Studie: Neonazismus zwischen Bürgerkrieg & Bürgernähe

Neonazismus zwischen Bürgerkrieg & Bürgernähe

Themen, Positionen und Strategien in der Zeitschrift N.S. Heute

DISS-Journal Sonderheft #7
Dezember 2023
114 Seiten

 

Seit 2017 erscheint einigermaßen regelmäßig das Magazin N.S. Heute (NSH). Das ermöglicht diskursanalytische Untersuchungen zum zeitgenössischen Neonazismus. Diese Studie präsentiert die Ergebnisse einer solchen Diskursanalyse.

Mit seinem eindeutig neonazistischen Kurs und seiner überregionalen Ausrichtung repräsentiert das Magazin eine Gruppierung, die lange nicht publizistisch in Erscheinung getreten ist. Mit dem Erscheinen der N.S. Heute ist es nun möglich, die Positionen und verlautbarten Strategiedebatten des neonazistischen Spektrums der extremen Rechten zu untersuchen.

Schwerpunkt der Studie sind die Fragen:

  • Welche Gesellschaftsutopie wird in der NSH formuliert?
  • Wie sieht die Gegenwartsanalyse der NSH aus?
  • Welche Strategien werden diskutiert und vorgeschlagen?
  • Wie ist das Verhältnis zu anderen Spektren und Parteien der extremen Rechten?

Die Autor:innen kommen in ihrem Fazit zu folgendem Ausblick:

Deutsche Neonazis haben die letzten Jahre als stärkend erlebt. Sahen sie sich selbst 2017 noch marginalisiert und ihre Positionen tabuisiert, ist das heute nicht mehr so. Sie sehen sich als Gewinner der multiplen Krise der letzten Jahre. Auch ein gesellschaftliches Klima in Deutschland kommt ihnen zugute, in dem laut Umfragen die AfD zweitstärkste Partei bei den Bundestagswahlen würde. Liberale und v.a. konservative Kräfte haben auf das Erstarken der extremen Rechten in Deutschland und darüber hinaus bisher keine adäquate Antwort gefunden, die geeignet wäre, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.
Schließlich bliebe genauer zu beleuchten, wo die extreme Rechte an eine gesellschaftliche ‚Mitte‘ andocken kann. Wir sehen seit 2015 beispielsweise einen sich immer weiter radikalisierenden und brutalisierenden Migrationsdiskurs in der gesellschaftliche ‚Mitte‘, der von ‚Überfremdung‘ redet, der Migration und Flucht mit Kriminalität verkoppelt oder mit sexualisierter Gewalt. Wir sehen hegemoniale Medien, die oftmals Diskurse in diese Richtung weitertreiben. Wir sehen rassistische Demonstrationen, nach denen von Politiker:innen gefordert wird, Ängste ernstzunehmen. Und damit sind nicht die Ängste derer gemeint, die von Rassismus, von Angriffen und Anschlägen betroffen sind, sondern die Ängste derer, die den Nährboden für diese Angriffe bereiten, die Ängste von Rassist:innen, von potentiellen Angreifer:innen.
Daran können Neonazis anknüpfen, obwohl unsere Studie auch das zwiespältige Verhältnis der NSH zur ‚bürgerlichen‘ Presse zeigen konnte. Wenn diese einen Zusammenhang zwischen Neonazismus und Terrorismus thematisierte, wird dies von den Autor:innen vehement zurückgewiesen. Auch werden Berichte über innere Widersprüche, über Streitigkeiten und über Führungsansprüche nicht so gerne gesehen. Ansonsten wird eine Berichterstattung, die die Neonazi-Szene als stark, durchaus auch als brutal, entschlossen, wehrhaft und gefährlich darstellt, begrüßt.
Auch antifeministische Kampagnen gegen Geschlechtergerechtigkeit, Kampagnen gegen das ‚Gendern‘, Kampagnen gegen Antifaschismus und Antifaschist:innen oder Kampagnen gegen eine angebliche ‚Cancel Culture‘ bieten der neonazistischen Szene Anknüpfungspunkte zur gesellschaftlichen Hegemonie.
Mit dem Aufgreifen der Themen der extremen Rechten wird sie keineswegs geschwächt, ganz im Gegenteil. Bei einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte über Neonazismus, die Neonazismus als Gefahr ernst nimmt und thematisiert (und nicht die Themensetzungen der Neonazis übernimmt), darf es nicht um eine formelle Tabuisierung gehen. Nötig ist eine tatsächliche Auseinandersetzung über Neonazismus anhand der Fragen: Was ist eigentlich Neonazismus? Was ist Faschismus? Was ist völkisches Denken? Wie hängt das mit Nationalismus zusammen? Wie mit Autoritarismus? Welche Rolle spielen darin Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus? Nur durch eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit diesen Fragen und einer klaren Zurückweisung dieser Deutungsmuster lässt sich der fortschreitenden Normalisierung von Neonazismus substanziell etwas entgegensetzen.

 

Kostenlose PDF-Datei:
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Die gedruckte Ausgabe ist gegen 4 € Schutzgebühr plus Porto erhältlich.
info@diss-duisburg.de

»Von der Wiege bis zur Bahre«

Neu in der Edition DISS beim Unrast-Verlag:

Rebecca Folke:
»Von der Wiege bis zur Bahre«
Kindeswohlgefährdung im völkisch-neonazistischen Spektrum

ISBN 978-3-89771-781-7 | 128 Seiten | Edition DISS, Bd. 51 | 16,00 Euro

Seit den 1950er Jahren werden Kinder und Jugendliche in einem spezifischen Teil der organisierten neonazistischen Szene in der BRD in völkisch-nationalistischen und neonazistischen Jugendbünden erzogen. Dennoch war diese Form der institutionalisierten Erziehung bisher nicht Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung. Unter dem Pseudonym Rebecca Folke liefert die Autorin nun eine erste systematische Untersuchung der innerorganisationalen Sozialisationsbedingungen eines solchen Jugendbundes, der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ). Zwar wurde die HDJ 2009 aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus verboten, doch steht sie bis heute exemplarisch für diese spezifische Form institutionalisierter völkischer Erziehung. In ihrer Untersuchung beleuchtet die Autorin insbesondere den Aspekt der Kindeswohlgefährdung. Sie zeigt auf, dass die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen in diesem Spektrum systematisch verletzt werden und diskutiert in ihrem Fazit Implikationen für die erziehungswissenschaftliche Forschung und Praxis.

