Nigel Follett: Rezension BREXITANNIA

BREXITANNIA – Great Britain’s Exit from the EU’

written by

Robert Tonks & Zakaria Rahmani

Zusammenfassend schlüsselt dieses Buch die vielfältigen Einflüsse auf die WählerInnen im Vorfeld des britischen EU-Referendums auf. Es gibt einen umfassenden Einblick in die ausschlaggebenden Faktoren und Motivationen der WählerInnen im Juni 2016 und beschreibt den sich entwickelnden politischen Sumpf, in dem sich die Tory-Regierung bei der Umsetzung des Brexit vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Wirtschaft befindet.

Das Buch endet mit einem Epliog, der die Ereignisse ab 2016 bis Juli 2022 beschreibt: Er enthüllt den Mangel an qualitativ hochwertigen Debatten im Vorfeld der Abstimmung und bietet eine Zusammenfassung der Drehungen und Wendungen der Brexit-Umsetzung seit dem Referendum. Er beschreibt den aufkommenden Populismus, der die Tory-Politik antreibt. Er entlarvt den Mangel an Planung und Vorbereitung auf den Austritt aus der EU, der die Fähigkeit der Regierung lähmte, den Brexit effektiv umzusetzen und das Erbe des von ihr selbst ausgehandelten Nordirland-Protokolls zu lösen.

Following the shock result of the Brexit referendum in June 2016 Robert and Zakaria toured theUK in late summer of 2020 in search of answers to the question ‘why did Britain vote to leave the EU?’.

They spoke to people from all over the UK and took on board the input from experts, such as sociologists and political journalists both in the UK and Germany. Their approach was to take at face value the reasons people gave for voting the way they did, then to explore the voter context or personal situation to unearth the drivers of voting to leave. They found both a willingness to talk candidly and some unease amongst some family members to open up old wounds. Over 4 chapters they thread together the underlying motivations and fears, both historical and immediate, that shaped the way people voted.

Chapter 1 explores the legacy of the miners dispute in the early 1980’s, the fight to retain jobs that culminated in the ‘battle of Orgreave’, the impact that losing that fight had on mining communities and the response, or lack of it, of the government to retrain redundant miners and rebuild local economies. One is left feeling there is a deep-seated and lasting resentment of Margaret Thatcher, the Tory government and the Police in particular, and a mistrust of the state in general that spilled over into voting against the bureaucrats in Brussels.

Chapter 2 addresses the perennial political fight to win the hearts and minds of ‘middle England’ – the swing voters without ‘dyed in the wool’ allegiances who may vote either way. They also examine the fallacy of the north-south divide and the role of the media and prominent politicians in shaping public opinion. What were voters’ intentions in the weeks leading up to the referendum and did they stick with it or did a significant number change their minds in the run-up to the vote? If so, why?

Chapter 3 looks at the significance of the NHS to the health of the nation and, more importantly, the pride of place it has in the minds of voters alongside a deterioration in its ability to cope with increasing demand and maintain standards of service.

Chapter 4 takes a longer term view of historical events, such as President de Gaulle’s repeated refusal to allow Great Britain into the Common Market, and the yearning of some senior voters to rekindle the belief that, having survived the early years of the Second World War alone, we can do it again.

Finally, the Epilogue provides a synopsis of the twists and turns of Brexit implementation since the Referendum, exposing the paucity of quality debate leading up to the vote, the emergence of populism driving Tory policy and the lack of planning and preparation for leaving the EU that crippled the government’s ability to execute Brexit effectively and to resolve the legacy of the Northern Ireland Protocol it negotiated.

In summary, this book catalogues the influences on voters in the run-up to the Referendum, provides insight into the drivers and motivations of voters in June 2016 and describes the evolving political mire in which the Tory government has found itself executing Brexit against a backdrop of a shrinking economy.

Nigel Follett

 

Edward Curtis – The North American Indian (Interview mit Jobst Paul)

Die Bildsprache in Curtis‘ Fotografien und ihre Wirkung

Die Ausstellung „The North American Indian“ im Kultur- und Stadthistorischen Museum in Duisburg zeigt Fotos von Native Americans im frühen 20. Jahrhundert. Der Fotograf Edward Curtis wollte indigene Kultur wissenschaftlich dokumentieren. Zugleich sind seine Bilder Kunstwerke, die eine romantisch-verklärende Perspektive auf das Vergangene und Fremde offenbaren. Jobst Paul (DISS) unterzieht ausgewählte Werke einer Bildanalyse, wie sie in der Visual History üblich ist. Dabei dekonstruiert er Curtis Bildsprache und zeigt auf, wie Bilder unsere Vorstellung von der Realität beeinflussen.

