Studie: Neonazismus zwischen Bürgerkrieg & Bürgernähe

Neonazismus zwischen Bürgerkrieg & Bürgernähe

Themen, Positionen und Strategien in der Zeitschrift N.S. Heute

DISS-Journal Sonderheft #7
Dezember 2023
114 Seiten

 

Seit 2017 erscheint einigermaßen regelmäßig das Magazin N.S. Heute (NSH). Das ermöglicht diskursanalytische Untersuchungen zum zeitgenössischen Neonazismus. Diese Studie präsentiert die Ergebnisse einer solchen Diskursanalyse.

Mit seinem eindeutig neonazistischen Kurs und seiner überregionalen Ausrichtung repräsentiert das Magazin eine Gruppierung, die lange nicht publizistisch in Erscheinung getreten ist. Mit dem Erscheinen der N.S. Heute ist es nun möglich, die Positionen und verlautbarten Strategiedebatten des neonazistischen Spektrums der extremen Rechten zu untersuchen.

Schwerpunkt der Studie sind die Fragen:

  • Welche Gesellschaftsutopie wird in der NSH formuliert?
  • Wie sieht die Gegenwartsanalyse der NSH aus?
  • Welche Strategien werden diskutiert und vorgeschlagen?
  • Wie ist das Verhältnis zu anderen Spektren und Parteien der extremen Rechten?

Die Autor:innen kommen in ihrem Fazit zu folgendem Ausblick:

Deutsche Neonazis haben die letzten Jahre als stärkend erlebt. Sahen sie sich selbst 2017 noch marginalisiert und ihre Positionen tabuisiert, ist das heute nicht mehr so. Sie sehen sich als Gewinner der multiplen Krise der letzten Jahre. Auch ein gesellschaftliches Klima in Deutschland kommt ihnen zugute, in dem laut Umfragen die AfD zweitstärkste Partei bei den Bundestagswahlen würde. Liberale und v.a. konservative Kräfte haben auf das Erstarken der extremen Rechten in Deutschland und darüber hinaus bisher keine adäquate Antwort gefunden, die geeignet wäre, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.
Schließlich bliebe genauer zu beleuchten, wo die extreme Rechte an eine gesellschaftliche ‚Mitte‘ andocken kann. Wir sehen seit 2015 beispielsweise einen sich immer weiter radikalisierenden und brutalisierenden Migrationsdiskurs in der gesellschaftliche ‚Mitte‘, der von ‚Überfremdung‘ redet, der Migration und Flucht mit Kriminalität verkoppelt oder mit sexualisierter Gewalt. Wir sehen hegemoniale Medien, die oftmals Diskurse in diese Richtung weitertreiben. Wir sehen rassistische Demonstrationen, nach denen von Politiker:innen gefordert wird, Ängste ernstzunehmen. Und damit sind nicht die Ängste derer gemeint, die von Rassismus, von Angriffen und Anschlägen betroffen sind, sondern die Ängste derer, die den Nährboden für diese Angriffe bereiten, die Ängste von Rassist:innen, von potentiellen Angreifer:innen.
Daran können Neonazis anknüpfen, obwohl unsere Studie auch das zwiespältige Verhältnis der NSH zur ‚bürgerlichen‘ Presse zeigen konnte. Wenn diese einen Zusammenhang zwischen Neonazismus und Terrorismus thematisierte, wird dies von den Autor:innen vehement zurückgewiesen. Auch werden Berichte über innere Widersprüche, über Streitigkeiten und über Führungsansprüche nicht so gerne gesehen. Ansonsten wird eine Berichterstattung, die die Neonazi-Szene als stark, durchaus auch als brutal, entschlossen, wehrhaft und gefährlich darstellt, begrüßt.
Auch antifeministische Kampagnen gegen Geschlechtergerechtigkeit, Kampagnen gegen das ‚Gendern‘, Kampagnen gegen Antifaschismus und Antifaschist:innen oder Kampagnen gegen eine angebliche ‚Cancel Culture‘ bieten der neonazistischen Szene Anknüpfungspunkte zur gesellschaftlichen Hegemonie.
Mit dem Aufgreifen der Themen der extremen Rechten wird sie keineswegs geschwächt, ganz im Gegenteil. Bei einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte über Neonazismus, die Neonazismus als Gefahr ernst nimmt und thematisiert (und nicht die Themensetzungen der Neonazis übernimmt), darf es nicht um eine formelle Tabuisierung gehen. Nötig ist eine tatsächliche Auseinandersetzung über Neonazismus anhand der Fragen: Was ist eigentlich Neonazismus? Was ist Faschismus? Was ist völkisches Denken? Wie hängt das mit Nationalismus zusammen? Wie mit Autoritarismus? Welche Rolle spielen darin Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus? Nur durch eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit diesen Fragen und einer klaren Zurückweisung dieser Deutungsmuster lässt sich der fortschreitenden Normalisierung von Neonazismus substanziell etwas entgegensetzen.