Nigel Follett: Rezension BREXITANNIA

BREXITANNIA – Great Britain’s Exit from the EU’

written by

Robert Tonks & Zakaria Rahmani

Zusammenfassend schlüsselt dieses Buch die vielfältigen Einflüsse auf die WählerInnen im Vorfeld des britischen EU-Referendums auf. Es gibt einen umfassenden Einblick in die ausschlaggebenden Faktoren und Motivationen der WählerInnen im Juni 2016 und beschreibt den sich entwickelnden politischen Sumpf, in dem sich die Tory-Regierung bei der Umsetzung des Brexit vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Wirtschaft befindet.

Das Buch endet mit einem Epliog, der die Ereignisse ab 2016 bis Juli 2022 beschreibt: Er enthüllt den Mangel an qualitativ hochwertigen Debatten im Vorfeld der Abstimmung und bietet eine Zusammenfassung der Drehungen und Wendungen der Brexit-Umsetzung seit dem Referendum. Er beschreibt den aufkommenden Populismus, der die Tory-Politik antreibt. Er entlarvt den Mangel an Planung und Vorbereitung auf den Austritt aus der EU, der die Fähigkeit der Regierung lähmte, den Brexit effektiv umzusetzen und das Erbe des von ihr selbst ausgehandelten Nordirland-Protokolls zu lösen.

Following the shock result of the Brexit referendum in June 2016 Robert and Zakaria toured theUK in late summer of 2020 in search of answers to the question ‘why did Britain vote to leave the EU?’.

They spoke to people from all over the UK and took on board the input from experts, such as sociologists and political journalists both in the UK and Germany. Their approach was to take at face value the reasons people gave for voting the way they did, then to explore the voter context or personal situation to unearth the drivers of voting to leave. They found both a willingness to talk candidly and some unease amongst some family members to open up old wounds. Over 4 chapters they thread together the underlying motivations and fears, both historical and immediate, that shaped the way people voted.

Chapter 1 explores the legacy of the miners dispute in the early 1980’s, the fight to retain jobs that culminated in the ‘battle of Orgreave’, the impact that losing that fight had on mining communities and the response, or lack of it, of the government to retrain redundant miners and rebuild local economies. One is left feeling there is a deep-seated and lasting resentment of Margaret Thatcher, the Tory government and the Police in particular, and a mistrust of the state in general that spilled over into voting against the bureaucrats in Brussels.

Chapter 2 addresses the perennial political fight to win the hearts and minds of ‘middle England’ – the swing voters without ‘dyed in the wool’ allegiances who may vote either way. They also examine the fallacy of the north-south divide and the role of the media and prominent politicians in shaping public opinion. What were voters’ intentions in the weeks leading up to the referendum and did they stick with it or did a significant number change their minds in the run-up to the vote? If so, why?

Chapter 3 looks at the significance of the NHS to the health of the nation and, more importantly, the pride of place it has in the minds of voters alongside a deterioration in its ability to cope with increasing demand and maintain standards of service.

Chapter 4 takes a longer term view of historical events, such as President de Gaulle’s repeated refusal to allow Great Britain into the Common Market, and the yearning of some senior voters to rekindle the belief that, having survived the early years of the Second World War alone, we can do it again.

Finally, the Epilogue provides a synopsis of the twists and turns of Brexit implementation since the Referendum, exposing the paucity of quality debate leading up to the vote, the emergence of populism driving Tory policy and the lack of planning and preparation for leaving the EU that crippled the government’s ability to execute Brexit effectively and to resolve the legacy of the Northern Ireland Protocol it negotiated.

In summary, this book catalogues the influences on voters in the run-up to the Referendum, provides insight into the drivers and motivations of voters in June 2016 and describes the evolving political mire in which the Tory government has found itself executing Brexit against a backdrop of a shrinking economy.

Nigel Follett

 

DISS Neuerscheinung: (Post-)Pandemische Normalitäten

»Nicht die Viren sind ungerecht, sondern die Strukturen, auf die sie treffen« (Christa Wichterich)

Guido Arnold, Helmut Kellershohn, Margarete Jäger:
(Post-)Pandemische Normalitäten
Edition DISS Bd. 50
1. Auflage, Dezember 2022
160 Seiten, 19,80 €
ISBN 978-3-89771-779-4
UNRAST Verlag, Münster

Bestellungen bitte über den Unrast-Verlag:
(Post-)Pandemische Normalitäten

Einhergehend mit rassistischen und nationalistischen Entsolidarisierungsprozessen, veränderten Gerechtigkeitsvorstellungen und einer zunehmenden Entwicklung sozialer Ungleichheitsverhältnisse – nicht zuletzt aufgrund eines technokratisch geleiteten ›Solutionismus‹ im automatisierten Bevölkerungsmanagement – hat die Corona-Krise ›neue Normalitäten‹ generiert, die gesellschaftsverändernde Wirkung auf die post-pandemische Zukunft haben.

In 13 lesenswerten Beiträgen geht dieser Sammelband des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) der Frage nach, welchen Einfluss die Krise auf die Geschlechterverhältnisse hatte (und immer noch hat), auf den desolat ausgehöhlten Gesundheitssektor, auf die Digitalisierung im Bildungs- und Arbeitsbereich oder die zunehmende Bedeutung von Verschwörungsmythen.

Doch die Autor:innen sezieren nicht nur die spezifischen Merkmale der Pandemie. Sie nehmen auch möglicherweise kausale Zusammenhänge zwischen der pandemischen und der sich parallel zuspitzenden ökologische Krise in den Blick und analysieren die gesellschaftlichen Auswirkungen im Hinblick auf eine sich möglicherweise katastrophisch verschärfende Krisendynamik.

Inhalt

Guido Arnold /Margarete Jäger / Helmut Kellershohn
Vorwort

Jürgen Link
In welcher »neuen Normalität« wird die >Corona-Krise< enden?