The North American Indian – Die Bildsprache in Curtis‘ Fotografien und ihre Wirkung

Rezension: Musiker mit völkischem Heimatverständnis

Timo Büchner
Der Begriff „Heimat“ in rechter Musik
Analysen – Hintergründe – Zusammenhänge
Wochenschau Verlag Frankfurt/M. 2020, 173 Seiten; 12,90 Euro
ISBN 9783734408991

 

 

 

 

 

Eine Rezension von Anton Maegerle

Der Kampf um die Deutungshoheit des Begriffs Heimat wird auch in der Musik geführt. In einer fundierten Analyse gibt der Wissenschaftler Timo Büchner Einblick in verschiedene Spektren der rechten Musik und konstatiert: Die vermeintlich unpolitische Deutschrockband Frei.Wild, die neurechten Rapper Komplott und Chris Ares sowie der NPD-Liederbarde Frank Rennicke verbindet ein völkisches Heimatverständnis.

Büchners detaillierte Untersuchung der Liedtexte dokumentiert, dass diese Musiker Heimat völkisch aufladen und den Begriff für ihre politische Agenda instrumentalisieren. Die politische Rechte instrumentalisiert Heimat zur Unterscheidung zwischen Autochthonen und allen, die durch ihre Herkunft oder Religion den Fortbestand des Volkes gefährden würden. Damit steht sie „ohne Zweifel in völkischer Tradition; die Blut- und-Boden-Ideologie lebt fort“, so Büchner. Der Antagonismus zwischen „Wir“ und den „Anderen“ zieht sich durch eine Vielzahl an Liedtexten rechter Musik. Heimat bedeutet Exklusion. So spricht das völkische Heimatverständnis, das die im Netzwerk der Identitären Bewegung und des Kampagneprojekts Ein Prozent agierenden Rapper Komplott und Ares in ihren Songs transportieren, all denjenigen eine Heimat in der Bundesrepublik ab, die aus Sicht der Neuen Rechten eine Bedrohung für die ethnische Homogenität des deutschen Volkes darstellen.
Der Autor zeigt auf, dass sich in verschiedenen Spektren der rechten Musik das Fortleben völkischer Tradition zeigt. In den Liedtexten von Frei.Wild, Komplott, Ares und von Rennicke ist Heimat stets eine nationale Frage. Rennicke besingt Großdeutschland in den Grenzen von 1939 einschließlich Österreich, Südtirol und weiten Teilen Polens, Komplott rappt über Deutschland und Frei.Wild verklärt die Geschichte Tirols. Die Art und Weise wie sich Frei.Wild, deren Wurzeln in der Rechtsrock-Band „Kaiserjäger“ liegen, in ihren Texten mit Identität, Heimat und Volk beschäftigen, ist für die extreme Rechte anschlussfähig. Denn, so Büchner, das Heimatverständnis wird mit der Verachtung derjenigen verknüpft, die die Band und dessen Heimatverständnis kritisieren. Das Bedrohungsszenario des „Volkstodes““ ist der Grundbaustein dieses Gegensatzes. Der Kampf um die Deutungshoheit des Heimatbegriffs ist der Versuch, völkisches Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren.

Rezension: Kritische Reflektion über Bilder

Kritische Reflektion über Bilder in Themenausstellungen zu Migration

Rezension von Michael Lausberg

In seiner Dissertation an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln untersucht Tim Wolfgarten 814 Ausstellungen zum Thema Migration zwischen 1974 und 2013 und deren Vermittlung auf bildlicher Ebene. Dabei stehen die inhaltliche Vermittlung und die Affekte über die formale Bildgestaltung hinaus im Mittelpunkt.

