SINN UND UNSINN DER CORONA-WARN-APP
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Es ist derzeit unklar wann und sogar ob es einen wirksamen Impfstoff gegen das sich verändernde Corona-Virus Sars-CoV-2 geben wird. Nach aktuellem Forschungsstand ist (abhängig von der Schwere des Verlaufs der Krankheit Covid-19) nicht einmal eine andauernde Immunität bereits Infizierter gegeben. Es wurden zahlreiche Fälle von Corona-Infizierten registriert, die sich nach überstandener Krankheit erneut infiziert haben. Die Folgen der Krankheit für Herz, Lunge und Hirn können schwerwiegend sein – selbst bei vermeintlich leichter Erkrankung jüngerer „Nicht-Risiko-Patient*innen“.
Weltweit wird „bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes“ auf PCR- und (neuerdings) Antigen-Tests gesetzt um akute Infektionen zu erkennen. Viele Länder wählen zusätzlich Smartphone-Apps zur Kontaktnachverfolgung um ein individuelles Infektionsrisiko abzuschätzen und Infektionsketten nach Möglichkeit zu unterbrechen. Zusätzlich sollen Antikörpertests eine (zeitlich begrenzte) „Immunität“ als Unbedenklichkeitsnachweis bescheinigen. Dieser Text zeigt auf, wie (absehbar) wenig geeignet die derzeitige Nutzung dieser Techniken zur Bekämpfung der Pandemie ist. Es lässt sich eine Instrumentalisierung der Krise konstatieren – zur Durchsetzung einer umfassenden Herrschafts- und Kontrollstruktur, die über die Corona-Krise hinaus in einem „neuen Normal“ in Anwendung bleiben wird.
Die Corona-Warn-App
Ich verstehe die nun folgende Kritik an der Corona-Warn-App der Bundesregierung als Ergänzung und in Teilen als Aktualisierung zur bereits veröffentlichten Kritik des capulcu-Kollektivs [0].
Das Paradigma einer Kontaktnachverfolgung der (nach Möglichkeit) gesamten Bevölkerung ist unhinterfragt vom Gesundheitsministerium gesetzt worden. Debattiert wurden in der Öffentlichkeit lediglich Fragen des Datenschutzes und technische Details der Umsetzung. Apple und Google rollen mit ihren neuen Betriebssystemupgrades nun ein Fundament aus, welches auch zukünftig und für unbestimmte Anlässe eine Kontaktverfolgung per Smartphone und Bluetooth ermöglicht. Die Menge der Interessent*innen an einer solchen Kontaktverfolgung ist unüberschaubar groß: Gesundheitsämter, Repressionsorgane, aber auch Werbetreibende, Versicherungen, Datingportale und viele weitere. Wo ein Trog ist, da kommen die Schweine.
Fatal erscheint diesbezüglich das viel zu kurz greifende „Unbedenklichkeitsattest“ von „Datenschützern“ des CCC. Es ist zwar richtig, dass ein zentraler Zugriff auf die Kontaktdaten zur Zeit durch das Design der App unmöglich ist. Ein dezentraler Zugriff z.B. nach der Beschlagnahmung eines Smartphone ist in der öffentlichen Debatte kaum diskutiert: Bei derzeitigem Stand hat die App keinen verschlüsselten Container, in dem die Kontaktdaten und die verwendeten Schlüssel hinterlegt sind. Da Repressionsorgane grundsätzlich alle auffindbaren Smartphones beschlagnahmen, wäre es möglich, soziale Kontakte zumindest partiell zu rekonstruieren. Die Welle neuerlich verschärfter Polizeigesetze erlaubt diversen Behörden „Staatstrojaner“ einzusetzen, also Software unter der Kontrolle der jeweiligen Behörde auf dem trojanisierten Smartphone zu installieren und auszuführen. Das könnte die Behörde in die Lage versetzen, kontinuierlich Tagesschlüssel auszulesen zu können und damit einen Großteil der Kryptographie der App, die den Datenschutz sicherstellen soll, unwirksam zu machen. Erbeutet würde somit das was Informatiker*innen soziale Graphen nennen – also wer hat wann miteinander Kontakt gehabt. Diese Information wäre von anderer Qualität als die (bisherige) Erkenntnis, zwei Personen haben sich in der gleichen Funkzelle bzw. an einem Ort (ungefähr) gleicher GPS-Koordinaten aufgehalten.