Isolde Aigner
»Es ist Corona, was macht Ihr da?!« Jugendliche in der Corona-Pandemie

Christian Kolbe / Thomas Kunz
Hochschule und Digitalisierung in Post-Corona-Zeiten

Massimo Perinelli
Corona und Rassismus:
Die Krise der Solidarität im nationalen Shutdown

Christoph Butterwegge
Pandemische Ungleichheit im Corona-Kapitalismus

Christa Wichterich
Care, Geschlecht und Covid-19-Regime

Andreas Wulf
Der Pharma- und Patentekomplex

Guido Arnold
Postpandemisches Bevölkerungsmanagement

Bruno Kern
Die Rückkehr zum menschlichen Maß: Industrielle Abrüstung!

Helmut Kellershohn
»Blue Deal« versus »European Green Deal«

Andrea Becker
Der Reset der Großen Transformation

Clemens Knobloch
Verschwörungstheorie

DISS Neuerscheinung: BREXITANNIA

Robert Tonks & Zakaria Rahmani:
Brexitannia
Edition DISS Bd. 49
1. Auflage, Oktober 2022
ISBN 978-3-89771-778-7
UNRAST Verlag, Münster

Bestellungen bitte über den Unrast-Verlag: BREXITANNIA

Im Jahr 1973 trat Großbritannien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei. In einem Referendum zwei Jahre später stimmten 68% der Brit*innen für den Verbleib in der EWG. Am 31. Januar 2020 trat Großbritannien schließlich aus der Europäischen Union (EU) aus. Was war in der Zwischenzeit passiert?

Um die britische Sicht der Dinge zu verstehen, reisten die Autoren – der deutsch-britische Politikwissenschaftler Robert Tonks und der Medienproduzent Zakaria Rahmani – im Sommer 2020 quer über die Insel. Aus ihren Recherchen entstand der WDR-Podcast Brexitannia, der inzwischen sogar im Schulunterricht verwendet wird. Tonks und Rahmani sprachen mit zahlreichen Menschen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen, Schichten und Berufen und mit dem Professor, der als ‚Erfinder des Brexit‘ gilt.

Jetzt liegt dieser aufschlussreiche Podcast endlich auch als Buch vor.

Interview in der WDR-Reihe Resonanzen vom 15.11.2022 mit Buchautor Robert Tonks über Briten und Europa.

 

Teil I
BREXITANNIA
Großbritanniens Weg aus der EU

Vorwort

Erstes Kapitel
Der Feind im Inneren

Zweites Kapitel
Auf der Suche nach ‚Middle England‘

Drittes Kapitel
God save the NHS

Viertes Kapitel
Rule Britannia!

Epilog: Den Brexit ‚einfach‘ umsetzen – oder auch nicht…
Der aktuelle Stand am 7. Juli 2022

Part II
BREXITANNIA
Great Britain’s Exit from the EU

Preface

First Chapter
The Enemy Within

Second Chapter
In Search Of Middle England

Third Chapter
God Save The NHS

Fourth Chapter
Rule Britannia!

Epilogue: Simply Getting Brexit Done – Or Not
The State of Affairs on 7 July 2022

 

Vorwort

Das vorliegende Buch basiert auf der Feature-Reihe als Audio-Podcast Brexi-tannia – Großbritanniens Weg aus der EU in der WDR 5-Serie Tiefenblick im Westdeutschen Rundfunk. Ausgestrahlt wurde die Reihe in vier Folgen zwischen dem 6. und 27. Dezember 2020.

Die Reihe ist abrufbar unter folgendem Link:
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-tiefenblick/audio-brexitannia–der-feind-im-inneren-100.html

Die Feature-Reihe dokumentiert, wie ein Deutsch-Brite nach den Wahlmotiven der Britinnen und Briten sucht, die am 23. Juni 2016 für den Brexit gestimmt haben.

Wie konnte es so weit kommen? Dieser Frage gingen Robert Tonks, diplomierter Politikwissenschaftler und engagierter Europäer, und der Medienproduzent Zakaria Rahmani bei einer Rundreise durch Großbritannien Mitte 2020 nach. Sie führten ausführliche Interviews mit Menschen aus verschiedenen Lebenslagen und mit Expertinnen durch.

Daraus ist ein Tiefenblick in die letzten Jahrzehnte europäisch-britischer Beziehungen entstanden.

Während der Audio-Podcast im Original auf Deutsch veröffentlicht wurde, erscheint das Buch nun auf Deutsch und Englisch.

Der Abdruck der Texte erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Westdeutschen Rundfunks. Die geschriebenen Texte basieren auf Transkriptionen und Übersetzungen der gesprochenen Originaltexte durch die Autoren.

Die Autoren danken dem WDR – und insbesondere der WDR-Redakteurin Leslie Rosin – für die Unterstützung bei der Produktion des Podcasts.

Die Autoren danken Iris Tonks für die Unterstützung bei der Produktion des Podcasts.

DISS Neuerscheinung: Ordnen und Regieren

Sara Madjlessi-Roudi
Ordnen und Regieren
Eine postkoloniale Diskursanalyse des Konzepts ›Zivilgesellschaft‹ in der deutschen Entwicklungspolitik
ISBN 978-3-89771-777-0
476 Seiten, 29,80 €
Unrast-Verlag, Edition DISS 48

Das Konzept der ‚zivilgesellschaftlichen Beteiligung‘ hat seit den 1990er Jahren im entwicklungspolitischen Diskurs an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund wendet Sara Madjlessi-Roudi einen kritischen Blick auf dieses Konzept in der Entwicklungspolitik des BMZ unter spezifischer Bezugnahme auf Afrika.

Der Untersuchungszeitraum, die Jahre zwischen 1998 bis 2013, deckt dabei die ministeriellen Amtszeiten von Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) sowie Dirk Niebel (FDP) ab. Anhand von Strategiepapieren des BMZ sowie der Bundesregierung und unter Rückgriff auf Kritische Diskursanalyse und postkolonialeTheorie arbeitet die Autorin heraus, wie sich das Konzept der »Einbindung von Zivilgesellschaft’ zur Regierungstechnologie entwickelt.

Dabei wird Afrika zunächst als tendenziell defizitäres Umfeld für zivilgesellschaftliche Teilhabe konstruiert, wobei man die Differenzlinien unter anderem zu sogenannten ‚Gewaltakteuren‘ und zur Bevölkerung hervorhebt.

Sara Madjlessi-Roudi zeichnet nach, wie die deutsche Entwicklungspolitik danach gleichwohl am Konzept ‚Zivilgesellschaft‘ festhält, mit eigenverantwortlichen Subjekten, von denen bestimmte Handlungen eingefordert werden können.