 

Kostenlose PDF-Datei:
http://www.diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2024/02/DISS-Sonderheft7web.pdf

Die gedruckte Ausgabe ist gegen 4 € Schutzgebühr plus Porto erhältlich.
info@diss-duisburg.de

Die Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit

Ausstellung in der Salvatorkirche Duisburg, Burgplatz 19, 47051 Duisburg
Eröffnung mit einem Gottesdienst am So, 28.1., 16 Uhr
Dann 28.1.2024 – 11.2.2024 zu den Öffnungszeiten der Kirche: Di-Sa 10-17 Uhr, So 9-13 Uhr. Mo geschlossen

Unter der Überschrift „Die Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit“ eröffnet am Sonntag, dem 28. Januar, um 16.00 Uhr mit einem Gottesdienst eine Ausstellung über die Ausgrenzung und Entrechtung der Minderheit der Roma und Sinti im Nationalsozialismus bis hin zu ihrer systematischen Vernichtung im besetzten Europa. In der Salvatorkirche werden sechs Tafeln zu Duisburger Sinti-Biografien gezeigt, die als Ergänzung zu einer Wanderausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma vom Zentrum für Erinnerungskultur erarbeitet wurden.
Es ist der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ an dem es Jahr um Jahr wichtig ist zu erinnern und zu mahnen. Die Aktualität wird darin deutlich, dass wir uns gerade in diesem vergehenden Jahr neu mit dem latent lauernden Antisemitismus und Rassismus auseinandersetzen müssen, was klare Antworten braucht.
Die Ausstellung machte die zerstörten persönlichen Lebenswege hinter den abstrakten Dokumenten der bürokratisch organisierten Vernichtung sichtbar. Neben der unvorstellbaren Verfolgung und Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens, waren auch Homosexuelle, Kommunisten und politisch Andersdenkende, sowie eben auch Roma und Sinti der Verfolgung ausgesetzt. Historische Familienfotos geben wiederum Einblicke in ihre Lebenswirklichkeit und lassen sie als Menschen, die unter uns ihr Leben lebten, hervortreten – bis sie durch Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung herausgerissen wurden.

Die Ausstellung wird bis zum 11. Februar in der Salvatorkirche zu den üblichen Öffnungszeiten zu sehen sein.

Eröffnunggottesdienst am So, 28.1., 16 Uhr:

Gottesdienst zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (Pfarrerin Süselbeck mit Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Duisburg-Mülheim-Oberhausen e.V., Schüler*innen des Landfermann-Gymnasiums, Kirchenkreis und kath. Gemeinde).

-> https://salvatorkirche.de/

Kurzgutachten: Religion und Macht

Unser Mitarbeiter Jobst Paul erstellte 2023 das Kurzgutachten Religion und Macht – Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus.

Es ist auf der Website des BICC – Bonn International Centre for Conflict Studies abrufbar.

Das Kurzgutachten entstand im Rahmen von Core-NRW – Netzwerk für Extremismusforschung in Nordrhein-Westfalen.

https://www.bicc.de/Publikationen/CoRE_KurzGutachten7_Religion_u_Macht_231016_web.pdf

Paul, J. (2023). Religion und Macht – Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus . In Kurzgutachten 7 . BICC.

ZUSAMMENFASSUNG

Im Rahmen des vorliegenden Gutachtens werden streiflichtartig die Fülle und Variabilität von christlich-fundamentalistischen Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen umrissen, die darin übereinkommen, nicht für, sondern gegen den Abbau von Diskriminierung und Ungleichheit einzutreten und danach zu streben, vergangene autoritäre, antidemokratische Machthierarchien wieder herzustellen. Entscheidend ist, dass in den vergangenen Jahren eine immer größere Anschlussfähigkeit der Positionen der erwähnten Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen und der Programmatik rechtsextremer Gruppen entstanden ist, wobei sich personelle Verbindungen und organisatorische Vernetzungen zwischen den Milieus ausgebildet haben.

Viele der Manifeste, die rechtsextrem motivierte Gewalttäter:innen u. a. auch in jüngster Zeit in legitimierender Absicht in Online-Netzwerken veröffentlichten, belegen, in welchem Ausmaß sich darin zentrale Positionen des christlichen Fundamentalismus mit rechtsextremen Agenden und deren Narrativen überschneiden. Die resultierenden Programmatiken, in denen sich Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen zunehmend zusammenfinden und unter deren Einfluss Radikalisierungsprozesse ausgelöst werden, sind durchzogen von verschwörungsideologischen, u. a. antisemitischen Grundthesen und von militanter Gegnerschaft gegen Selbstbestimmungsrechte im Bereich von Reproduktion, von Lebensformen und geschlechtlicher Identität.