Unbrauchbare Entfernungsabschätzung
Für die Ermittlung des Infektionsrisikos über die Corona-Warn-App werden Dauer und Nähe eines Kontakts zwischen zwei Smartphones in Bluetooth-Reichweite erfasst. Verschiedene Risiko-Konstellationen führen dazu, dass die beiden Smartphones sich in pseudonomisierten Listen merken, dass sie in Kontakt waren. Z.B. länger als 15 Minuten in weniger als 2 Meter Abstand zueinander. Da Smartphones keine Entfernungen messen können, versuchen die App-Programmierer*innen aus der gemessenen Signalstärke der empfangenen Bluetooth-Funksignale die Distanz zwischen den beiden beteiligten Smartphones zu erahnen. Das ist jedoch unzuverlässig, wie wir im Folgenden sehen werden.
Die Übertragung des Coronavirus im öffentlichen Nahverkehr wurde als eines der wichtigsten Szenarien für die digitale Kontaktverfolgung beworben. Forscher vom Trinity College in Dublin zeigten bereits im Juni 2020 [1], dass die Corona-Warn-App in Bussen und Bahnen nicht wie geplant funktioniert. Das Ergebnis der Studie ist vernichtend: Unter optimalen Bedingungen, in denen alle Passagiere die Corona-Warn-App aktiviert haben, würde kein einziger Kontakt registriert. Gemessen wurde mit fünf Android-Smartphones, die sich über 15 Minuten in einem Radius von weniger als zwei Metern befanden. Das entspricht den Vorgaben der deutschen Tracing-App.
Leith, Inhaber der Lehrstuhls für Computersysteme am Trinity College, bekräftigt: „Basierend auf unseren Messungen, ist die App in Straßenbahnen und Bussen nutzlos.“ Das Ministerium von Gesundheitsminister Jens Spahn stellt die Glaubwürdigkeit der Studie infrage und verweist stattdessen auf die Messungen des Fraunhofer Instituts, in denen „rund 80 Prozent der Begegnungen“ richtig erfasst worden seien. Hierbei verschweigt das Ministerium, dass die Tests am Fraunhofer Institut in einem großen offenen Raum durchgeführt wurden. Das Bahn-Szenario wurde dort lediglich „nachgestellt“. So lassen sich keine Reflexionen der hochfrequenten Bluetooth-Strahlung untersuchen, die gemäß der Studie die Hauptursache ist für die massiv gestörte Entfernungsabschätzung.
Die Studie macht ein grundsätzliches Problem deutlich, auf das zuvor bereits eine umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung vom Mai 2020 [2] hinwies: Der theoretisch eindeutige Zusammenhang zwischen gemessener Signalstärke des Bluetooth-Funkchips einerseits und der Distanz der miteinander funkenden Smartphones andererseits unterliegt in der Praxis so starken Schwankungen, dass eine aussagekräftige Entfernungsmessung nicht möglich scheint. Vier voneinander unabhängige Fehlerquellen sorgen in der Summe dafür, dass ein risikoreicher zwei Meter Abstand zwischen zwei Smartphoneträger*innen für die Corona-Warn-App als sichere bis zu 20-Meter-Distanz fehlinterpretiert werden kann.
(1) Eine genaue Abstandsmessung erfordert eine optimale (parallele) Ausrichtung der Bluetooth-Antennen der beiden Smartphones. Abhängig vom Winkel der beiden Smartphones zueinander ist das empfangene Signal schwächer. Die schwächere Signalstärke wird als größere Distanz fehlinterpretiert. Dieser Effekt ist der kleinste der vier.
(2) Nimmt die Strahlung nicht (ausschließlich) den direkten Pfad zwischen Sender und Empfänger (z.B. über Reflexionen an metallischen Oberflächen wie im Fall von Bussen und Bahnen) können sich diese verschiedenen Pfade abschwächend überlagern und ebenfalls zu einer Überschätzung des Abstands führen. Dieser Effekt ist doppelt so groß wie Effekt (1).
(3) Der menschliche Körper dämpft elektromagnetische Strahlung. Befindet sich eine oder beide Smartphoneträger*innen (in der direkten Verbindungsline) zwischen den beteiligten Geräten, schätzt die App die Distanz als zu groß ein. Dieser Effekt ist dreimal so stark wie (1).
