld der Bundestagswahl (Wahlprogramm, Klimapolitik, Rentenpolitik). Die diesbezüglichen Texte sind im Rahmen eines vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW geförderten und in die Wissenschafts- und Praxiscommunity des Netzwerks CoRE-NRW (Connecting Research on Extremism) eingebundenen Projekts entstanden, das noch bis Juni 2022 läuft („Metapolitik und Weltanschauung. Konzepte und Debatten der Neuen Rechten zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik“). Im Verlauf der Arbeit an diesem Projekt sind auch die Beiträge entstanden, die in diesem Heft einzelnen Facetten der Neuen Rechten nachgehen. Ihr verbindendes Moment ist die Thematisierung wirtschafts- und sozialpolitischer Vorstellungen in Medien der Neuen Rechten. Vier dieser Medien werden zudem porträtiert. Die beiden einleitenden Artikel, darauf sei zuletzt verwiesen, stellen die theoretischen Überlegungen vor, die dem Projekt zugrunde liegen, gefolgt von einem Methodenkapitel, in dem Andrea Becker die Arbeit an der Erstellung eines Textkorpus zur Publizistik anschaulich darstellt.
Bedanken möchte ich mich bei den Praktikantinnen und Praktikanten, die das Projekt unterstützt haben und dem DISS hoffentlich ‚geistig‘ verbunden bleiben werden, sowie bei Martin Dietzsch für die Betreuung des Heftes. Guido Arnold verdanken wir wie immer ein anregendes Layout.
Helmut Kellershohn

 

 

DISS-Journal 41 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

Vorwort

Aktuell scheint ein Aufatmen durch die Republik zu gehen, die sog. „Bundes-Notbremse“ vorerst in weite Entfernung gerückt zu sein. Also Grund genug, wieder einmal innezuhalten und über einige Aspekte der „Corona-Krise“ nachzudenken.

Klaus Dörre hat in einem Artikel im Berliner Journal für Soziologie „Die Corona-Pandemie – eine Katastrophe mit Sprengkraft“ den Begriff der „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“ geprägt. Gemeint ist damit das Zusammentreffen zweier Krisenprozesse, zum einen einer schwachen Akkumulationsdynamik des Kapitals, zum anderen einer „epochalen Krise der Gesellschafts-Natur-Beziehungen“. Im Kreuzungspunkt einer solchen kritischen Konstellation, die durch die Pandemie bzw. durch deren in Zukunft zu bewältigenden Folgelasten nochmals verschärft worden sei, stellt sich die Frage, welchen Entwicklungspfad das kapitalistische Weltsystem zukünftig einschlagen wird. Mit welchen politischen und ökonomischen Mitteln soll die „Zangenkrise“ bearbeitet werden? Der Artikel von Jürgen Link in diesem Heft widmet sich dieser Fragestellung aus Normalismus-theoretischer Sicht, in dem er die retardierenden Kräfte, die ein Zurück zur „alten“ Normalität propagieren und für die in Deutschland die AfD steht, unter die Lupe nimmt.

Die anderen Artikel zum Corona-Schwerpunkt thematisieren im Vergleich dazu eher Detailprobleme, die jedoch für die Stimmungslage in der Republik von erheblicher Bedeutung sind. Guido Arnold untersucht die Debatte über „Impfprivilegien“ (auch in ihrer internationalen Dimension). Ulrike Höhmann kritisiert die strukturellen Defizite des Gesundheitssystems, die die Bearbeitung der Pandemie erschwert haben. Gaby Cleve schildert in einem Erfahrungsbericht das unsägliche Chaos im Schulsystem. Und Alexander Häusler stellt seine Einschätzung der Bewegung der Pandemie-Leugner*innen vor. Den geneigten Leser*innen seien aber auch die anderen Artikel empfohlen, die das neue DISS-Journal abrunden: zwei Diskursanalysen (Dortmunder Tatort, Flüchtlings-Diskurs), ein ironischer Blick auf das britisch-deutsche Verhältnis, eine kompakte Einführung in die Staatstheorie von Poulantzas, eine Analyse des Wahlprogrammentwurfs der AfD und – wie üblich – der Rezensionsteil.