Zunächst geht es um die Beschreibung der Untersuchung: Es werden Rahmenbedingungen skizziert, wie die Ausstellungen erhoben und welche Kriterien dafür herangezogen wurden. Anschließend geht es um das Bildkorpus: Es wird beschrieben, welche Bilder in den medialen Diskurs eingegangen sind und was sie transportieren. Der Stand der Praxis, Forschung und Theoriebildung zum Themenkomplex Bild, Bildung, Migration und Museum kommen danach zur Sprache. Es wird auch auf die Bildungstheorie von Hans-Christoph Koller, diskurstheoretische Schriften und auf die Konzeption von Aby Warburg zum Nachleben von Bildern eingegangen. Danach folgt die methodische Aufbereitung des Bildkorpus. Weiterhin geht es um die Darstellung der Ergebnisse der analytischen und interpretativen Verfahrensweisen und die Rekonstruktion der diskursiven Ausrichtung der Bildangebote. Am Ende werden die wichtigsten Gesichtspunkte der Studie nochmals zusammengefasst.

Wolfgartens Erkenntnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Eine faktische Migration wird über verhältnismäßig wenig Bilder referenziert, obwohl dies das übergeordnete Thema der Ausstellungen war. Das jeweilige Thema wird selten gesamtgesellschaftlich repräsentiert, und personenzentrierte Darstellungen stehen im Mittelpunkt. In vielen Fällen werden rassistische Konstruktionen transportiert, und es werden idealtypische Körperdarstellungen und stereotype Geschlechterbilder reproduziert. Die Struktur der rekonstruierten Affekterfahrungen ist ebenfalls selektiv als ein Ausdruck freundlicher Zugewandtheit. Es sind hauptsächlich zwei Gruppen kategorisierbarer Bilder zu sehen: Die Gruppe der sinnlichen Bilder und die der vertraut wirkenden. Neben dieser Kritik schlägt Tim Wolfgarten Wege einer weniger selektiven Ausstellungspraxis und Möglichkeiten heterogener Zugänge vor.

Es wird eindrücklich gezeigt, wie wichtig Bilder im Erziehungs- und Bildungsprozess für die Konstruktion von Welt- und Selbstkonstruktionen sind. Ein so sensibles Thema wie Migration ist immer mit bestimmten Bildern verbunden, die Gefühle auslösen und rationales Handeln oft ausblenden. Dabei bleibt es nicht: Es werden Schlussfolgerungen für die kuratorische Praxis und die pädagogische Vermittlung gezogen, an denen sich künftige Ausstellungsprojekte orientieren können.

Tim Wolfgarten: Zur Repräsentation des Anderen. Eine Untersuchung von Bildern in Themenausstellungen zu Migration seit 1974, transcript, Bielefeld 2019, ISBN: 978-3-8376-4618-4, 44,99 EURO (D)

https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4618-4/zur-repraesentation-des-anderen/

Rezension: Joseph Beuys

Braune Schattenseiten.
Joseph Beuys und seine fehlende Distanz zu rechtem Gedankengut

Eine Rezension von Michael Lausberg

Die Beuys Biographie von Hans Peter Riegel erschien 2013 in ihrer ersten Fassung, die kontrovers diskutiert wurde. Nun liegt sie aktualisiert und mit neuen Recherchen ergänzt in drei Bänden vor. Die Bände 1 (1921-1964) und 2 (1964-1986) sind biographische Darstellung. Band 3 ist eine Sammlung von überwiegend bislang unveröffentlichten Dokumenten und Fotografien.

Diese Rezension bezieht sich auf den zweiten Band. Dort wird Beuys‘ Aufstieg zum weltweit anerkannten und gefragten Künstler und sein Privatleben thematisiert. Einen breiten Raum nimmt auch Beuys‘ Lehrtätigkeit ein. Riegel schildert die politischen Aktivitäten von Beuys und geht dabei auf die Schattenseiten ein, die es im Leben des großen Künstlers leider auch gegeben hat.

Er weist nach, dass Beuys in seinem persönlichen Umfeld intensiven Kontakt und Austausch mit ehemaligen Nationalsozialisten, völkischen Nationalisten, Holocaustleugnern und Vertretern des rechten Flügels der Anthroposophie pflegte, die ihre Denkmuster zum Teil offensiv und öffentlich vertraten.

Dazu einige Beispiele: Karl Fastabend, Beuys Sekretär, der in den 1970er fast alle politischen Texte für Beuys formulierte, war ein überzeugter Altnazi.