(4) Smartphones unterschiedlicher Hersteller haben unterschiedliche Bluetooth-Funkchips (mit unterschiedlicher Sendeleistung) verbaut. Selbst zwei „baugleiche“ Smartphones senden nicht in gleicher Signalstärke, denn die Bluetooth-Technologie nutzt aus Kostengründen keine geeichte Sende- und Empfangselektronik. Diese Ungenauigkeit ist im Vergleich dreimal so stark wie (1).
Fazit: Die Bluetooth-Technologie ist für die Abstandsmessung weder gedacht noch geeignet.
Verbreitung der Corona-Warn-App
Circa 19 Millionen Menschen in Deutschland haben die Corona-Warn-App runtergeladen (Stand Mitte Oktober). Wie viele sie aktiv nutzen, lässt sich nur erahnen. Es wäre sehr überraschend, wenn mehr als 80% derer, die sie in der Welle der „Gemeinsam gegen Corona“-Mobilisierung heruntergeladen haben, die App dauerhaft nutzen (Umzug auf neues Smartphone, Absprung wegen der zahlreichen Funktionsstörungen, wegen der immer noch nicht flächendeckend anonym funktionierenden Infiziert-Meldung, wegen Akku-Problemen, wegen der Notwendigkeit, die Standortermittlung zuzulassen, etc). In der Schweiz wird der Anteil der aktiven Nutzer*innen auf nur 60% der Downloads geschätzt.
Nehmen wir dennoch an, alle 19 Mio. Menschen, also 23 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nutzten die App aktiv, hätten Bluetooth permanent aktiviert und aktualisierten für die korrekte Funktionsweise einmal am Tag ihre Kontaktlisten, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen mit installierter Corona-Warn-App aufeinandertreffen bei gerade mal 5 Prozent aller Begegnungen. Das heißt in 95 Prozent aller Kontakte kann keine nachträgliche Kontaktrekonstruktion stattfinden, schlicht weil nicht beide die App installiert haben. Es drückt eine gewisse Hilflosigkeit der Bundesregierung gegenüber der Pandemie aus, wenn die App als der zentrale Baustein zur Virus-Bekämpfung dargestellt wird, dieser Baustein in 95% aller Fälle aber gar nicht zur Anwendung kommen kann.
Nach anfänglich raschem Anstieg der Download-Zahlen verzeichnet das RKI in letzter Zeit nur noch geringen Zuwachs. In Deutschland haben 57,7 der 83,2 Mio. Einwohner ein Smartphone, 20% von diesen jedoch ein zu altes. Das bedeutet: nur 55 Prozent der Bevölkerung kommt überhaupt für die Corona-Warn-App in Frage. Würden alle, die könnten, die Corona-Warn-App herunterladen, aktivieren und „pflegen“, dann läge die Wahrscheinlichkeit, dass die App ein Kontaktereignis zwischen zwei in Deutschland lebenden Personen nachvollziehbar macht, immer noch lediglich bei 30 Prozent. Das heißt: selbst eine Verpflichtung zur Nutzung der Corona-Warn-App würde weniger als ein Drittel der potenziell infektiösen Kontakte registrieren können. Ein beschämendes Resultat für das RKI, die Politik und eine kritische Öffentlichkeit, die sich technikgläubig an einen bereits (konzeptionell) abgeknickten Strohhalm klammert.
Hat sich die App dennoch bewährt?
Bisher wurden gemäß RKI 10.000 Infiziert-Meldungen über die Corona-Warn-App registriert (Stand Mitte Oktober). Das sind gerade einmal die Anzahl an Neuinfektionen eines Tages(!) in der nun aufkommenden zweiten Welle. Also, eine magere Ausbeute für derzeit vier Monate App-Geschichte. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums würden zudem nur sechs von zehn positiv getesteten Nutzer*innen ihr Ergebnis in der App melden. Das kann an der immer noch nicht überall anonymen (telefonischen) Meldeprozedur liegen. In Österreich fällt das Zwischenurteil mit einer Million Downloads und nur 412 Infektionsmeldungen ähnlich bescheiden aus. Auch in Ländern wie Frankreich und Italien bleibt der Nutzen (erwartungsgemäß) weit hinter den „Erwartungen „ zurück.