Helmut Kellershohn

 

Inhalt

Impfprivilegien – Egoismus, der krank macht
von Guido Arnold

Strukturmerkmale des Gesundheitssystems
und die COVID 19 Pandemie
von Ulrike Höhmann

Lernen im Corona-Modus
EINE HERAUSFORDERUNG FÜR BILDUNG, MULTIPROFESSIONELLE TEAMS, SCHÜLER:INNEN UND ELTERN/ERZIEHUNGSBERECHTIGTE
Von Gaby Cleve

Erweiterung extrem rechten Resonanzraums oder neue
Form der „Delegitimierung des Staates“?
DIE BEWEGUNG DER PANDEMIE-LEUGNER*INNEN
von Alexander Häusler

»Deutschland – aber normal« (AfD)
WAS HEISST HIER »ABER«?
von Jürgen Link

Standortnationalismus – Völkischer Nationalismus –
Autoritärer Staat
ANMERKUNGEN ZUM NEUEN WAHLPROGRAMM DER AFD
Von Helmut Kellershohn

Das Verhältnis von Staat und gesellschaftlichen
Klassen in der Theorie von Nicos Poulantzas
von Wolfgang Kastrup

Neues aus dem Institut

Extremismus und Popkultur
EINE KRITISCHE ANALYSE DER POPKULTURELLEN VIRULENZ DER EXTREMISMUSTHEORIE AM BEISPIEL DES TATORTS DORTMUND „HEILE WELT“ VOM 21. FEBRUAR 2021
von Lisa Wessel

Carola Rackete und das Leid der Gefl üchteten
DER DEUTSCHE MEDIENDISKURS IM JUNI & JULI 2019
Von Anna-Maria Mayer, Judith Friede, Fabian Marx, Benno
Nothardt, Milan Slat, Christian Sydow

Brexitannia – a podcast and more …
VORWÄRTS IN DIE VERGANGENHEIT ODER RÜCKWÄRTS IN DIE ZUKUNFT
von Robert Tonks

Politische Bewegungsbilder im Social Web
Jens Eder, Britta Hartmann & Chris Tedjasukmana: Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozia- len Medien
Rezension von Dirk Dieluweit

Neue alte falsche Propheten
Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation
Rezension von Stefan Vennmann

150 Jahre Rosa Luxemburg
(1871-1919)

DISS-Journal Sonderausgabe AfD-Entwicklungspolitik

Die neue Sonderausgabe unserer Institus-Zeitschrift DISS-Journal ist kostenlos als PDF abrufbar.

DISS-Journal Sonderausgabe 3 (Dezember 2020)

Die Entwicklungspolitik der AfD
Ein Überblick über Programmatik, Praxis und Personal des Politikfeldes

Von Andrea Becker und Helmut Kellershohn

Die vorliegende Recherche untersucht die Positionierung der AfD und der parteinahen Desiderius-Erasmus-Stiftung auf den Gebieten der Entwicklungspolitik und der humanitären Hilfe. Dabei schlägt sie einen Bogen von den programmatischen Grundlagen (Policy) über die parlamentarische Praxis (Politics) und die organisatorische Verfasstheit (Polity) bis zu den handelnden Akteuren (Personal). Diese Ebenen sind inhaltlich nicht deckungsgleich, nicht alles, was programmatisch festgelegt ist, findet einen Niederschlag in der politischen Praxis. Das gilt auch umgekehrt: Gerade auch im Zuge der beständig fortschreitenden Radikalisierung und der parteiinternen Spannungslinien der AfD sind Aktivitäten und Diskurse der handelnden Akteure nicht zwingend aus den niedergeschriebenen Programmatiken ableitbar. Umso wichtiger ist darum die Gesamtbetrachtung aller Ebenen. Zu diesem Zweck wurden eine Vielzahl von themenrelevanten Quellen und Literatur ausgewertet: Parteiprogrammatische Quellen (Teil 1), thematisch einschlägige Anträge aus dem Bundestag (Teil 2), öffentlich verfügbare Informationen zur DES (Teil 3), sowie Internetauftritte, Pressemitteilungen, Facebook-Profile, YouTube-Kanäle und einschlägige rechtsalternative Medien aber auch Bundestagsreden und -anfragen (Teil 4). Diese Quellenarbeit wurde ergänzt durch die Berücksichtigung diverser investigativer journalistischer Recherchen und weiterführender Sekundärliteratur.