Im Ergebnis werden so nicht nur politische und ökonomische Machtverhältnisse ausgeblendet, sondern auch koloniale Differenzsetzungen reproduziert, wobei sich das BMZ als handelnder Akteur begreift.

Nachfolgend kann die Autorin wichtige diskursive Effekte aufzeigen, sei es hinsichtlich der Legitimation des deutschen entwicklungspolitischen Handelns in Afrika oder der Zurückweisung von Kritik an entwicklungspolitischem Paternalismus.

 

 

DISS Neuerscheinung zu TV und Antiziganismus

Ab sofort lieferbar ist der Band 46 der Edition DISS im Unrast-Verlag:

Katharina Peters
Das deutsche Fernsehen und der Fall ›Rassismus‹
Mediale Inszenierungen von Sinti und Roma im Tatort und in politischen Talkshows

Das Buch ist erhältlich im guten Buchhandel oder direkt beim Unrast-Verlag.
ISBN 978-3-89771-775-6
164 Seiten, 18 EUR

 

Das vermeintliche Wissen, das über Sinti*ze und Rom*nija kursiert, ist geprägt von negativen Stereotypen bei kaum vorhandenen Kontakterfahrungen mit Angehörigen der Minderheit. Die dominierenden Bilder werden durch die Medien verbreitet und als Wahrheiten ausgegeben und rezipiert. Sie beschränken sich außerdem nicht auf Mitglieder der Minderheit, sondern werden ohne Widerspruch auf Menschen aus Bulgarien und Rumänien übertragen. Neben der emanzipatorischen Arbeit einer zunehmenden Zahl an Selbstorganisationen, ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die medialen Inszenierungen, deren Schauplätze und Akteur*innen, sowie die dahintersteckenden Wirkmechanismen und Strukturen aufzudecken.

Katharina Peters untersucht am Beispiel der medialen Inszenierung von ›Sinti und Roma‹ im deutschen Fernsehen, wie Rassismen adaptiert und verbreitet werden. Die mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien ausgezeichnete Analyse entlarvt die als Realitäten ausgegebenen Bilder in ihrer Konstruiertheit und schafft so Raum für andere Wirklichkeitsentwürfe, die ein vielfältigeres Bild zulassen und Stereotype negieren. Der diskurs- und medienwissenschaftliche Ansatz leistet einen Beitrag, Erscheinungsformen des Rassismus in Zeiten eines weltweit erstarkenden Nationalismus am Beispiel von Antiziganismus im deutschen Fernsehen detailliert zu beschreiben. Mit dem Ziel, die Sensibilität für eine diskriminierungsfreie mediale Darstellung zu schärfen und das Bewusstsein für die Realität Deutschlands als eine Einwanderungsgesellschaft zu stärken.

Katharina Peters

Katharina Peters (*1987) studierte Germanistik, Anglistik, Literatur- und Kulturwissenschaften und lebt im Ruhrgebiet. Als Mitarbeiterin am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und als Lehrbeauftragte arbeitet sie zu den Themen Rassismus, Antiziganismus und Gender Studies – insbesondere in den Medien.

Sie ist Verfasserin der Expertise Diskursivierung von ›Sinti und Roma‹ und ›Antiziganismus‹ in Bundestagsdebatten 2010 – 2019 im Auftrag der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus, in der sie die politischen Positionen der einzelnen Fraktionen und deren Argumentationsstrategien untersucht. Die Ergebnisse der Studie werden 2021 veröffentlicht.

2020 erschien der von ihr und Stefan Vennmann herausgegebene Sammelband Nichts gelernt?! Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus. Weitere Infos dazu unterwww.diss-duisburg.de.

Für die vorliegende Arbeit wurde sie mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien 2020 ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Vorspann – Die Verwischung der Grenzen im Interdiskurs Fernsehen

Drehbuch – Korpus und Struktur der Analyse
Im Visier – Sint*ezza und Rom*nja als Objekte medialer Inszenierung
Wiederholung – Die Rolle des Fernsehens
Immer wieder sonntags – Der Tatort
Modus operandi – Zur Methode

‚Sinti und Roma‘ im mediopolitischen Diskurs – Eine Spurensuche

Die Bürde der kollektiven Schuld – Armer Nanosh (1989)
Musikalität und Leidenschaft – Die schlafende Schöne (2005)
Kriminalität und Elend
Klau-Kids: aus ‚Osteuropa‘ – Brandmal (2008) und Kleine Diebe (2000)
‚Menschenhandel‘, ‚Prostitutoon‘, ‚Arbeiterstrich‘, ‚Bettel-Clans‘ und ,Müll’ – Mein Revier (2012), Angezählt (2013), Mi sanjetz da, wo’s weh tut (2016), Klingelingeling (2016)

Auflösung oder offenes Ende? Résumé und Ausblick

Literatur
Verzeichnis Filme und Fernsehsendungen
Anhang
Übersicht Tatort-Folgen
Übersicht Polit-Talkshows
Übersicht (diskursauslösende) Ereignisse und mediale Bearbeitungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

DISS-Neuerscheinung: Entfremdung – Identität – Utopie

Ab sofort lieferbar ist die DISS-Neuerscheinung:

Marvin Chlada, Peter Höhmann, Wolfgang Kastrup, Helmut Kellershohn (Hg.)
Entfremdung – Identität – Utopie
200 Seiten, 19,80 EUR, ISBN 978-3-89771-774-9

Edition DISS im Unrast-Verlag, Band: 45

 

 

 

 

Der Entfremdungsbegriff (bzw. ein verwandter Begriff wie Verdinglichung) hat Konjunktur. Die Debatte reflektiert zum einen das neue Interesse an der Marx-Lektüre, das seit der Jahrtausendwende Ausdruck der Krisenprozesse ist, die die kapitalistische »Welt« durchziehen und nach Erklärungsmustern suchen lassen. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhältnis zwischen dem »frühen« Marx und dem Marx der »Kritik der Politischen Ökonomie«, zwischen Entfremdungskritik und der Kritik des Warenfetischismus erneut thematisiert. Zum anderen verweist der Entfremdungsdiskurs auf die individuellen Leidenserfahrungen, die den Alltag der Menschen bestimmen.