Johannes Stüttgen, Beuys Adlatus, schrieb Beiträge in der nationalrevolutionären Zeitschrift „wir selbst“. Dort propagierte er einen „Befreiungsnationalismus“ und die Hervorhebung der „deutschen Identität“. (S. 323)

Beuys pflegte eine intensive Beziehung zum Ehepaar Haverbeck. Werner Haverbeck gründete 1963 die „Heimvolkshochschule für Umwelt und Lebensschutz“ des Collegium Humanum in Vlotho. Die „Heimvolkshochschule“ wurde für viereinhalb Jahrzehnte viel besuchter Tagungsort der extremen Rechten. Seine Frau Ursula Haverbeck ist bekennende Rassistin und mehrmals verurteilte Holocaustleugnerin. An den Veranstaltungen des Ehepaars Haverbeck nahmen friedensbewegte Linke und Atomkraftgegner ebenso teil wie völkische Nationalisten und rechte Anhänger einer neuen Querfront.

Bei den Bundestagswahlen 1976 in Nordrhein-Westfalen kandidierte Beuys als parteiloser Spitzenkandidat für die Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) und erhielt in seinem Wahlkreis Düsseldorf-Oberkassel 598 Stimmen (3 %).

Riegel beschreibt die AUD zu Recht als eine rechte Partei, zwischen 1965 und 1980 mit national-neutralistischer Ausrichtung und einem völkischen Nationalismus. In der Partei waren ein rigider Antiamerikanismus und die Ablehnung der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO und in der westlichen Wertegemeinschaft vorherrschend. Die Person August Haußleiter, der einen Kurs Richtung brauner Ökologie predigte, prägte die AUD als Vorsitzender maßgeblich und bestimmte in weiten Teilen auch den politischen Kurs der Partei.

Beuys distanzierte sich nie von seiner Mitgliedschaft in der HJ und seiner Zeit als Stuka Pilot im 2. Weltkrieg unter den Nationalsozialisten. Spätestens 1936 ist für Riegel die Mitgliedschaft des 15-jährigen Beuys in der Hitler-Jugend belegt, als er am reichsweiten großen Sternmarsch zum Reichsparteitag nach Nürnberg teilnahm. Im Frühjahr 1941 meldete sich Beuys freiwillig zur Luftwaffe, wobei er sich für zwölf Jahre verpflichtete. Ab Dezember 1943 wurde er in Königgrätz im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren als Bordschütze und Funker in einem Sturzkampfflugzeug (Stuka) ausgebildet. Nach der Verlegung zum Luftwaffenstab Kroatien im Sommer 1943 war er bis Oktober 1943 an der östlichen Adria stationiert und Ende November auf die Krim verlegt. Während eines Einsatzes im März 1944 bekam Beuys’ Stuka Bodenkontakt und zerschellte auf dem Boden. Beuys wurde bei diesem Unfall verletzt, und wurde von Russen gefunden. Er wurde in ein mobiles Militärlazarett eingeliefert. Nach dem Krieg nahm er an „Kameradschaftsabenden“ seiner Stuka-Einheit teil.

Beuys beschäftigte sich intensiv mit dem Gedankengut des Anthroposophen Rudolf Steiner. Walter Kugler, einer der besten Kenner Steiners, beschreibt ihn folgendermaßen: Steiner benutze eine Rassensystematik, die sich auf die Hautfarben bezieht und diesen bestimmte Eigenschaften zuschreibt. So werde etwa die „weiße Rasse“ explizit mit dem „Denkleben“, die „schwarze Rasse“ mit dem „Triebleben“ und die „gelbe Rasse“ mit dem „Gefühlsleben“ assoziiert. Weiterhin würden geschlechtsspezifische Muster bedient, etwa wenn Steiner den nicht-europäischen Völkern eine „weibliche Passivität“ zuschreibt. Seine antisemitischen Denkmuster waren ebenfalls stark ausgeprägt.1

Dies schlug sich laut Riegel in einem Germanenkult an der Akademie in den 1960er Jahren nieder, gegen den es öffentliche Proteste gab. Inwiefern einzelne Werke von Beuys Elemente der Rassenlehre Steiners enthalten, wird in dem Band nicht explizit nachgewiesen und wären Desiderata für intensivere Forschungen.