So ist es verständlich, wenn Mitarbeiter*innen der Gesundheitsämter mitteilen, dass sich ihre Arbeit „durch die App in keiner Weise vereinfacht hat“. Der Beitrag der App zur Bewältigung des Infektionsgeschehens ist nicht messbar. Hier wird (bewusst) eine Überwachungsstruktur mit massivem Missbrauch-Potenzial ausgerollt ohne auch nur die Aussicht auf einen positiven Beitrag zu haben. In einer Meta-Studie werteten Braithwaite et. al über 100 Studien zur Effizienz verschiedener Corona-Warn-Apps weltweit aus: „Es wurden keine empirischen Belege für die Wirksamkeit der automatisierten Ermittlung von Kontaktpersonen (in Bezug auf die ermittelten Kontakte oder die Reduzierung der Übertragung) gefunden.“ [4]
Fazit: Die Corona-Warn-App ist kein geeignetes Instrument, die manuelle Kontaktrekonstruktion der Gesundheitsämter zu automatisieren bzw. spürbar zu erleichtern.
Zweifelhaftes Vertrauen in Google und Apple
Die Bundesregierung versuchte eine zentrale Lösung durchzusetzen, scheiterte aber zum einen an der öffentlichen Debatte und zum anderen an den Smartphone-Betriebssystemherstellern Apple und Google. Letztere hatten eine dezentrale Lösung erzwungen, die ihnen allein (exklusiven) Zugriff auf die Tracing-Daten ermöglicht: Gesundheitsämter und Ermittlungsbehörden müssten die Daten bei Apple oder Google anfordern, um einen Kenntnisstand analog einer zentralen Lösung zu erlangen. Mittlerweile ist die Kontaktnachverfolgung als Anwendung ins Betriebssystem der beiden Hersteller gewandert, die der Anwender auf Wunsch bewusst ausschalten muss. Die befürchtete „Normalisierung“ dieser Funktionalität ist also eingetreten – sie wird „nach Corona“ nicht wieder entfernt werden.
Für eine korrekte Funktionsweise der Corona-Warn-App muss bei einem Smartphone mit dem Google-Betriebssystem Android die Standortermittlung aktiviert sein. Das erlaubt anderen Apps auf dem Smartphone die Standortdaten auszuwerten und aufzuzeichnen. Für Android gilt die für das Tracing notwendige Bluetooth-Technologie als Standortdienst, deshalb müssen diese Dienste aktiviert werden; GPS gehört ebenfalls dazu. Die Ortskoordinaten werden zwar nicht von der Corona-Warn-App genutzt, so das Robert-Koch-Institut, aber Google zeichnet die Standortdaten mit Zeitstempel auf. Nutzer*innen bleibt bislang nichts anderes übrig, als Google zu vertrauen. Das hat sich bislang noch nie als gute Idee erwiesen: Eine (per Ausnahmezustand im Infektionsschutzgesetz begründete) Kooperation von Google mit den Gesundheitsämtern könnte aus dem anonymen Tracing nachträglich ein personalisiertes Tracking machen. Die Daten liegen aufgezeichnet vor.
Sicherheitsforscher*innen der Universität Marburg hatten zudem bereits im Juni nachgewiesen, dass ein Angriff auf das Google-Apple-Protokoll der Corona-Warn-App sogar Dritten das Erstellen von Bewegungsprofilen ermöglicht [5].
“Download und Nutzung der App sind vollkommen freiwillig.”
Diese Zusicherung der Bundesregierung war absehbar hohl. Auch wenn niemand per Gesetz zur Installation der Corona-Warn-App gezwungen wird, ist das eingetreten, was ich in einem Gedankenspiel Anfang April befürchtet habe. Privatwirtschaftliche Unternehmen und Dienstleister knüpfen ihre Dienstleistung oder ihr Arbeitsangebot an die Voraussetzung, die Corona-Warn-App installiert und aktiviert zu haben. Gesellschaftliche Teilhabe wird damit faktisch und unfreiwillig beschnitten.