Korrespondierend zum Entfremdungsbegriff nimmt der Identitätsbegriff einen immer breiteren Raum ein in der Debatte um die Gestaltung von nichtentfremdeten Lebensverhältnissen. ›Identität‹ (bzw. ›kollektive Identität‹) ist zur Chiffre geworden, unter der sich unterschiedliche Gruppen formen, denen es um eine Änderung vorherrschender Lebens- und Denkweisen geht, die sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen herausgebildet haben. Die jeweiligen Gemeinschaftsvorstellungen, ihre Begründungen und Handlungsstrategien werden seit einigen Jahren breit und kontrovers erörtert, dies gerade auch in den Gesellschaftsbildern rechter und linker Identitätspolitik. Bezüglich der letzteren stellt sich die Frage, wie Identitäts- und Klassenpolitik zueinander stehen.

Besondere Beachtung verdienen rechtspopulistische und extrem rechte Bewegungen. Auch sie operieren identitätspolitisch, indem sie das »Deutsch-Sein« (im völkischen Sinne) und das volksgemeinschaftliche Wir zum allein bestimmenden Identitätsmerkmal erheben. Identität ist aus dieser Sicht immer national- und volksbezogen. Entfremdung dagegen bedeutet stets Verlust des Nationalen und des »Volkshaften«. Auch die Vorstellungen von einer anderen, besseren Welt haben Konjunktur. Seit Karl Mannheim und Ernst Bloch wird Utopie nicht mehr primär als ein literarisches Genre, sondern als eine Denkform, als »utopisches Bewusstsein« betrachtet, die es für kultur- und sozialwissenschaftliche Analysen fruchtbar zu machen gilt.

Inhalt

Wolfgang Kastrup
Die Entfremdungskritik von Karl Marx

Marvin Müller
Neuere Entfremdungstheorien. Kritische Bemerkungen
zu den Theorien von Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa

Peter Höhmann
Identitätspolitik. Herausbildung, Deutungsformen
und kollektive Bewegung

Lea Susemichel
Emanzipatorische Identitätspolitik

Stefanie Graefe
Die Macht der Sekundäreffekte. Zur Entproblematisierung
von Rassismus in der Debatte um Rechtspopulismus

Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo
Klasse und ›Rasse‹ – Marxismus und Identitätspolitik
in Deutschland heute

Helmut Kellershohn
Identitätspolitik von rechts

Marvin Chlada
Utopisches Denken. Anmerkungen zum Utopiediskurs
in den Sozialwissenschaften

Jörg Senf
»In Fremdsprachen bin ich völlig unbegabt.« Entfremdung,
›völkische Identität‹ und Utopie beim Sprachenlernen

DISS-Neuerscheinung: Nichts gelernt?! – Antiziganismus

Ab sofort lieferbar ist der Band:

NICHTS GELERNT?!
Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus
Katharina Peters / Stefan Vennmann (Hg.)
Situationspresse (Duisburg) 2019
ISBN 978-3-935673-46-4
211 Seiten, 18 Euro

Erhältlich über  den Verband für interkulturelle Arbeit (VIA) und über den Buchhandel (Verlag Situationspresse, Duisburg)

Der Sammelband mit Aufsätzen zum Thema Antiziganismus vereint Beiträge aus der Wissenschaft und der Praxis zur in Deutschland leider immer noch am meisten verbreiteten Form des Rassismus. Er wurde vom Arbeitskreis Antiziganismus im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) erstellt – in Kooperation mit dem Verband für interkulturelle Arbeit (VIA).

Antiziganismus hat Tradition. Er ist trauriges Zeugnis einer Kontinuität von ausgrenzenden und menschenverachtenden Verhältnissen. Die spezifische Form von Rassismus wirkt seit Jahrhunderten in Deutschland und Europa in zahlreichen Variationen der immergleichen Stereotype sowie den damit verbundenen Gedankenmustern und Diskriminierungspraktiken. Dabei zeichnet sich Antiziganismus durch eine enorme Anpassungsfähigkeit und eine hohe Widerständigkeit gegen seine Bekämpfung aus. Welche Wirkmechanismen und Strukturen lassen sich identifizieren? Welche Strategien und Lösungsansätze können diesem Ressentiment entgegengesetzt werden?

 

Aus dem Inhalt:

Dirk Wolff
‚AIDD – Angekommen in Duisburg und Dortmund‘
Ein Projektbericht

Dirk Wolff von VIA e.V. (Verband für interkulturelle Arbeit e.V.) stellt zu Beginn des Sammelbandes das kürzlich abgeschlossene Projekt Angekommen in Duisburg und Dortmund vor. Die sozialen Jugendprojekte mit Rom*nja in ausgewählten Stadtteilen in Dortmund und Duisburg werden beschrieben und zeigen Möglichkeiten gelingender, inklusiver Jugendarbeit auf, während gleichzeitig Schwierigkeiten und Limitierungen benannt werden.

Wibke Kleina
Zwischen Passfähigkeit und Besonderung
Eine Betrachtung der schulischen Situation von Sint*ezza und Rom*nja

Ebenfalls mit Inklusion, allerdings aus schulpädagogischer Sicht, setzt sich Wibke Kleina in ihrem Beitrag auseinander. Anhand der Kriterien Passfähigkeit und Besonderung wird die historische und gegenwärtige Bildungssituation von Sint*ezza und Rom*nja in Deutschland analysiert und herausgearbeitet, welche Faktoren im aktuellen Bildungssystem Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen hervorbringen beziehungsweise begünstigen. Die Autorin zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass die Verantwortung inklusiver Schulbildung bei den staatlichen Institutionen und Lehrkräften liegt und eben nicht — entgegen antiziganistischer Zuschreibungen wie einer behaupteten ‚Bildungsferne‘ — bei den Schüler*innen und ihren Familien zu suchen ist.