Diese von Riegel gut herausgearbeiteten Tatsachen verdunkeln das Lebenswerk eines der besten und bekanntesten Künstler der deutschen Nachkriegszeit. Intensivere Forschungen zu diesem Thema werden hoffentlich folgen.

Hans Peter Riegel: BEUYS: Die Biographie Band 2 – Erweiterte Neuausgabe, Riverside Publishing, Zürich 2018, 28,50 EURO (D)

1 Walter Kugler: Rudolf Steiner und die Anthroposophie. Eine Einführung in sein Lebenswerk. DuMont, Köln 2010, S. 16

Rezension: Der faustische Pakt der Goethe-Gesellschaft

Eine Rezension von Michael Lausberg

W. Daniel Wilson: Der faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich, dtv, München 2018, ISBN: 978-3-423-28166-9, 28 EURO (D)

W. Daniel Wilson, Professor of German an der University of London, analysiert die Goethe-Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus und stellt dar, wie diese das Bild eines „braunen“ Goethes vorantrieb und für sich nutzbringend einsetzte.

Zu Beginn stellt der Autor „Goethes Janusgesicht“, also die vielschichtige Interpretation seines Lebens und seiner Werke je nach politischer und weltanschaulicher Motivation dar. In seinen Werken und Aussagen bot der Dichter Anknüpfungspunkte für Interpretationen jedweder Couleur.

In der Weimarer Republik wurde Goethe vom damaligen Reichspräsident Friedrich Ebert 1919 als geistige Grundlage des neuen Staates beschworen. Der „Geist von Weimar“ wurde als Kontrapunkt zum überwunden geglaubten „Geist von Potsdam“ gesetzt.

Die Nationalsozialisten schufen das Bild des „deutschen Goethe“: „Die Nationalsozialisten und andere Verfechter des ‚Deutschen Goethe konnten aus dem ‚Judenfeind‘ Goethe leicht einen modernen, ‚rassisch‘ motivierten Antisemiten konstruieren, wenn sie Goethes freundschaftliche Beziehungen zu Juden und seine (allerdings wenigen, widersprüchlichen) judenfreundlichen Äußerungen ausblendeten.“ (S. 11)

Die Goethe-Gesellschaft wurde 1885 auf Anregung von Großherzogin Sophie unter Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach gegründet und hatte seinen Sitz in Weimar. Es bildeten sich schnell Ortsgruppen heraus, die auch politisch in die Gesellschaft hineinwirkten und auch Spiegelbild der Verhältnisse waren.

Gustav Roethe, Präsident von 1922 bis 1926, war offener Antisemit und Antidemokrat, ein Vorgeschmack der Zeit nach der „Machtergreifung“ der Nazis 1933. Bedingt durch die rassistisch motivierten Berufsverbote waren viele jüdische Mitglieder gzwungen, aus der Goethe-Gesellschaft auszutreten. Die Leitung der Gesellschaft biederte sich dem herrschenden System und der Weltdeutung der Nazis immer mehr an und begann eine Umdeutung Goethes in Forschung und Rezeption. Die Gesellschaft lavierte zwischen Privilegien, Anpassung und Verstrickungen in die Kulturpolitik der Nazis. Nach der „Reichspogromnacht“ 1938 kam es dann zum Ausschluss aller jüdischen Mitglieder. Goethe wurde nicht nur in der Innenpolitik zu einem völkischen Nationalisten umgedeutet, um als Bannerträger der nationalsozialistischen Rassen- und Kulturpolitik zu gelten. Genauso wie Schiller, Kleist, Hölderlin und viele andere wurde er für die Ideologie des NS-Regimes auch außenpolitisch in Anspruch genommen. Die wichtigsten NS-Schriften zum Goethebild dieser dunklen Zeit sind von August Raabe „Goethes Sendung im Dritten Reich“ 1934 und von Wilhelm Fehse „Goethe im Lichte des neuen Werdens“ ein Jahr später. Faust wurde als eine „Leitfigur des neuen nationalsozialistischen Menschentypus“ entfremdet und aus dem Zusammenhang gerissen. Baldur von Schirach zitierte daraus in seiner Rede zur Eröffnung der Weimarer Festspiele der Jugend von 1937, die offizielle Vereinnahmung eines großen Dichters und Denkers war vollzogen. In der Zeitschrift der Gesellschaft erschienen in den Kriegsjahren Artikel, die Durchhalteparolen und die angebliche Überlegenheit des „Deutschtums“ proklamierten und in mystischer Sprache die geistige Kraft Goethes missbrauchten. Noch bis in die letzten Tage eines sinnlosen Krieges gab es propagandistische Unterstützung für das Regime.