Dabei ist, wie für jede Auseinandersetzung mit Positionen und Inhalten der AfD, die Kenntnis neurechter und populistische Strategien der Kommunikation und der Öffentlichkeitsarbeit von grundlegender Bedeutung. Solche Kommunikationsstrategien sind asymmetrisch, d.h. sie wollen nicht in einen Dialog treten, keine Standpunkte austauschen, sondern Meinungen, Einstellungen, Werte oder Emotionen in einem bestimmten Sinne beeinflussen (vgl. hierzu Becker 2020, i.E.). Sie nutzen aggressive Stilmittel, Inszenierungen und Verschwörungsmythen mit dem Ziel einer größtmöglichen öffentlichen Resonanz. In der Praxis heißt das im Falle der AfD auch im hier speziell interessierenden Themenfeld, dass sich der forschende Blick auf die milieutypischen Kommunikationskanäle richten muss. Offene und substantielle Aussagen über Standpunkte und Diskurse der Partei und ihrer Akteure finden sich in affirmativ berichtenden rechtsalternativen Medien und YouTube-Kanälen. In Facebook-Feeds und Twitter-Accounts aller Parteiebenen und aller Funktionäre und Mandatsträger werden mit zum Teil großer öffentlicher Resonanz Themen gesetzt, Inhalte verbreitet und provokativ Aufmerksamkeit generiert. Zentraler Baustein sind Legionen von YouTube-Kanälen, die mit ungefiltertem, von kritischer Nachfrage und Einordnung ungestörtem Content – insbesondere aus den oft eigens dafür konzipierten konfrontativen parlamentarischen Auftritten – gefüllt und verbreitet werden.

INHALT

Einleitung
Teil 1: „Entwicklungspolitik nach deutschem Interesse“
I. Grundsatzprogramm 2016
II. Bundestagswahlprogramm 2017
III. Entwicklungspolitische ‚Gedankenspiele‘ im Bundestagswahlkampf 2017
IV. Europawahlprogramm 2019
V. Zwischenergebnis
Teil 2: Entschließungsanträge der AfD im Bundestag
I. Entwicklungspolitik und der Kulturkampf von rechts (hier: Christenverfolgung)
II. Die Durchsetzung von Abschiebungen
III. Kein Beitritt zum Global Compact for Migration
IV. Weltmarktkonkurrenz und Entwicklungszusammenarbeit – Die „Schwellenländer“
V. Ablehnung der Agenda 2030
VI. Entschließungsantrag zum Haushalt des BMZ 2020
VII. Rohstoffe, Entwicklungspolitik und die Zivilgesellschaft
VIII. Zwischenergebnis
Teil 3: Die Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES)
Teil 4: Politische Praxis, Personenporträts und Auslandskontakte
I. Parteiebene/Bundesfachausschuss 1
II. Politische Praxis – Politics und Personal
AK17 – Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Aktivitäten des AK17
AK 19 – Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Weitere themenrelevante Akteure
Zwischenergebnis
III. AfD im Nahen Osten
IV. Kulturkampf I: Nichtregierungsorganisationen
V. Kulturkampf II: Kolonialismus-Debatte
VI. Die Instrumentalisierung von Corona
Quellen
Literatur

Kommentar zum AfD-„Sozialparteitag“

 

Der Leitantrag der Bundesprogrammkommission zum „Sozialparteitag“ der AfD. Ein Kommentar

Helmut Kellershohn

 

1. Die Sozialpolitik der AfD ist, wie bereits am Grundsatzprogramm zu erkennen, im Kern Familienpolitik. Diese wiederum steht unter dem Primat der Steigerung der Geburtenrate als Antwort auf die sogenannte demografische Krise. Sozial- bzw. Familienpolitik mit einer solchen bevölkerungspolitischen Funktion soll laut AfD dazu dienen, die Sozialsysteme zu erhalten, die „deutsche Kultur“ zu bewahren und den „Fortbestand des deutschen Volkes“ zu garantieren.