Katharina Peters
„Sind wir zu intolerant?“
Die mediale Inszenierung von ‚Sinti und Roma‘ in Polit-Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens

Katharina Peters untersucht in ihrem Artikel die mediale Berichterstattung über ‚Sinti und Roma‘ in Polit-Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Dabei wird den Fragen nachgegangen, durch welche Strategien und Merkmale die Diskursivierung der Minderheit innerhalb der Diskussionsrunden gekennzeichnet ist, im Rahmen welcher Themenfelder über ‚Sinti und Roma‘ berichtet wird, welche Leerstellen es gibt und welche Kollektivsymbole sich ausmachen lassen. Die Autorin identifiziert und problematisiert in diesem Zusammenhang besonders auch diskursive Kopplungen zwischen nicht-fiktionale Formaten (Polit-Talks) und fiktionalen Sendungen (z.B. Tatort), die sich durch ihre gegenseitige (inhaltliche und bildliche) Bezugnahme in ihren Realitätseffekten bestärken und so maßgeblich zum Fortbestehen antiziganistischer Stereotype in Medien und Gesellschaft beitragen.

Joachim Krauß
Der Zukunft abgewandt
Duisburger Wege der Desintegration

Den realen Auswirkungen dieser Ausgrenzungsphantasien widmet sich Joachim Krauß in seinem Beitrag, der den konkreten Fall der verfehlten Integrationspolitik der Stadt Duisburg in den Blick nimmt. Ausgehend von einer misslungenen Umsetzung des wirtschaftlichen Strukturwandels seit dem zunehmenden Niedergang der Industrie und der damit verbundenen städtischen Krise folgte eine jahrzehntelange Abschottung und Ausgrenzung neuzugezogener Stadtbewohner*innen. In der Gegenwart sind insbesondere Migrant*innen aus Bulgarien und Rumänien von dieser Politik betroffen. Anhand jüngerer Zahlen, Fakten sowie Äußerungen in Lokalmedien und Stadtpolitik wird das Agieren der Stadtverwaltung in Duisburg unter die Lupe genommen. Besondere Beachtung findet die institutionelle Diskriminierung bei der Beantragung von Sozialleistungen, und die zahlreichen Hausräumungen werden als effektive Verhinderung einer inklusiven Stadtpolitik kritisiert.

Sylvia Brennemann und Joachim Krauß
Ein guter Ort wird schlechtgemacht — ein Gespräch zur Situation in Duisburg-Marxloh

Anschließend an diese Ausführungen schildern Sylvia Brennemann und Joachim Krauß im Gespräch mit dem Arbeitskreis Antiziganismus des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung die aktuelle Situation in Duisburg-Marxloh. Sie geben Einblicke in die Entwicklung des Stadtteils, teilen Erfahrungen aus der praktischen Stadtteilarbeit, thematisieren Fälle struktureller Diskriminierung und sprechen politische Zusammenhänge und Agenden an. Dabei kritisieren sie vor allem eine Stadtpolitik, bei der Menschen auf der Strecke bleiben und ein ganzer Stadtteil zur ‚No-Go-Area‘ stilisiert wird.

Markus End
Die Dialektik der Aufklärung als Antiziganismuskritik
Thesen zu einer Kritischen Theorie des Antiziganismus

Markus End beschäftigt sich mit den gesellschaftstheoretischen Grundlagen und der Möglichkeit einer Kritik des Antiziganismus. In seinem Beitrag unterzieht er die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – insbesondere die darin enthaltenen Elemente des Antisemitismus – einer antiziganismuskritischen Lesart und plädiert dafür, dass bereits in diesem zentralen Werk der Kritischen Theorie eine Reflexion auf Antiziganismus angelegt ist. Dabei wird insbesondere auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Antisemitismus eingegangen und thesenhaft angedeutet, welche psychologischen Mechanismen antiziganistische Ressentiments hervorbringen.

Sebastian Winter
‚Femme fatale‘ und ‚Zwangsprostituierte‘
Über den Wandel antiziganistischer Weiblichkeitsbilder

Sebastian Winter setzt sich in seinem Beitrag mit dem Wandel antiziganistischer Weiblichkeitsbilder auseinander und illustriert die Notwendigkeit einer auf die Intersektionalität von Antiziganismus und Sexismus konzentrierten Forschung. Sozialpsychologisch geht er der Dialektik von Faszination und Verachtung nach und hebt diese Parallelität an antiziganistischen Elementen hervor, die den Diskurs um ‚Zwangsprostitution‘, ‚organisierter Kriminalität‘ und ‚Multikulti-Romantik‘ prägen. Dabei wird insbesondere auf die unterschiedlichen, stereotypen Vorstellungen ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ ‚Zigeuner‘ eingegangen, die die vermeintlich monogam strukturierte Ordnung moderner Gesellschaften durch ihre non-konforme Sexualität in Gefahr bringt.

Rafaela Eulberg
Das Bild der wahrsagenden ‚Zigeunerin‘ als ‚nicht-okzidentale Andere‘
Anmerkungen zum Magie-Diskurs in antiziganistischen Formationen

Diese gendertheoretische Perspektive ergänzt Rafaela Eulberg in ihrem Beitrag mit einem Fokus auf das antiziganistische Stereotyp der ‚wahrsagenden‘, ‚magisch‘ begabten ‚Zigeunerin‘. Aus der Forschungsperspektive des Kritischen Okzidentialismus wird darauf eingegangen, dass sich in der exotisierenden Vorstellung der ‚Zigeunerin‘ nicht nur antiziganistische und sexistische Stereotype reproduzieren, sondern diese sich besonders in der ihnen zugeschriebenen magischen Begabung potenzieren. Der Vorwurf einer vermeintlichen ‚Religionslosigkeit der Zigeuner‘ wird hier zur Legitimationsinstanz der Dominanzgesellschaft erhoben, der das Paradigma des christlich-abendländischen Monotheismus zum Inbegriff religiöser Vernunft erklärt. Die vermeintliche Nutzung von ‚Zigeuner-Magie‘ als Gegenbegriff westlich-religiöser Vernunft rechtfertigt die Ausgrenzung und Verfolgung der stereotyp als unvernünftig, archaisch und primitiv Stigmatisierten.

Merfin Demir
Antiziganismus, Kolonialismus und Neoliberalismus
Eine Analyse aus Sicht einer Selbstorganisation

Merfin Demir geht in seinem Beitrag von einer Vergleichbarkeit von Antiziganismus mit der europäischen Kolonialgeschichte und der damit einhergehenden Entmenschlichungspraxis des Kolonialrassismus aus. Hierbei werden insbesondere das Verhältnis und Parallelen zur Sklaverei sowohl der amerikanischen Indigenen wie auch der durch Zwangsarbeit ausgebeuteten Afrikaner*innen näher betrachtet. Er plädiert dafür, die nahezu unbekannte Geschichte der Versklavung der Rom*nja in Rumänien und die sich später formierende Bürgerrechtsbewegung als maßgeblich durch das afroamerikanische civil rights movement geprägt zu verstehen. Dieser bisher in der Forschung kaum betrachteten Verbindung folgt eine thesenhafte Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Ausgrenzung und Verfolgung von Rom*nja am Beispiel des postsozialistischen Ungarn im Kontext dessen zunehmender Neoliberalisierung.