Ganz besonders hervorzuheben ist dabei, dass diese Entwicklung zur Voraussetzung hatte, dass es zunächst zu inter-konfessionellen Koalitionen zwischen radikalen Fraktionen katholischer, evangelikaler und orthodoxer Provenienz kam, bevor es zu Bündnissen von diesen mit extrem rechten Gruppierungen, u. a. aber auch mit einem breiten Spektrum des esoterischen Aktionismus kommen konnte.

In ihrer Gesamtheit haben diese Prozesse zu einer derzeit kaum überschaubaren Bandbreite von Organisationsund Aktionsformen geführt, die zudem zwischen lokalen und regionalen, zugleich aber auch nationalen und dann internationalen Ebenen hin- und herchangieren. Dabei scheinen sechs unterschiedliche und zugleich komplementäre Dynamiken am Werk zu sein:

So tendieren (1) diese Prozesse in die Richtung einer Konzentration, d. h. der Bildung immer schlagkräftigerer Kooperationen und Verbände, und hin zu einer entsprechenden Verbreiterung der finanziellen Machtbasis. Wie sich zeigte, sind nach bisherigem Stand oligarchische Geldquellen, aber auch Großspender äußerst relevant. Großverbände wie z. B. Tradition, Family and Property (TFP) haben aber gezeigt, dass die organisatorische und ökonomische Professionalisierung des Personals (2), das im Aufbau und Ausbau von lokalen und regionalen Klein- und Missionsgruppen und der Akquirierung von Finanzmitteln eingesetzt werden kann, zu fast autarken Finanzstrukturen führen kann.

Einen erheblichen Zuwachs an Macht erbrachte darüber hinaus (3) die Etablierung einer sehr effizienten, international agierenden juristischen Ebene, die, wie etwa der Verband Alliance Defending Freedom (ADF), versucht, in Musterprozessen gegenüber Verwaltungen die Aktionsfreiheit fundamentalistischer Akteure dauerhaft durchzusetzen, wobei sie auch (und gerade) regionalen Kleingruppen zu Hilfe kommt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sind zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen beobachtbar: So scheinen die Prozesse der Diversifizierung (4) und der regionalen und lokalen Dislozierung von Gruppen (5) einerseits dazu zu dienen, im Sinn von „Schneeball“-Systemen die Attraktivität für lokale, potenziell neue Mitglieder zu erhöhen, sei es als Besteller und Konsumenten einschlägiger Devotionalien, als Spender bzw. als ihrerseits in der Mission einsetzbare Akteure. Andererseits können so die größeren Organisationsstrukturen, in denen sie wirken, unsichtbar gemacht werden.

Eine sechste Tendenz, die der verbalen und politischen Radikalisierung (6), ergibt sich nicht nur aus den oben bereits beschriebenen, gegen Grundrechte gerichteten Programmatik des christlichen Fundamentalismus und der politischen Agenda extrem rechter Bewegungen, mit denen sich Kooperationen etabliert haben. Prozesse der Radikalisierung ergeben sich auch aufgrund fundamentalistischer Logiken selbst, die nach zunehmend „reinen“ Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, hier: zwischen eigenen, „reinen“ Ego-Idealen und dem „satanischen“ Anderen streben. Organisatorisch kann dies bedeuten, dass sich innerhalb der betreffenden Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen immer weiter abgehobene Führungsebenen entwickeln, es aber zugleich in ihnen zu einer verstärkten inneren Sozialkontrolle kommt.

Insbesondere die Radikalisierungsprozesse, die sich z. B. in Afrika und Südamerika zeigen, unterstreichen darüber hinaus, dass sie nicht denkbar sind ohne die ständige Steigerung der verbalen, rhetorischen Herabsetzung von Opfergruppen, um eine Polarisierung der Öffentlichkeit zu erreichen (und zu erhalten) und Opfergruppen dann der rechtlichen, öffentlichen, psychischen wie physischen Verfolgung preiszugeben. Mit diesen Prozessen ist auch in Deutschland, ggf. gerade in regionalen und lokalen Kontexten zu rechnen (Anonym 2023e).

Dabei könnten Hass- und Gewalt-Prediger, die – wie in Pforzheim (Anonym 2021d; Streib 2023a; Streib 2023b; Anonym 2023d) – zur „Tötung von LGBTQ-Personen“ aufrufen, in den Hintergrund treten gegenüber geografisch deutschlandweit bis in Kleinstgemeinden hinein gestreuten potenziellen Täter:nnen, die sich – wie im Fall des geplanten „Reichsbürger“-Coups um Heinrich XIII. Prinz Reuß – unterschiedlich und aufgrund unterschiedlichster, darunter christlich-fundamentalistischer Ideologiekonstrukte extrem radikalisiert hatten und sich offenbar spontan vernetzten (Anonym 2023e).