2. Familienpolitik ist ein verbindendes Element zwischen den ideologischen Strömungen der AfD: die Ordoliberalen sehen die Familie als gemeinschaftsstiftenden „Gegenhalt“ gegen die kalten Mechanismen der Marktwirtschaft; die Christlich-Konservativen betrachten die Familie als biblisch oder zivilreligiös begründete Institution; und für die Völkischen ist die Familie Garant des Ethnos als Abstammungs- und Zeugungsgemeinschaft.

3. Die Familie ist darüber hinaus der Kontrapunkt gegen die von der AfD ausgemachten Feinde und Feindbilder:

  • Gender Mainstreaming und Feminismus (‚untergräbt‘ die heteronormative bürgerliche Kernfamilie)
  • (unerwünschte) Zuwanderung (bedroht die ethnokulturelle Identität)
  • Kulturmarxismus und liberale Dekadenz

4. Im vorliegenden Leitantrag der Bundesprogrammkommission wird auch die Rentenpolitik zentral mit einer pronatalistischen Familienpolitik in Verbindung gebracht. Die Gegensätze zwischen der Position des „solidarischen Patriotismus“ (AfD Thüringen), die die umlagefinanzierte Rente auf Kosten der privaten Vorsorge ausbauen will, und der neoliberalen Position, die eine hauptsächlich kapitalgedeckte Finanzierung der Rente anstrebt, sollen in dem Leitantrag durch einen gesichtswahrenden Kompromiss, der den Fokus auf die Familienpolitik legt, abgeflacht werden.1 Das impliziert, dass die angestrebte „Reform der Rentenversicherung“ in wichtigen Punkten vage bzw. offen bleibt (z.B. Renten-Regelalter, Rentenniveau, steuerfinanzierte Grundrente, Beitragsbemessungsgrenze).

Hervorzuheben sind vier Punkte:

a) Die bisherige gemischte Finanzierung des Rentensystems (Umlage und private Vorsorge) wird beibehalten.

b) Die Schaffung von Arbeitsanreizen (unter dem Vorwand der Bekämpfung der Altersarmut) durch eine Abstandsregelung zwischen Arbeitnehmern mit geringem Einkommen und vorwiegend Arbeitslosen beim Rentenbezug.

c) Die Verbreiterung der Renten-Beitragsbasis durch die Einbeziehung von Beamten mit nicht-hoheitlichen Aufgaben, Selbstständigen (soweit sie nicht eine private Altersvorsorge nachweisen) und Politikern.

d) Die finanzielle Förderung und Stabilisierung der Familie zu Ungunsten von Kinderlosen durch eine steuerfinanzierte Beitragserstattung zur Rentenversicherung pro Kind (sog. Lastengerechtigkeit), ergänzt um eine völkische Komponente bei der privaten Vorsorge (Anlegung von staatlich finanzierten Spardepots pro Kind nur für deutsche Staatsbürger bis zum 18. Lebensjahr).

5. Neben der Propagierung einer pronatalistischen Familienpolitik wird in einem eingeschobenen Kapitel des Leitantrages die „Bedeutung von Kultur, Bildung und Forschung für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme“ (9f.) hervorgehoben. Beklagt wird zum einen das „Abschmelzen deutscher Tugenden“, die zum Kern des deutschen Kulturerbes gerechnet werden, und – mit Blick auf das hohe Produktivitätsniveau der „großen Industriekonzerne und vielen Klein- und mittelständischen Unternehmen“ – die Defizite der Bildungspolitik v.a. in den rot-grün regierten Ländern in Westdeutschland. Die ostdeutsche Bildungslandschaft wird dagegen lobend hervorgehoben, was darauf zurückgeführt wird, dass die ostdeutschen Länder nicht „durch die Zuwanderung von wenig gebildeten und gering qualifizierten Migranten seit den 60er Jahren“ betroffen gewesen seien. „Der überwiegende Teil dieser Migranten [der folgenden Generation] wird im Bildungssystem scheitern, keine qualifizierten Tätigkeiten übernehmen können und dauerhaft auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein. Deren Kosten, die von der ‚schon länger hier lebenden‘ Bevölkerung getragen werden sollen, sind eine Hypothek für die gesamte staatliche Entwicklung als Bildungs- und Technologiestandort.“