Ich habe Kenntnis darüber erlangt, dass mehrere Arbeitgeber in der Altenpflege und in der Gastronomie von ihren Mitarbeiter*innen verlangen, die App auf dem Smartphone aktiviert zu haben. Ein Campingplatz im Landkreis Aurich lässt nur noch Camper mit Corona-Warn-App aufs Gelände [3]. Auf Nachfrage hat das drei Gründe: zum einen, erhofft sich der Betreiber tatsächlich mehr Sicherheit für sich und seine Mitarbeiter*innen, zum anderen wirbt er mit dieser „Hygiene-Maßnahme“ als besonders verantwortungsbewusst. Der dritte Grund ist bemerkenswert: Durch die Maßnahme will er „in erster Linie verhindern, dass Urlauber auf seinen Campingplatz kommen, die das Thema Corona nicht ernst nehmen oder sogar leugnen.“ Hier wird eine Art Gesinnungsprüfung vorgenommen und die Bandbreite des Diskurses von „Corona fürchten“ bis leugnen auf die Bereitschaft zur Installation der App reduziert.
Solutionismus – Technische Lösung eines Ersatzproblems
In der Technologiekritik kursiert seit einigen Jahren der Begriff des „Solutionismus“. Er beschreibt die selbstbewusste „Lösungsorientierung“ einer technozentrierten Kaste von Ingenieur*innen und Programmierer*innen, die jegliche (auch soziale) Probleme für technisch beschreib- und lösbar hält. Solutionismus sucht nach Lösungen über (neue) Technologien, die vielfach an den Problemen vorbeigehen. Das eigentliche Problem wird wie im Fall der Corona-Warn-App zwar nicht gelöst, aber für lösbar erklärt – wenn nur genügend Leute mitmachen .
Die Solutionist*in löst zu ihrer eigenen Legitimation als „Problemlöser*in“ technologisch fassbare, leichter zu lösende Ersatzprobleme, die sich die Technokrat*in gerne zunutze macht. Gemeinsam suggerieren Solutionist*in und Technokrat*in die Kontrollierbarkeit selbst von (denormalisierenden) Krisenphänomenen wie eine Pandemie oder menschengemachter Klimawandel.
Der Solutionismus steht dabei vielmehr für die Vertauschung von Problem und Lösung: Statt ein Problem mit einer technischen Erfindung zu lösen, preist die Solutionist*in technische Erfindungen als Lösung für Probleme an, von denen man nicht weiß, nicht wissen will, oder verschleiern will, welcher Art und Komplexität sie sind. Der Solutionismus gibt vor, mit seinen „pragmatischen“ Problemlösungsstrategien „post-ideologsch“ zu sein. Tatsächlich ist die Radikalität, mit der Technokrat*innen den Solutionismus zum einzig „denkbaren“ Ansatz für gesellschaftliche Probleme erheben, alles andere als unideologisch. Man muss die konsequente Art, lediglich digitale Pflaster auf die eklatantesten Wunden eines krisenhaften Kapitalismus zu kleben, sehr wohl als Ideologie, – nämlich als Ideologie der „Politik-Vermeidung“ – begreifen. Mit der machtvollen Neusetzung gesellschaftlicher Strukturen im Zuge der Renormalisierung (nach der Pandemie) etablieren Solutionismus und Technokratie eine „neue Normalität“ und machen ihrerseits wirkungsvoll (eine andere) Politik. Die neu geschaffenen digitalen (Lösungs-)Welten sind dabei Orte der Spaltung und Individualisierung, nicht der gegenseitigen Hilfe und Solidarität.
Guido Arnold – Mitarbeiter im DISS
30.10.2020
-> siehe auch: Kritisches Statement zur geplanten Corona-App (capulcu, April 2020)
[0] Die „freiwillige“ Corona-Warn-App in der Broschüre DIVERGE, capulcu 2020
https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2020/06/DIVERGE-small.pdf
[1] https://www.scss.tcd.ie/Doug.Leith/pubs/luas.pdf
[2] https://medium.com/personaldata-io/inferring-distance-from-bluetooth-signal-strength-a-deep-dive-fe7badc2bb6d
[3] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Krummhoern-Campingplatz-macht-Corona-App-zur-Pflicht,coronaapp154.html
[4] https://www.thelancet.com/journals/landig/article/PIIS2589-7500(20)30184-9/
[5] https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/forscher-entdecken-sicherheitsluecke-bei-corona-apps-16812694.html