Gerade letzteres Beispiel zeigt, dass sich hate speech und Programmatiken der Ungleichheit nicht auf bestimmte Themen und Politikfelder beschränken lassen, sondern auf eine insgesamt totalitäre Ordnung zielen, auch wenn sie sich temporär auf die Verfolgung bestimmter Minderheiten fokussieren. Nicht zu unterschätzen in ihrer gesellschaftlichen Dynamik sind aber auch „kalte“ Wege einer Radikalisierung, die die – bereits genannte – Ausbildung zunehmend abgehobener Führungsebenen und einer intensivierten inneren Sozialkontrolle der betreffenden Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen zur Voraussetzung haben: Zu nennen sind hier eine aggressive Siedlungstätigkeit und/oder der Land- und Immobilienerwerb durch vernetzte Kleingruppen, wie aktuell in der Bundesrepublik im Fall der völkischen, extrem rechten, so genannten „Anastasia“- Bewegung mit über 20 Siedlungsprojekten, die mit Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber der umgebenden Bevölkerung einhergehen (Kelan 2023; Takac 2023).

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 4

1 Rückblick. Eine Kontextualisierung. 7

2 Rechtliche Aspekte 9

2.1 Religiöser Fundamentalismus als Familien- und Jugendproblem 9

2.2 Verschiebungen der Perspektive 11

2.3 Haltung der Bundesregierung 13

2.4 Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 14

3 Forschungslage 16

3.1 Strukturen der Forschung 16

3.2 Dokumentations- und Informationsstelle für die Bundesregierung

zum Bereich „Sekten und Psychogruppen“ 18

4 Diabolisierung als Konstante im christlichen Fundamentalismus 19

4.1 Ältere Gutachten 20

4.2 Religionsgeschichtlicher Rückblick 20

4.3 Katholischer Fundamentalismus 21

4.4 Protestantischer Fundamentalismus 22

4.5 Russisch-Orthodoxer Fundamentalismus 23

5 „Anti-Gender“ als fundamentalistischer Nenner 24

6 Taktiken, Konzeptionen, Finanzen 26

6.1 Taktisch-theoretische Konzeptionen von rechts 26

6.2 Christlich-fundamentalistische Vernetzungen mit rechtsextremistischen Gruppierungen 29

6.2.1 Katholische Akteure (Auswahl) 31

6.2.2 Evangelikale Akteure (Auswahl) 32

6.2.3 Vernetzungen mit dem russisch-orthodoxen Machtapparat – und darüber hinaus (Auswahl) 34

6.3 Astroturfing, Multiple Gruppen, Mega Churches 36

6.4 Finanzierungsformen 37

7 Zwei Fallstudien 40

7.1 Tradition, Family and Property (TFP) 40

7.2 World Congress of Families (WCF) 41

8. Schlussfolgerungen und Empfehlungen 43

8.1 Befunde 43

8.2 Empfehlungen an die Praxis 45

i Foren für Austausch und Projektkonzeptionen 45

ii Schnittstellen zwischen Forschung, Praxis, Politik, Medien und Öffentlichkeit 45

8.3 Empfehlungen an die Forschung 46

i Forschungsverbundstrukturen in NRW aufbauen 46

ii Forschungsthemen etablieren 46

iii Psychologische Forschung 47

iv Territorialforschung 47

v Rechtsforschung 47

Literatur 48

DISS-Journal 46 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

 

Vorwort

Das neue DISS-Journal wurde im Juni konzipiert. Die bedrückenden Ereignisse in Israel konnten wir nicht erahnen, seit Januar dominierten die Proteste gegen die geplante Justizreform das Bild und beschäftigten hierzulande die Medien. Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober mit seinen barbarischen Exzessen hat seitdem alles verändert und selbst den Ukrainekrieg aus den Schlagzeilen verdrängt. Das Recht Israels auf Selbstverteidigung steht außer Frage, über die Form wird debattiert und auf die Notlage der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen hingewiesen; andererseits wächst die Furcht vor einer Internationalisierung des Konflikts. Der Iran droht mit Intervention, die Hisbollah bereitet sich auf die Errichtung einer zweiten Front im Norden Israels vor, die USA schicken zwei Flugzeugträger in das östliche Mittelmeer und von Seiten der deutschen Regierung wird an die Rede Angela Merkels von der deutschen Staatsräson, der bedingungslosen Unterstützung Israels, erinnert.

Wie gesagt, davon konnten wir im Juni nichts wissen. Deshalb steht in diesem Heft weiterhin der Ukrainekrieg im Mittelpunkt. Wolfgang Kastrup ergänzt seine Analyse aus dem vorigen Heft, indem er den Blick über den Ukrainekrieg hinaus auf die drohende – wirtschaftliche und militärische – Blockkonfrontation zwischen dem „Westen“ und China richtet. Wilfried Schollenberger, alter Sozialdemokrat, kritisiert anhand der Rede des SPD-Co-Vorsitzenden Lars Klingbeil zur „Neupositionierung sozialdemokratischer Außenund Sicherheitspolitik“ in der „Zeitenwende“ den neuen Geschichtsrevisionismus in der SPD. Und wir erlauben uns den Abdruck der Einleitung aus dem demnächst erscheinenden Ukrainebuch in der Edition DISS.