Die Defizite der Bildungspolitik, ablesbar an „internationalen Leistungsvergleichen“, beträfen auch den Hochschul- und Forschungsbereich, der „dringend auf hochqualifiziertes Personal angewiesen, das nur zu einem kleinen Teil aus dem Ausland angeworben werden“ könne.

Schlussfolgerung: „Statt Investitionen in die Asyl- und Migrationsindustrie brauchen wir massive Investititionen in Kultur, Bildung und Forschung, wenn wir die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme langfristig erhalten wollen und eine markante kulturelle Schwerpunktsetzung.“

An das Bildungssystem werden folgende Anforderungen („Kernaufgaben“) und Erwartungen gerichtet:

a) „Weitergabe von Wissen, Kompetenz und Kultur in politisch neutraler und äußerlich differenzierter Umgebung“ (s. dreigliedriges Schulsystem)

b) Entpolitisierung der Schulen bedeutet: „Konkret müssen das familienzerstörende Gendermainstreaming, die Frühsexualisierung und Projekte wie ‚Schule mit Courage, Schule gegen Rassismus‘ oder ‚Demokratie leben‘ sofort beendet werden.“

c) Bildungsexperimente sind zu beenden (Einheitsschule, Inklusion), um „junge[n] Mensche[n] zu der für sie besten Bildung“ zu verhelfen.

 

Fazit: Sozialpolitik = Familienpolitik = Bevölkerungspolitik

Die Institution, um die die AfD sich bemüht, ist die Familie im Sinne der klassischen bürgerlichen Kernfamilie. Ihre Sozialpolitik ist um den Erhalt dieser Institution und ihrer Funktionen für die Reproduktion von „Volk und Kultur“ zentriert. Dafür wird eine pronatalistische Familienpolitik als unabdingbar erachtet, nicht zuletzt in Hinblick auf die Rentenpolitik. Über die konkrete Ausgestaltung der Rentenpolitik (Finanzierung etc.) gibt es Differenzen zwischen den Lagern der AfD, die aber im Leitantrag zurückgestellt werden. Konsens ist sicherlich, dass die Familien gefördert, die Geburtenrate gesteigert und Migranten sozialpolitisch diskriminiert bzw. von bestimmten Leistungen ausgeschlossen werden sollen.

Es geht aber nicht nur um die quantitative Erweiterung des „Volkskörpers“ (quantitative Bevölkerungspolitik). Dies wird besonders in dem erwähnten Abschnitt zu „Kultur, Bildung und Forschung“ deutlich. Dort wird nämlich die ‚qualitative‘ Seite angesprochen: Nicht nur mehr Kinder sollen geboren werden, sondern solche, die die „Anforderungen einer modernen Arbeitswelt“ erfüllen können. Sie sollen Leistungsbereitschaft zeigen und leistungsfähig sein sowie das „deutsche Kulturerbe“ fortführen können. Eine bildungspolitische Gegenreform sowie die Einschränkung der Migration (fällt deutlicher aus im Europawahlprogramm, in dem von „Remigration“ die Rede ist) sollen daher die Sozial-/Familienpolitik flankieren.