Astrid Messerschmidt
Antiziganismuskritik in Auseinandersetzung mit Rassismus und Nationalismus
Geschichtsbewusst handeln und Diskriminierung abbauen

Ähnlich wie Markus End geht auch Astrid Messerschmidt auf das Verhältnis von Antiziganismus und Antisemitismus als Element einer nationalbürgerlichen Konstellation ein. Dabei wird das Verhältnis von Antiziganismus und Nationalismus, insbesondere die ‚Arbeit‘ als Motor moderner, nationalstaatlicher Kollektivbildung und die Ausgrenzung von ‚fremd gemachten Anderen‘ reflektiert, die diesem westlichen Arbeitsethos nicht entsprechen und als ‚arbeitsscheu‘ und ‚müßiggängerisch‘ stigmatisiert werden. Im Kontext dieser Ideologisierung der Arbeit werden die Nachwirkungen des NS-Völkermordes thematisiert und die Notwendigkeit dargestellt, sich in antiziganismuskritischer Bildungsarbeit mit antiziganistischer Ausgrenzung im allgemeinen, aber insbesondere mit dem Nationalsozialismus als rassistischer Vernichtungsideologie – von dem neben Juden* – insbesondere als ‚Zigeuner‘ Stigmatisierte betroffen waren.

Stefan Vennmann
Der Nicht-Ort der Vernichtung
Zum Problem einer Analyse von Antiziganismus bei Giorgio Agamben

Stefan Vennmann kritisiert in seinem Beitrag die politische Philosophie Giorgio Agambens, der zwar ‚Zigeuner‘ im Kontext seiner philosophischen Untersuchungen immer wieder als Opfer von Ausgrenzung und Vernichtung versteht, im Kern aber alle Opfer von Ausgrenzung unter seinem Theorem des homo sacer – des straffrei tötbaren, gewissermaßen vogelfreien Lebens – subsumiert. Dies hat zur Folge, dass die von Astrid Messerschmidt als absolut notwendig postulierte Aufarbeitung der antiziganistischen Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus ihres Spezifikums beraubt wird und Agamben spezifische Ausgrenzungsformen, die unterschiedlichen Logiken und Dynamiken folgen, weder erkennen noch erklären kann. Für die theoretische Verortung und Kritik von Antiziganismus wird Agambens Ansatz dahingehend problematisiert, dass er die Kontinuitäten und Diskontinuitäten antiziganistischer Ausgrenzung nur auf Phrasen reduzieren kann und gerade nicht auf spezifische, historische Konstellationen verweist.

Drita Jakupi
Antiziganismus, Romaphobie, Gadje-Rassismus? Kritische Einwände

Den Band schließen kritische Einwände von Drita Jakupi, in denen sie neben Einblicken in ihren Aktivismus auch zur Verwendung des Antiziganismus- Begriffs in der Forschung Position bezieht. Sie klagt die nach wie vor bestehende Ungleichbehandlung von Rom*nja durch die Dominanzgesellschaft an, die sich eben auch in der sprachlichen Weiterverwendung solch problematischer Begriffe wie ‚Antiziganismus’ zeige und attestiert stattdessen eine ‚Romaphobie‘. Diese sicherlich kontroverse These regt zum Weiterdenken an und kann exemplarisch dafür stehen, dass der Prozess der Auseinandersetzung und des Dialogs noch lange nicht beendet ist.

 

 

Zu den Autorinnen und Autoren:

Sylvia Brennemann ist Kinderkrankenschwester und lebt in Duisburg- Marxloh, wo sie sich seit vielen Jahren im Stadtteil engagiert, u.a. im Petershof und in der Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung, die bis 2017 dort angesiedelt war. Mit ihrer Forderung nach gleichen Rechten für alle stößt sie vor allem im örtlichen Rathaus auf großen Widerstand.

Merfin Demir, 1980 als Sohn muslimischer Rom*nja geboren, ist Autodidakt. Sein Schwerpunkt liegt in der rassismuskritischen Empowermentarbeit. Er ist derzeit freier Mitarbeiter der Alice Salomon Hochschule (Berlin).

Markus End ist Fellow und Lehrbeauftragter am Zentrum für Antisemitismusforschung und Vorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismusforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Theorien des Antiziganismus, antiziganismuskritische Bildungsarbeit sowie Antiziganismus in den Medien, bei Polizei- und Sicherheitsbehörden und in der Sozialen Arbeit.

Rafaela Eulberg ist neben ihrer Arbeit als hauptamtliche pädagogische Mitarbeiterin im Bildungswerk interKultur wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Religionsforschung am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn. Promoviert wurde Rafaela Eulberg 2018 an der Universität Luzern im Fach Religionswissenschaft mit der Dissertation Neue Orte für die Götter. Lokalisierungsdynamiken von Hindu-Praxis in der Schweiz im Kontext der sri-lankisch tamilischen Diaspora. Im Juni 2018 erhielt sie für ihre Dissertation den Fritz-Stolz-Preis der Schweizerischen Gesellschaft für Religionswissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkt sind ‚Religion und Migration‘, Religionsästhetik und gendertheoretische Religionswissenschaft.

Drita Jakupi ist Rom*nja-Aktivistin und hat Politikwissenschaft und Soziologie in Duisburg und Paris studiert. Sie hat als Projektkoordinatorin Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas sowie für die Stiftung Denkmal gearbeitet. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Systemische Traumatherapie und transgenerative Traumata.

Wibke Kleina ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik an der TU Dortmund sowie Mitarbeiterin im Projekt Schul- und Unterrichtsentwicklung im Rahmen von RuhrFutur – 2. Phase und zuständig gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel und Dr. Christiane Ruberg für die wissenschaftliche Begleitforschung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Inklusion, Bildung im Kontext von Migration und Flucht sowie Lehrer*innenbildung und Professionalisierung.