Zu den Themen, die traditionell im DISS-Journal abgehandelt werden, gehören die diversen Facetten des Rechtspopulismus und -extremismus. Die jüngsten Erfolge der AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen haben die Auffassung, die AfD sei hauptsächlich ein ostdeutsches Phänomen, kräftig erschüttert. Umso dringender ist die Auseinandersetzung mit den Zielen der AfD, in diesem Heft konkret mit ihrem europapolitischen Vorstellungen, und mit den gesellschaftlichen Ursachen ihres Aufstiegs. Peter Höhmann untersucht am Beispiel Nordrhein-Westfalens den Zusammenhang zwischen der zunehmende Ungleichheit in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Bundeslandes und stellt hierauf beziehbare Folgen am Beispiel politischer Teilnahme (Wahlverhalten) dar, wodurch die AfD begünstigt werde. Jobst Paul stellt sein Gutachten (im Rahmen des CoRE-Netzwerks) zum wachsenden Einfluss christlich-fundamentalistischer Gruppierungen und Ideenkonglomerate in der rechten Szene vor (u.a. auch in der AfD) und Nadja Kutscher analysiert das bekannte Narrativ des „Großen Austauschs“.

Eingeleitet aber wird das neue DISS-Journal durch einen ausführlichen und luziden Beitrag von Ursula Kreft & Hans Uske zu einem brisanten innenpolitischen Thema, das immer wieder, vor allem durch Kampagnen der BILD-Zeitung, medial bearbeitet wird, aktuell anhand der von der CDU und der AfD aufgeworfenen Frage der Verbindung von Bürgergeld und Arbeitspflicht. „Wer keine Arbeit findet, muss eine gemeinnützige Tätigkeit aufnehmen“, zitiert die WELT den CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann (DIE WELT v. 16.10.23). Kreft & Uske untersuchen diese Forderung vor dem Hintergrund des in den Medien seit Jahrzehnten fest verankerten Diskurses zum „Sozialmissbrauchs“ und fragen nach Kontinuitäten und Veränderungen in der Struktur desselben. Eine spannende Lektüre!

Zu guter Letzt: Das nächste DISS-Kolloquium findet am 18. November in der Duisburger Jugendherberge statt und wird sich mit „gesellschaftlichen und politischen Aspekten der Vielfachkrise“ befassen (siehe S. 58). Vieles von dem, was in diesem DISS-Journal angesprochen wird, werden wir mit interessanten ReferentInnen vertiefen. Liebe Leserinnen und Leser, betrachten Sie unser Heftcover als Einladung!

Helmut Kellershohn

 

 

Inhalt
4 VORWORT
5 MIT DEM BÜRGERGELD IN DIE HÄNGEMATTE – KONTINUITÄT UND WANDEL BEIM „SOZIALMISSBRAUCH“
Von Ursula Kreft und Hans Uske
17 NEU IN DER EDITION DISS – DER KRIEG IN DER UKRAINE. WELTORDNUNGSKRIEG UND „ZEITENWENDE“
Von Wolfgang Kastrup und Helmut Kellershohn
19 VOM KRIEG IN DER UKRAINE ZUR NEUEN BLOCKKONFRONTATION
Von Wolfgang Kastrup
26 WAS IST FALSCH IN DER REDE VON LARS KLINGBEIL?
ZUR „GRUNDLEGENDE(N) NEUPOSITIONIERUNG SOZIALDEMOKRATISCHER AUSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK“
Von Wilfried Schollenberger
31 MATERIELLE UNGLEICHHEIT UND VERÄNDERUNGEN POLITISCHER TEILNAHME
SEKUNDÄRE ANPASSUNGEN AN ÖKONOMISCHE ENTWICKLUNGEN IN NORDRHEIN-WESTFALEN
Von Peter Höhmann
35 DAS EUROPAKONZEPT DER AFD 2023
Von Helmut Kellershohn
40 RELIGION UND MACHT
EIN DISS-GUTACHTEN ZUM CHRISTLICHEN FUNDAMENTALISMUS TRÄGT ALARMIERENDES ZUSAMMEN.
Von Jobst Paul
42 VERTEIDIGUNG EINER ILLUSION
Von Nadja Kutscher
45 KÖRPERLICHE SELBSTBESTIMMUNG – FÜR WEN?
DER FEMINISTISCHE DISKURS UM ABTREIBUNG
Von Hannah Kaufmann
48 „ZAHRAAS ERWARTUNGEN IN IHREM TRAUMLAND“
VON KRIEG, MUT UND HOFFNUNGEN: EIN INTERVIEW MIT EINER SYRERIN, DIE NACH DEUTSCHLAND GEFLOHEN IST
Von Berivan Slemann
52 DIE NOTWENDIGKEIT DES „DEGROWTH-KOMMUNISMUS“ – KOHEI SAITO NEUES BUCH „SYSTEMSTURZ“
Rezension von Wolfgang Kastrup
54 „DIE GEGENWART ALS WERDEN ERFASSEN“
Rezension von Wolfgang Kastrup
56 LESETIPPS ZUM UKRAINEKRIEG
FREERK HUISKEN: FRIEDEN. EINE KRITIK & FELIX JAITNER: RUSSLANDS KAPITALISMUS
Von Wolfgang Kastrup
58 EINLADUNG ZUM JAHRESKOLLOQUIUM
59 NEUES AUS DEM INSTITUT