 

 

 

 

1 In der Jungen Freiheit heißt es dazu: „Das eigentliche Thema des Parteitages […] hat allem Anschein nach sein Aufreger-Potential weitgehend eingebüßt. Das mag auch damit zusammenhängen, daß der Leitantrag, ohnehin ein Kompromiß zwischen der eher sozialstaatlich und der eher wirtschaftsliberal ausgerichteten Strömung, schon eine Weile vorliegt; […] ‚Bei dem Thema ist die Kuh vom Eis, da ist nichts Revolutionäres zu erwarten‘, meint ein erfahrener AfD-Politiker. Soll heißen: Weder in der einen noch der anderen Richtung würden sich maximale Forderungen durchsetzen. Spannender wird indes, wie sich die Delegierten zur Idee eines Staatsbürgergeldes stellen. Diese Form eines bedingten Grundeinkommens, verknüpft mit einer negativen Einkommenssteuer, hatte […] Rene Springer ausgearbeitet.“ (JF 49/2020, S. 4)

Tagungsbericht: DISS-Colloquium 2019

DISS-Kolloquium 2019: Entfremdung – Identität – Utopie

Tagungsort: Akademie Frankenwarte Würzburg (22.11.-24.11.2019)

Bericht von Helmut Kellershohn

Das alljährlich in Kooperation mit der Akademie Frankenwarte stattfindende Kolloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung war in diesem Jahr der Trias von Entfremdung, Identität und Utopie gewidmet. Damit wurden gesellschaftstheoretische und gesellschaftskritische Fragestellungen aufgegriffen, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Das Kolloquium thematisierte die gesellschaftlichen und diskursiven Kontexte, in denen diese Fragestellungen aufgeworfen werden, und wollte die theoretische und politisch-praktische Relevanz dieser kategorialen Trias überprüfen.

1. Der einleitende Vortrag am Freitagabend wurde nicht von der erkrankten Soziologin Stefanie Graefe (Universität Jena) gehalten, sondern von Wolfgang Kastrup (DISS). Er machte deutlich, dass die neuerliche Diskussion um den Entfremdungsbegriff einerseits Ausdruck der Krisenprozesse ist, die die ‚Welt‘ seit der Jahrtausendwende durchziehen und nach Erklärungs-mustern suchen lassen. Andererseits verweist dieser Diskurs auf die individuellen und kollekti-ven Leidenserfahrungen vieler Menschen im neoliberal regulierten Kapitalismus. Der Beitrag rekonstruierte die Theoriegeschichte des Entfremdungsbegriffs von Marx bis Marcuse, während Marvin Müller (Münster) sich in seinem sachlich anschließenden Vortrag, der am Samstagmorgen stattfand, den neueren Entfremdungstheorien von Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa zuwandte.

2. Korrespondierend zum Entfremdungsbegriff nimmt der Identitätsbegriff einen immer breiteren Raum ein in der Debatte um die Gestaltung von nichtentfremdeten Lebensver-hältnissen. ‚Identität‘ (bzw. ‚kollektive Identität‘) ist zur Chiffre geworden, unter der sich unterschiedliche Gruppen formen, denen es um eine Änderung vorherrschender Lebens- und Denkweisen geht, die sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen herausgebildet haben. Der Vortrag von Peter Höhmann (Mülheim/Ruhr) ging anhand ausgewählter Beispiele den jeweiligen Gemeinschaftsvorstellungen, ihren Begründungen und Handlungsstrategien nach. Höhmann plädierte für ein breiteres Verständnis von Identitätspolitik, das sich stärker auf die unterliegenden gesellschaftlichen Konflikte sowie die Herausbildung von Entscheidungs-prozessen im Sinne der Unterscheidung von policies vs. politics konzentriert.

Lea Susemichel (Wien) hob im anschließenden Vortrag die vielen Fallstricke von Identitätspolitik – ihre Ausschlüsse und Vereinheitlichungen – hervor, machte aber deutlich: Die besonders von Minderheiten ausgehende identitätspolitische Aktivität, die sich gegen Diskriminierungen richtet, ist Ausdruck einer demokratiepolitischen Reife und Stärke. Sie sollte keineswegs gegen Kämpfe ausgespielt werden, die sich im traditionellen Sinne gegen vertikale soziale Ungleichheiten richten. In eine ähnliche Richtung argumentierten Eleonora R. Mendívil und Bafta Sarbo (Berlin).