Joachim Krauß, M. A., Studium Osteuropastudien, Politik und Soziologie, Quartiersmanager in Berlin Marzahn NordWest, davor Bereichsleitung Migration und Integration bei der AWO-Integrations GmbH in Duisburg, Koordination und Durchführung von Forschungsprojekten wie Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien in Duisburg-Marxloh und Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Themenschwerpunkte: Vorurteilsforschung, aktuelle und historische Situation von Sint*ezza und Rom*nja, Neuere und Neueste Geschichte Südosteuropas.

Astrid Messerschmidt ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Pädagogik, Religionspädagogik, Germanistik und Politikwissenschaft; Berufstätigkeiten in der Erwachsenenbildung; Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung, Bildung in der Migrationsgesellschaft, Antisemitismus-, Antiziganismus- und Rassismuskritik, Bildungsarbeit zu Geschichte und Wirkung des Nationalsozialismus, Kritische Bildungstheorie.

Katharina Peters, M.A., Studium der Fächer Germanistik und Anglistik sowie der Angewandten Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dortmund und der Karlstads Universitet, Schweden (Schwerpunkte: Intercultural Communication und Film Studies), Abschlussarbeit zum Thema Mediale Inszenierungen von ‚Sinti und Roma’ am Beispiel der Krimi-Reihe Tatort und Sendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Mitarbeiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, Forschungsschwerpunkte: Rassismus, Antiziganismus, Film- und Medienanalyse, Gender Studies, Kollektivsymbolik.

Stefan Vennmann ist Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, promoviert am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen zum Thema Kollektive Schuld. Zur kritischen Theorie eines umkämpften Begriffs und ist seit 2013 Mitarbeiter im AK Antiziganismus des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Theorie und Sozialphilosophie, insbesondere Kritische Theorie, Schuld- und Verantwortungstheorien, sowie Nationalsozialismus, Antisemitismus und die Philosophie der ‚Neuen Rechten‘.

Sebastian Winter, Dr. phil, ist Sozialpsychologe, Redaktionsmitglied der Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, derzeit Verwaltung einer Professur für Heilpädagogik an der Hochschule Hannover, Arbeitsschwerpunkte: Geschlechtertheoretische Sozialisationstheorie, Psychoanalytische Sozialpsychologie von Gemeinschafts- und Feindbildungsprozessen/ Ressentimentforschung, Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte der völkischen Bewegung, des NS und der postnationalsozialistischen Gesellschaften, Deutsche Erinnerungskultur bzgl. des Nationalsozialismus.

Dirk Wolff ist mit der Koordinierung des Projekts ‚AIDD – Angekommen in Duisburg und Dortmund‘ am Standort Duisburg betraut. Er realisiert als Medienkompetenz-Trainer an Schulen und in Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtungen digitale Bildung.

 

Das Projekt wurde gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben! und von der Amadeo Antonio Stiftung.

FGW-Neuerscheinung: #120Dezibel: Frauenrechte oder Antifeminismus?

Neuerscheinung:

Cover-FGW-120dB-Frauenrechte-oder-AntifeminismusMargarete Jäger, Max Kroppenberg, Benno Nothardt, Benno und Regina Wamper
#120Dezibel: Frauenrechte oder Antifeminismus?
Populistische Diskursstrategien der extremen Rechten und Anschlussstellen im politischen Mainstream.

Forschungsgesellschaft für gesellschaftliche Weiterentwicklung, 2019.
86 Seiten, online verfügbar, ISSN 2699-1446.
Lynn Berg, Andreas Zick (Hg.): FGW-Studie Rechtspopulismus, soziale Frage & Demokratie 02.

 

Abstract

2018 riefen Aktivist_innen der Identitären Bewegung die Kampagne #120Dezibel ins Leben, die anschließend an ein Tötungsdelikt in Kandel und abgrenzend zur feministischen #MeToo-Kampagne Gewalt gegen ‚deutsche‘ Frauen durch ‚migrantische‘ Männer thematisiert. In der vorliegenden Studie wird untersucht, ob die Kampagne #120Dezibel der Identitären Bewegung eine spezifische Form des rechten Antisexismus hervorbringt oder ob der völkische Antifeminismus in der extremen Rech-
ten weiter vorherrschend ist. Ferner wird analysiert, ob Leitmedien in Deutschland Anschlussstellen für rechtspopulistische Diskursstrategien bieten, wenn es um Diskursverschränkungen zwischen Geschlecht, Migration und Kriminalität geht. Zu fragen ist, ob durch die Leitmedien Ethnisierungen von Sexismus hervorgebracht werden und wie Leitmedien mit Ethnisierungen umgehen, sofern diese von der extremen Rechten formuliert werden. Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, wurden verschiedene Diskursanalysen unterschiedlicher Leitmedien in Deutschland, aber auch extrem rechter Medien zu unterschiedlichen Ereignissen durchgeführt.

Auf einen Blick

  • Das Verhältnis der extremen Rechten in Deutschland zum Feminismus ist durch einen ausgeprägten völkischen Antifeminismus bestimmt. Das zeigt sich deutlich in deren Rezeption der #MeToo-Kampagne.
  • Durch die Kampagne #120Dezibel der Identitären Bewegung wird keine spezifische Form des rechten Antisexismus hervorgebracht, auch wenn man vordergründig auf Frauenrechte rekurriert. Der völkische Antifeminismus in der extremen Rechten ist weiter vorherrschend. Bei der Kampagne und ihrer Rezeption in der extremen Rechten handelt es sich um eine populistische Diskursstrategie.
  • In der Debatte um ein Tötungsdelikt in Kandel im Jahr 2017 wurden in deutschen Leitmedien Ethnisierungen von Sexismus und von Femiziden vorgenommen. Dies bot Anschlussstellen für rechtspopulistische Interventionen in den Diskurs, wie sie die Kampagne #120Dezibel darstellt.
  • Gleichzeitig grenzen sich deutsche Leitmedien aber von Ethnisierungen ab, wenn diese von der extremen Rechten hervorgebracht werden.

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Das Tötungsdelikt in Kandel in den Leitmedien
  3. Die Kampagne #MeToo in extrem rechten Medien
  4. Die Kampagne #120Dezibel in extrem rechten Medien
  5. Die Kampagne #120Dezibel in den Leitmedien
  6. Resümee: Anschlussstellen und Abgrenzungen

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