 

Neu in der DISS Online-Bibliothek: Studie zu AfD-Landtagsreden in NRW

Bei den Wahlen zum NRW-Landtag im April 2017 zog die Partei „Alternative für Deutschland“ mit zunächst 16 Abgeordneten und 7,4% der Zweitstimmen in das Parlament ein. Die zu diesem Zeitpunkt bereits absehbare Entwicklung der AfD hin zu einer Partei mit personellen und inhaltlichen Bezügen zum Rechtsextremismus bildete dabei den Anlass, ihre Landtagsreden im Hinblick auf die Nutzung von Strategien der Herabsetzung zu untersuchen. Die Analyse hatte zum Ziel, die Mechanismen und die Funktionsweise dieser Herabsetzungsstrategien offen zu legen. Denn diese werden von den Abgeordneten der anderen Parteien nicht immer in all ihrer Tragweite wahrgenommenen. Daher sollte herausgestellt werden, welchen Effekt die von den AfD-Redner*innen verwendeten sprachlichen Bilder und Behauptungen haben und welche Absichten bestimmten Argumentationen und Falschbehauptungen zugrunde liegen. Weiterhin sollten die inhaltlich-ideologischen Positionen deutlich gemacht werden. Die Analysen stützen sich auf ein diskurs- und aussagenanalytisches Forschungsprojekt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung. Der Autor Jobst Paul hat sich bereit erklärt, seine Erkenntnisse für die weitere Analyse und Zusammenfassung der Ergebnisse zur Verfügung zu stellen. Gegenstand der Analyse waren Reden von Mitgliedern der AfD-Fraktion im Plenum im Zeitraum Juni 2017 bis Dezember 2019.

Parlamentarische Redebeiträge von Abgeordneten der Fraktion „Alternative für Deutschland“ (AfD)
Landtag Nordrhein-Westfalen – 17. Wahlperiode (2017 – 2022)
Halbzeitanalyse
1. Juni 2017 bis 31. Dezember 2019
Stand der Ausarbeitung: 16.12.2019
Autor: Paul Bey
Wissenschaftliche Beratung: Jobst Paul, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung

Bitte lesen Sie die hier verlinkte PDF-Datei.

DISS Jahreskolloquium am 18.11.2023

Kolloquium „Gesellschaftliche und politische Aspekte der Vielfachkrise“

Samstag, den 18.11.2023 von 9:00 – 19:00 Uhr in der Jugendherberge Duisburg Sportpark, Kruppstraße 9, 47055 Duisburg

Covid-Pandemie, Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Lieferkettenausfälle, Wirtschaftskrieg, Inflation, Umweltkatastrophen, Verschärfung der sozialen Ungleichheit, Armuts- und Flüchtlingselend, zunehmende Verrohung und Gewaltbereitschaft, Arbeits- und Konsumdruck als individuelle Auswirkungen, gefährliche geopolitische Konflikte um die Weltordnung usw. Wahrlich, unser Leben geht „finsteren Zeiten“ (Bertolt Brecht) entgegen. Krisen sind nicht mehr nur auf einzelne Bereiche beschränkt, sondern sie betreffen „die gesamte gesellschaftliche Ordnung“ (Nancy Fraser). So gibt es nicht nur eine ökonomische und ökologische, nicht nur eine politische Krise, „sondern all diese Phänomene laufen zusammen und verschärfen sich gegenseitig“ (Nancy Fraser). Ist es eine „Krise der Hegemonie“, ist es eine „organische Krise“, von der Antonio Gramsci gesprochen hat? Die immer schnellere Abfolge von Krisen – Vielfachkrise wird zur katastrophischen Krise (Alex Demiroviæ), epochale Krise mit systemischem Charakter (Nancy Fraser) – gibt Anlass, über politische, ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Krisenursachen sowie über gesellschaftliche und staatliche Reaktionen und Konsequenzen nachzudenken. Steuern wir auf einen polit-ökonomischen Paradigmenwechsel zu, der mehr statt weniger staatliche Eingriffe beinhaltet? Und international gesehen gilt es auch einen Zusammenhang herzustellen, der der Frage einer multi- versus unipolaren Weltordnung nachgeht. Der Krieg in der Ukraine und der sich verschärfende Konflikt zwischen dem ‚Westen‘, hier speziell den Vereinigten Staaten, und der Volksrepublik China sind dafür zentrale Stichworte. Es wird abschließend auch um die Frage gehen, welche Möglichkeiten für emanzipatorische und antikapitalistische Politik sich aus der Krisenanalyse ergeben.