Nach einem kurzen Abriss der Geschichte der Goethe-Gesellschaft nach 1945 bilanziert Wilson: „Helles steht neben Dunklem, ein Janus-Gesicht wie bei Goethe auch. Zwar blieb sie (…) relativ selbständig. Aber diese verhältnismäßige Autonomie war Teil eines perfiden Faustischen Paktes: Die Gesellschaft wurde in die Ideologie, Kulturpolitik und Propaganda des Regimes eingebunden.“ (S. 246)

Die Geschichte der Goethe-Gesellschaft ist ein Zeichen des Zivilisationsbruches in der Nazi-Zeit, deren Anfänge jedoch schon früheren Ursprung haben. Sie zeigt auch, dass bildungsbürgerliche Eliten keinesfalls weniger immun gegenüber der Nazi-Propaganda waren, im Gegenteil. Menschen, die die Abwägung verschiedener Sichtweisen in ihrer wissenschaftlichen Karriere anwandten, scheuten diese in der politischen Tagespolitik. In detaillierter Quellenarbeit zeichnet Wilson die Pervertierung Goethes in der Weimarer Goethe-Gesellschaft, der wichtigsten deutschen Literaturgesellschaft ihrer Zeit, oft wider besseres Wissen. Eine Bankrotterklärung des deutschen Bildungsbürgertums. Relativierungsversuche und Verharmlosung der Schuld sowie direkte Kritik an einem (amerikanischen) Autor als Nestbeschmutzer sind in diesem Zusammenhang fehl am Platze.

Einige Kritikpunkte gibt es schon: Es wäre eine Vorlaufzeit der Rezeption Goethes Ende des Kaiserreiches in Deutschland und der Weimarer Republik nötig gewesen, da dort schon Verbindungslinien der Vereinnahmung Goethes z.B. von monarchistischer Seite existierten, die der des Nazi-Regimes ähnelten. Auch die unrühmliche Rolle von Gustav Roethe und seiner Seilschaften sollte nicht unterschätzt werden: Antisemitismus war schon in der Weimarer Republik ein ideologisches Muster auch bei scheinbar gebildeten Menschen.

Ein wenig ärgerlich ist auch die distanzlose Verwendung des Begriffes „Drittes Reich“ ohne Verwendung von Anführungszeichen, obwohl diese Bezeichnung aus dem nationalsozialistischen Jargon stammte.

Netzfundstücke: Rezension in der SZ

cover-kampfbegriffeAuch in der Süddeutschen Zeitung erschien nun eine Rezension des Handwörterbuchs rechter Kampfbegriffe. Robert Probst schreibt:

Das Spektrum reicht dabei von offensichtlichen Kampfbegriffen wie „Schuld-Kult“ und „Umvolkung“ über „Islamisierung“ und „Dekadenz“ bis hin zu vermeintlich aufs Gemeinwohl zielenden Wörtern wie „Demokratie“ oder „Freiheit“. Gerade diesen ummantelten Begriffen die Tarnung zu entreißen – darin besteht das Verdienst dieses Wörterbuchs. Etwa beim üppig in Gebrauch stehenden „Abendland“ lässt sich studieren, wie ein offenbar harmloser Begriff für Partikularinteressen und gegen bestimmte Menschengruppen eingesetzt wird. Auf knappem Raum, aber erstaunlich differenziert und gut lesbar, werden die Begriffe auf Entstehung, Kontext und Ziele der Rechten abgeklopft und analysiert. Ein Nachschlagewerk für alle, die nicht schweigen wollen.

Bitte lesen Sie den vollständigen Text auf der Website der SZ – Roland Probst: Enttarnt

Netzfundstücke: Zwei neue Rezensionen

cover-kampfbegriffeZwei neue Rezensionen des „Handwörterbuchs rechtsextremer Kampfbegriffe“ sind im Netz verfügbar.