Wenn von Identitätspolitik die Rede ist, muss auch auf rechtspopulistische und extrem rechte Bewegungen eingegangen werden. Auch sie, darauf verwies Helmut Kellershohn (DISS), operieren identitätspolitisch, allerdings in dem Sinne, dass sie das „Deutsch-Sein“ (im völkischen Sinne) und das volksgemeinschaftliche Wir zum allein bestimmenden Identitäts-merkmal erheben. Von dorther werde verständlich, warum die Neue Rechte Entfremdung als Ausdruck von „Überfremdung“ definiere. Jörg Senf (Rom) erweiterte diesen Blickwinkel in seinem Beitrag dahingehend, dass es die Tradition des ethnolinguistic nationalism und eines völkischen Sprachpurismus gebe, die das völkische Thema Entfremdung/Überfremdung auf sprachpolitischer und auch spracherzieherischer Ebene verfolgt habe. Als Sprachwissen-schaftler meinte Senf, dass es aussichtsreich sei (im Sinne einer kritikfähigen, mehrsprachigen Teilhabe an transnationaler Wirklichkeit), auf Ansätze der emanzipatorischen Didaktik der 1970er Jahre zurückzugreifen.

3. Der Sonntagmorgen war dem Thema „Utopie“ gewidmet. Die Diskussion zum Entfrem-dungs- wie auch zum Identitätsbegriff nehmen die Vorstellungen von einer anderen, besseren Welt auf. Marvin Chlada (Duisburg) zeigte in seinem Beitrag auf, dass seit Karl Mannheim und Ernst Bloch Utopie nicht mehr primär als ein literarisches Genre („Staatsromane“, „soziale Utopien“), sondern als eine Denkform, als „utopisches Bewusstsein“ (Karl Mannheim), betrachtet wird, die es für kultur- und sozialwissenschaftliche Analysen fruchtbar zu machen gelte. Gefragt wird danach, inwieweit sich Utopie von Ideologie unterscheiden lässt, sowie allgemein nach der sozialen Funktion von Utopien. Chlada vertrat die Auffassung, dass der Begriff des Utopischen geeignet sei, eine motivierende, mobilisierende und verändernde Kraft für soziale Bewegungen zu entfalten.

Im anschließenden Vortrag stellte Jutta Meyer-Siebert (Hannover) ihre Überlegungen zu einem aus feministischer und marxistischer Sicht reflektierten Begriff der Arbeit vor. Mit Rückgriff auf einen Vorschlag von Frigga Haug plädierte sie dafür, Marx‘ Analyse von notwendiger Arbeit im Verhältnis zu Mehrarbeit (Mehrwert) vom feministischen Standpunkt nicht als verkürzt zurückzuweisen, sondern daraus Perspektiven zu gewinnen, wie die Bestimmung gesellschaftlich notwendiger Arbeit dem Kapital „entwendet“ und als Ort gesellschaftlicher Aushandlung von einem universalistischen Standpunkt angeeignet werden kann.

Im abschließenden Vortrag unterbreitete Andreas Kemper (Münster) seine, an Ernst Bloch anschließenden Überlegungen zum Verhältnis von Gewalt, Autonomie und Utopie. Anstelle von autoritären Identifikationen mit auch gewaltbasierten Machtverhältnissen in bestimmten, für Rechtsextremismus anfälligen, „ungleichzeitigen“ Milieus unterstrich er die Relevanz autonomer und miteinander solidarischer Selbstorganisationen für konkret-utopische Kohärenzarbeiten.