Vorläufiger Ablaufplan

9.00-9.30 Helmut Kellershohn (DISS): Begrüßung und Einführung

9.30-10.45 Tino Heim (Leipzig): Klimakrise: Ökonomie und Ökologie im „Kapitalozän“

10.45-12.00 Christa Wichterich (Bonn): Krisen im Reproduktionsbereich

13.30-14.45 Sebastian Friedrich (Hamburg): Krise der ideologischen Reproduktion der Lohnarbeit

14.45-16.00 Janina Puder (Duisburg/Essen): Globalisierung, Überausbeutung, Migration

16.30-17.45 Uwe Hoering (Bonn): Ukrainekrieg, Verwerfungen in der Weltwirtschaft und die Rückkehr der Geopolitik

18.00-19.00 Abschlussdiskussion

Weitere Details, sowie die Anmeldeinformationen entnehmen Sie bitte der Einladung in der hier verlinkten PDF-Datei.

 

Ein anderes Duisburg

Ein sehr spannendes Projekt zur Duisburger Zeitgeschichte ist am Wochenende mit einer Website online gegangen: Ein anderes Duisburg.

Eine rassismuskritische Erinnerungskultur und die Migrationsgeschichte in Duisburg stehen im Mittelpunkt von „Ein Anderes Duisburg“. Mit historischen Dokumenten, Fotos und Videointerviews von Zeitzeug:innen archiviert die Webdokumentation sowohl eindringliche Migrations-, Flucht- und Rassismuserfahrungen als auch Widerstände und Selbstorganisierungen. In thematisch aufgebauten Episoden werden bisher ungehörte Geschichten sicht- und hörbar. Die Webdokumentation zeigt: Eine multidirektionale Erinnerungskultur im städtischen Gedächtnis ist auch Voraussetzung für den Aufbau einer solidarischen Stadt für Alle an Rhein und Ruhr.

In Episode 1 (weitere sollen folgen) geht es um den Brandanschlag in Wanheimerort in der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984, durch den sieben Menschen gestorben sind: Von Rassismus wurde nicht gesprochen!

Wir freuen uns, dass wir mit einigen Dokumenten aus dem DISS-Archiv zu dieser wichtigen Recherche beitragen konnten.

Am 26.8.2023 konnte endlich eine Gedenktafel am Haus des Brandes  enthüllt werden, die im öffentlichen Raum an die Ereignisse von 1984 erinnert.

Gedenktafel, Wanheimer Straße 301, enthüllt am 26.8.2023. Foto: M. Dietzsch

»Kriminalität wird ethnisiert«

nd, 25.7.2023, S. 4

Benno Nothardt über das »Feindbild junger muslimischer Mann« und sinnvolle Integrationsstrategien

• Interview: David Bieber

Vielfach hört man, wir hätten in unserer Gesellschaft ein Problem mit jungen muslimischen Männern. Sie widersprechen …

Unser Institut hat schon 2015 beobachtet, dass das Feindbild »junger muslimischer Mann« in den Medien eine wichtige Funktion für das Kippen von der Willkommenskultur in eine Notstandstimmung hatte. Besonders deutlich wurde das bei der Debatte über sexualisierte Übergriffe in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 in Köln. Um die Wirkung dieser Zuschreibung zu verstehen, hilft der Begriff Ethnisierung von Sexismus, den Margret Jäger schon vor mehr als 25 Jahren erarbeitete. Gemeint ist damit, dass patriarchales Verhalten oder sexualisierte Gewalt als ethnisches Merkmal beziehungsweise typisch muslimisches Verhalten konstruiert und zugeschrieben wird. In den zurückliegenden Jahren gewinnt die ähnlich strukturierte Ethnisierung von Kriminalität an Bedeutung, etwa in der Debatte über die Ausschreitungen der vergangenen Silvesternacht. Solche Zuschreibungen erklären nichts, sondern verorten Gewalt in einer Gruppe, die man somit ausgrenzen kann. Sie sind aber auch schmerzhaft für junge Männer, die aufgrund ihres Aussehens ständig befürchten müssen, als potenzielle Vergewaltiger oder Gewalttäter behandelt zu werden. Nicht junge muslimische Männer sind das Problem, sondern vielmehr, dass ihnen problematische Eigenschaften zugeschrieben werden, die es auch in anderen Teilen unserer Gesellschaft gibt.

Wie würde man es schaffen, diese jungen Männer besser zu integrieren und welche Fehler haben Staat und Behörden in Deutschland bisher gemacht?