Auf socialnet erschien die Rezension von Dr. Andreas Siegert. Ausführlich widmet er sich den Handbuchartikeln „Abendland“, „Political Correctness“ und „Vertriebene“. In seinem Fazit heißt es u.a.:

[…] Das Ziel des Buches, die Bedeutung von Sprache für Deutungen und im gesellschaftlichen Diskurs darzustellen, wird erreicht. In einer klaren und faktenbasierten Argumentation werden Abwertungen und Diskriminierungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Minderheiten herausgearbeitet. Damit wird denjenigen Wissen an die Hand gegeben, die sich gesellschaftlichen Diskussionen stellen. Sie können mit diesem Wissen Gegenstrategien entwickeln und umsetzen.

Erreicht werden darüber allerdings nur die, die sich für Argumente öffnen wollen. Aber auch das ist schon ein Erfolg. Zu den Umsetzungsstrategien, für die eine sensible Sprache unabdingbar ist, gehören Fragen danach, wie mehr Menschen erreicht werden können oder wie das gegenseitige Ausspielen von Minderheiten oder Schwachen einer Gesellschaft vermieden werden kann.

[…] Sprache ist sowohl Ergebnis gesellschaftlicher Werte, als sie diese auch mitgestaltet. Das Buch liefert eine sehr detaillierte Handreichung zum Verständnis komplexer Wirkungen einer ideologisierten Sprache. Es macht deutlich, wie wichtig es ist, die momentane gesellschaftspolitische Diskussion aktiv mitzugestalten. […]

Den vollständigen Text der Rezension von Dr. Andreas Siegert finden Sie hier auf socialnet.

Der Journalist Peter Novak veröffentlichte seine Rezension unter dem Titel Aufklärung über rechte Ideologie in der Sprache auf der Seite des Magazins „M – Menschen machen Medien“, das vom Bundesvorstand der Gewerkschaft verdi herausgegeben wird.

Wahlerfolge der AFD, Blockade-Aktionen vor Flüchtlingsunterkünften, Pegida- und „Nein zum Heim!“-Demonstrationen in vielen Städten. Kein Zweifel, die rechte Bewegung erlebt in den letzten Monaten auch in Deutschland einen  Aufschwung. Dabei ist ihr es gelungen, über ihre kleinen rechten Zirkel hinaus auch in Bevölkerungskreise einzuwirken, die sich nicht zur Rechten zählen würden. Das wird deutlich, wenn sich Menschen mit Schildern „Wir sind besorgte Bürger und keine Nazis“ an Demonstrationen beteiligen, die von extremen Rechten organisiert werden. Doch der rechte Einfluss zeigt sich nicht nur auf der Straße, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs.

Auf die bisher zu wenig beachteten rechten Erfolge auf der Ebene der Sprache und der öffentlichen Debatte macht das „Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe“ aufmerksam. […]

Den vollständigen Text der Rezension von Peter Nowak finden Sie hier: Aufklärung über rechte Ideologie in der Sprache oder auf dem Blog des Autoren.

 

 

Worte wie Stacheln (Rezension)

Im Rundbrief der BAG Antifaschismus der Partei DIE LINKE erschien eine ausführliche Rezension von Anke Hoffstadt zum in der Edition DISS erschienenen Band:
Helmut Kellershohn, Hrsg., Die »Deutsche Stimme« der »Jungen Freiheit«. Lesarten des völkischen Nationalismus in zentralen Publikationen der extremen Rechten, Edition DISS, Unrast Verlag, Münster 2013, 330 Seiten.

 

Erschienen in: Rundbrief der BAG Antifaschismus der Partei DIE LINKE 3-4/2013, S. 77-78

Worte wie Stacheln

Von Anke Hoffstadt ((Anke Hoffstadt ist als Historikerin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zusammen mit Peter Bathke gab sie 2013 den Band „Die neuen Rechten in Europa. Zwischen Neoliberalismus und Rassismus“ (Köln: PapyRossa) heraus.))

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) legt mit einem Sammelband zum Vergleich der »Jungen Freiheit« und der »Deutschen Stimme« – den »beiden wichtigsten Leitorganen der extremen Rechten« – eine gründliche Tiefenbohrung in Sachen rechter Propaganda und ihrer Themen vor.