Die Vorträge im Überblick

Wolfgang Kastrup: Von der Entfremdungskritik zum Fetischbegriff. Karl Marx‘ gesellschaftskritische Kategorien. Deutungen und Kontroversen

Marvin Müller: Neuere Entfremdungstheorien. Kritische Bemerkungen zu den Theorien von Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa

Peter Höhmann: Identitätspolitik: Herausbildung, Deutungsformen und kollektive Bewegung

Lea Susemichel: Identitätspolitik & Emanzipation

Eleonora R. Mendívil/B. Sarbo: Marxismus und Identitätspolitik in Deutschland heute

Helmut Kellershohn: „Die Hauptfront des zwanzigsten Jahrhunderts verläuft zwischen Identität und Entfremdung.“ Über rechte Entfremdungskritik und Identitätspolitik

Jörg Senf: Entfremdung, Utopie und völkische Identität beim Sprachenlernen

Marvin Chlada: Utopisches Denken. Anmerkungen zum Utopie-Begriff in den Sozialwissenschaften

Jutta Meyer-Siebert: Die Bestimmung „notwendiger Arbeit“ als Kampffeld für „revolutionäre Realpolitik“

Andreas Kemper: Gewalt – Autonomie – Utopie

Vortrag von Helmut Kellershohn am 14.11. in Kassel

DISS-Mitarbeiter Helmut Kellershohn spricht in der Volkshochschule Kassel zum Thema Die Neue Rechte

Helmut Kellershohn
Helmut Kellershohn

Donnerstag 14.11.2019 Uhrzeit: 18 – 20 Uhr
Kassel, Volkshochschule, Saal
Wilhelmshöher Allee 19-21, 34117 Kassel
Kursnr.: X1057, Kosten: 5,00 €

 

Seit längerem schon ist der Begriff „Neue Rechte“ in der öffentlichen Diskussion. Die damit bezeichnete Bewegung ist seit ihren Anfängen in den sechziger Jahren angetreten, den Rechtsextremismus zu „reformieren“. Ihre politischen Ideen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt, und auch die Personal- und Organisationsstrukturen veränderten sich. Was also ist die „Neue Rechte“ heute?

Helmut Kellershohn ist Gründer und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu vielen Aspekten des Rechtsextremismus vorgelegt und ist als Referent bei Bildungseinrichtungen, Parteien und Gewerkschaften tätig.

Zentral in Kellershohns Forschung sind seine vielbeachteten Studien zum Völkischen Nationalismus der Neuen Rechten.

 

Kooperationspartner:
Arbeit und Leben, Deutsch-Israelische Gesellschaft, Evangelisches Forum, Gedenkstätte Breitenau, Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Gegen Vergessen für Demokratie e.V., Sara-Nussbaum-Zentrum, Stolpersteine e.V., Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

 

(Für den Vortrag ist keine Anmeldung nötig. Die Gebühr ist am Vortragsabend bar zu zahlen.)

Netzfundstück: Helmut Kellershohn im taz-Interview zu Björn Höcke

In der taz vom 26.10.2019 erschien ein Interview mit DISS-Mitarbeiter Helmut Kellershohn über den Thüringer AFD-Politiker Björn Höcke.

Helmut Kellershohn
Helmut Kellershohn

Kellershohn: Führerideologie offeriert Höcke schon mit dem Kyffhäusermythos: Es bedarf einer geschichtlichen Figur, die die „Zerrissenheit“ des Volkes wieder heilt. Das bedient Höcke stark. Das ist ein faschistisches Element, auch wenn die Führerideologie älter ist als der NS. Und Höcke offeriert sich selbst als Erlöser. Da ist auch Größenwahn dabei.

taz: Und doch: Liest man diesen Gesprächsband, trifft man auch auf viel Banales, auf viel Pathos und Kitsch, auf viele, viele Namen – so als müsste er sich durch all die Verweise aufwerten …

Kellershohn: Ja, stimmt alles. Aber es gibt eben auch viel Unerträgliches. Wenn er etwa von der „deutschen Unbedingtheit“ spricht: „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen“. Oder wenn er von einem groß angelegten „Remigra­tions­projekt“ spricht, bei dem man „um eine Politik der ,wohltemperierten Grausamkeit‘?“ nicht herumkommen werde. Da zitiert er Sloterdijk, stellt aber einen ganz falschen Bezug her.

Lesen Sie den vollständigen Text des Interviews in der taz: „Er ist kein eigenständiger Denker“