Als Diskursanalytiker*innen können wir keine Integrationskonzepte erstellen oder anordnen. Aber wir können zeigen, wie ausgrenzende Zuschreibungen und aufgeheizte Debatten gerade die Menschen treffen, die sowieso schon unter Ausbeutung und Segregation im ungezügelten Kapitalismus leiden. Und wir können zeigen, wie problematisch es ist, wenn eben muslimische junge Männer nicht als Teil unserer Gesellschaft gesehen werden, also als Teil eines »Wir«, sondern per se als Delinquenten. Insofern ist es wichtig, mit Communitys und Personen direkt zu sprechen und nicht über sie, denn ihre Perspektive muss maßgeblich sein. In diese Richtung gehen Konzepte partizipativer Sozialarbeit, die ihr Gegenüber als politische Akteure ernst nehmen und sie vor allem auch darin bestärken, für ihre Rechte und Anliegen einzutreten.

Wie beurteilt Ihr Institut die mediale Berichterstattung über die sogenannten Silvester-unruhen oder aktuell über Schlägereien in Freibädern?

Ein Projektteam im DISS hat zumindest zu Silvester 2022/2023 eine kleine Medienuntersuchung gemacht. Dabei wurde deutlich, dass die Ereignisse hauptsächlich als Anlass für darüber hinausgehende politische Forderungen genommen wurden. In den Darstellungen von »Bild« bekommt man den Eindruck, es herrschten kriegsähnliche Zustände. Und »Bild« und »Frankfurter Allgemeine« glorifizierten angegriffene Polizei- und Rettungskräfte. Beide Medien ethnisieren Kriminalität und betonen eine Wertedifferenz zwischen einer angeblich kriminellen muslimischen Minderheit und einer vermeintlich unschuldigen Mehrheit der Gesellschaft. Als Konsequenz daraus werden in der »FAZ« schnellere oder härtere Strafen gefordert, während »Bild« die Abschiebung krimineller Migrant*innen fordert. Die Debatte in beiden Zeitungen war rassistisch aufgeheizt. Die »Taz« hingegen kritisiert diesen Rassismus und benennt in zwei Kommentaren auch unangemessenes Polizeiverhalten als mögliche Ursache für die Ereignisse. Trotzdem wird auch hier neben sozialen Maßnahmen vor allem ein restriktives Vorgehen seitens der Polizei und direkte Bestrafung gefordert. Dabei wird übersehen, dass dies häufig Auswirkungen auf Menschen hat, die als migrantisch wahrgenommen werden, etwa durch Racial Profiling.

Vor allem in konservativen Kreisen wird beklagt, sobald man unangenehme Wahrheiten anspreche, werde der Rassismusvorwurf erhoben – und als Totschlag-Argument genutzt. Wie sehen Sie das?

Es handelt sich dabei um einen Abwehrmechanismus: Kritik an rassistischen Strukturen wird umgedeutet als angebliches Sprechverbot, gegen das man sich dann wehrt. Außerdem wird unterstellt, die Debatte über die angeblich wahren Probleme solle so unterbunden werden. Doch das ergibt nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die wahren Probleme Migration und Islam sind und nicht etwa Rassismus, soziale Ungerechtigkeit oder patriarchale Strukturen.

Was sollten Redaktionen tun, um Gewalt in ihrer Berichterstattung nicht zu stark zu ethnisieren?

Es ist schon viel erreicht, wenn Journalist*innen eventuell auch ungewollte rassistische Effekte reflektieren. Wenn man an die Asyldebatte der 1990er Jahre und die Diskurse zum Brandanschlag in Solingen 1993 oder über die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen zurück-denkt, kann man sagen, dass die Sensibilität bei einem Teil der Journalist*innen deutlich gestiegen ist. Allerdings fällt bei der Silvesterdebatte auf, dass linke Medien zwar benennen, dass rassistische Strukturen ein zentrales Problem sind, dann aber doch restriktive Maßnahmen statt besserer sozialer und antirassistischer Konzepte fordern. Es lohnt sich auch, darauf zu achten, welche »Wir«- und »Fremd«-Gruppen in Zeitungstexten konstruiert werden. Ob die Grenze zwischen Christ*innen und Muslim*innen, rechtschaffenen Bürger*innen und Kriminellen oder Erwachsenen und delinquenten Jugendlichen gezogen wird: Es kommt in allen Fällen zur Konstruktion eines ausgrenzenden »Wir«. Das zu reflektieren ist aber nur die halbe Miete. Außerdem sollten Redaktionen möglichst plural besetzt sein, es sollte häufig Gastbeiträge und Reportagen geben, in denen auch Menschen zu Wort kommen, die von Ethnisierung betroffen sind.

Benno Nothardt engagiert sich ehrenamtlich im Arbeitskreis Migration des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Das vor 35 Jahren gegründete Institut forscht zu gesellschaftlich relevanten Themen wie Rechtsextremismus, Migration, Geschlechterdiskurse, Antisemitismus und Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja.


online veröffentlicht 24.7.2023: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174992.feindbild-muslime-kriminalitaet-wird-ethnisiert.html
zugleich in der Printausgabe des Neuen Deutschland (nd), 25.7.2023, S. 4