Als »Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissen und Debatte« liegt die »Junge Freiheit« beim Bahnhofs-Pressefachhändler auf dem Tisch für wöchentlich erscheinende Zeitungen zwischen der Jüdischen Allgemeinen und der Jungle World. Eine schlichte Beobachtung zur Alphabet-Reihenfolge am Zeitungsstand, über die nur zürnen und kaum lachen kann, wer sich ab und an die Mühe macht, die »Junge Freiheit« (JF) zu lesen. 1986 als Schüler- und Studentenzeitung gegründet und rasch in burschenschaftlichen Kreisen an bundesdeutschen Universitäten angekommen, verkauft sich das in Berlin erscheinende Rechtsaußen-Blatt mit intellektuell-konservativem Anstrich heute im Durchschnitt wöchentlich über 21.000 mal, Auflage steigend. Der Anblick der »Deutschen Stimme« (DS), die seit 1976 als Partei-Organ der NPD monatlich erscheint, dürfte an Kiosken, in Pressezentren und Supermärkten (so zum Beispiel in manchen Geschäften der Lebensmittelkette REWE oder in einzelnen Filialen der toom-Baumärkte) dagegen künftig stetig seltener werden. Denn trotz wiederholter Sanierungsbemühungen sehen die Bilanzen der NPD-»Monatszeitung für Politik und Kultur« für den DS-Verlag nicht gut aus.

Beide Zeitungen einer vergleichenden Analyse zu unterziehen, das haben sich die acht Autorinnen und Autoren um Helmut Kellershohn als Herausgeber des Sammelbandes »Die ›Deutsche Stimme‹ der ›Jungen Freiheit‹« zur Aufgabe gemacht. Mit Blick auf die aktuellen ›Erfolgslagen‹ scheint dieser Vergleich zwischen der JF als dem »publizistischen ›Flaggschiff‹ der jungkonservativen Neuen Rechten« in Deutschland (S. 5) und der DS als scheinbar rostigem ›Kanonenboot‹ der Neonazi-Partei NPD zwei durchaus sehr unterschiedliche Propaganda-Stimmen des radikal rechten Lagers zusammenzubringen. Und auch in ihrer Programmatik und Zielgruppen-Orientierung verbindet beide Blätter auf den ersten Blick „Worte wie Stacheln (Rezension)“ weiterlesen

Netzfundstück: FQS-Rezension der Kritischen Diskursanalyse

In der Online-Zeitschrift Forum: Qualitative Sozialforschung (FQS) erschien im September 2013 eine ausführliche Rezension von Tobias Philipp zur 2012 erschienenen völlig überarbeiteten 6. Auflage von Siegfried Jägers Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung.

In der Zusammenfassung heißt es:

Die vorliegende sechste Auflage der „Kritischen Diskursanalyse“ stellt als vollständige Überarbeitung einen erheblichen Fortschritt zu früheren Auflagen dar. Die Aufnahme des Dispositivkonzepts ermöglicht eine theoretische Straffung des sich jetzt auf Diskurs- und Dispositivanalyse beziehenden Ansatzes. Der jeher besonders prominente Methodenteil wurde der theoretischen Weiterentwicklung entsprechend angepasst, verschlankt und anwendungsorientiert umgestellt sowie um Vorschläge zur Durchführung praktischer Dispositivanalysen erweitert. Das Buch ist sowohl ein geeigneter Einstieg in die diskurstheoretischen Arbeiten Michel FOUCAULTs als auch eine pragmatische Gebrauchsanweisung für die Durchführung von Diskursanalysen. Die spezifische Perspektive kritischer Diskursanalyse trägt dabei zum wissenschaftstheoretischen Diskurs über Werturteile, Normativität und Reflexivität in der Forschung bei. Insgesamt ist das Buch in der vorliegenden Auflage wesentlich handlicher geworden und konnte seinen theoretischen wie methodischen Gebrauchswert deutlich steigern.

Lesen Sie bitte die vollständige Rezension auf der Website des FQS:

Philipp, Tobias (2013). Rezension: Siegfried Jäger (2012). Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung [20 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 14(3), Art. 16,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1303160.