Zwanglos ausgegrenzt

Impfdebatte in Frankreich und Deutschland

Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) machte am 24. Juli das Fass einer offenen Ungleichbehandlung auf: Bei hohem Infektionsgeschehen trotz Testkonzepten müssten Ungeimpfte aus seiner Sicht wieder ihre Kontakte reduzieren. »Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbesuche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist«[1]. Siegessicher nimmt er den erhofften Ausgang der nun angestoßenen Debatte vorweg: »Geimpfte werden definitiv mehr Freiheiten haben als Ungeimpfte«

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) nimmt den Ball am 27. Juli auf und erinnert Gastronom*innen an die Möglichkeit, nur für Geimpfte zu öffnen. »Die Vertragsfreiheit ermöglicht privaten Anbietern wie Gastronomen eine weitgehend freie Gestaltung ihrer Angebote«, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe [2]. »Wer seinen Gästen einen besonderen Schutz anbieten will, kann deshalb auch Angebote machen, die sich nur an Geimpfte richten.« Zugleich sprach sie sich abermals gegen eine Impfpflicht aus. Ein gleichermaßen verlogener wie geschickter Schachzug in der Debatte um die sogenannte Impfpflicht.

Noch im Frühjahr dieses Jahres betonte die Bundesregierung, man werde gesellschaftsspaltende Angebote von Dienstleister*innen nur an Geimpfte „nicht zulassen“. Diese mediale „Androhung“ blieb jedoch ohne Konsequenzen und entlarvte sich schon damals als PR-Schutzbehauptung, denn der Gesetzgeber unternahm rein gar nichts, solche Einschränkungen der Kundschaft explizit zu untersagen.

Jetzt fordert das höchste politische Amt in der Justiz sogar dazu auf, die Vertragsfreiheit derart zu überdehnen, um der mittlerweile impfmüden Bevölkerung einen ausreichend großen Impfanreiz zu verpassen, ohne selbigen „verordnen“ zu müssen. Also ohne den unpopulären Schritt eines gesetzlichen Ausschlusses von Nicht-Geimpften gehen zu müssen.

Die Bundesregierung nimmt weiterhin für sich in Anspruch, der Bevölkerung ein rein freiwilliges Impfangebot zu machen. Niemand werde zur Impfung gezwungen, auch nicht durch die Hintertür. Der Begriff der „Freiwilligkeit“ wird mit der Aufforderung Lambrechts jedoch maximal ausgehöhlt: Wenn nämlich sämtliche Dienstleistungsbereiche des Alltagslebens (mit Ausnahme der allgemeinen Berufsausübung, kommunaler Verwaltungsangelegenheiten und des Arztbesuches) einer offensiv entsolidarisierenden Auslegung der Vertragsfreiheit unterworfen werden. Der hemmungslose Aufruf dazu, ist ein bedenklich kurzsichtiger Kurzschluss zur Anhebung der Impfquote gegen den Widerstand von Impfgegner*innen, denn er vergisst rein praktisch sämtliche Jugendlichen und solche, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen wollen/ können. Diese müssten eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Und er vergisst insbesondere die spaltende Wirkung einer solchen Maßnahme, die Querdenker*innen und Impfgegner*innen in die Hände spielt.

Ausschluss statt Verordnung

Der französische Rückgriff auf eine gesetzlich angeordnete „Verpflichtung“ zur Impfung ist die etwas altbackene Form eines autoritär verordnenden Staates, der sich immer noch auf den Ausnahmezustand beruft. In Frankreich werden seit heute (9.8.21) Getestete den Geimpften nicht mehr ohne weiteres gleichgestellt und sind von vielen Bereichen des alltäglichen Lebens ausgeschlossen. Konkret: Beim Betreten von Restaurants und Cafés, Zügen, Flugzeugen, Fernreisebussen, Gesundheitseinrichtungen, Einkaufszentren, Messen und Jahrmärkten muss ein Gesundheitspass vorgezeigt werden. Wer nicht geimpft ist, muss für den tagesaktuellen Eintrag in eben diesen Pass 30 Euro für einen Test selbst bezahlen. Da insbesondere in ärmeren Bevölkerungsschichten der Anteil Geimpfter besonders niedrig ist, kommt dies einem Ausschluss gleich und verschärft die soziale Ungleichheit weiter.

Die moderne Form des staatlich lenkenden Bevölkerungsmanagements gibt hingegen lediglich den Rahmen für eine nunmehr zulässige, ja sogar explizit erwünschte Ungleichbehandlung vor und lässt sich besser in das „neue Normal“ eines neu etablierten Gerechtigkeitsempfindens „jede/r wie sie es verdient“ integrieren. Statt einen beklagbaren Malus für Ungeimpfte zieht Frau Lambrecht einen weithin sichtbaren Bonus für Geimpfte vor. Nicht-Geimpfte müssten dann eben auf Theater- oder Restaurantbesuche verzichten. Der ur-menschliche soziale Druck, nicht zu vereinsamen, soll hier eine erhöhte Impfbereitschaft per „nudge“ (Anstubser) herbeiführen.

Allerdings wird hier die Grenze zwischen belohnendem Anreiz und Bevormundung eindeutig überschritten: Impfprämien (entweder vom Arbeitgeber, oder vom Staat) sind völlig legitim und qualitativ nichts anderes als das 1954 eingeführte Kindergeld gegen eine überalternde Gesellschaft, oder verschenktes Bauland gegen die Landflucht. Aber das Gewähren zuvor entzogener Grundrechte nur für Geimpfte als Anreiz für Ungeimpfte ist weder juristisch noch gesellschaftlich (zusammen-) zu halten. Was gäbe es für einen Eklat in diesem Land, wenn aus Gründen eines akuten Klima-Notstandes zunächst allen die Fahrerlaubnis entzogen würde, und nach einer Phase des immobilen Innehaltens nur noch denen zurückgegeben würde, die ein ausreichendes Bemühen um Klimaneutralität nachweisen konnten oder aber aus triftigen Gründen einer Ausnahmegenehmigung bedürften.

Noch im Frühjahr wurden Getestete den Geimpften und Genesenen gleichgestellt. Auch damals war bekannt, dass Schnelltests unzuverlässig sind, und Infektionen nur zu etwa 60 Prozent und mit mehrtägigem Verzug gegenüber dem Zeitpunkt der Infektion erkennen. Die Politik propagierte jedoch die Akzeptanz solcher Schnelltest als „wesentlicher Baustein im Kampf gegen Corona“ um die Folgen der schweren logistischen Fehler bei der Impfstoff-Beschaffung und-Verteilung (sowie bei der Impfstoffproduktion) zu überbrücken.

Jetzt, wo genügend Impfstoff vorhanden ist, sollen die gleichermaßen unzuverlässigen Schnelltests nicht mehr als Alternative gelten. Das ist nicht nur nicht vermittelbar, sondern insbesondere vor dem Hintergrund der damals noch nicht vorhandenen Delta- und Lambda-Mutationen des Coronavirus falsch: Die Delta-Variante des Virus können auch Geimpfte (eingeschränkt) weiterverbreiten. Bei der Lambda-Variante schützen derzeitige Impfungen nicht einmal vor einer schweren Erkrankung – so die aktuelle Einschätzung von Virolog*innen. Beides hebt die Bedeutung häufiger Tests trotz deren unveränderter Unzulänglichkeit an – auch bei Geimpften!

So sehr wir uns eine höhere (dringend benötigte) Impfquote wünschen; ein gesellschaftlicher Ausschluss für Ungeimpfte als Impfanreiz, ist nicht hinnehmbar und er ist das falscheste Signal, was die Politik zum Vertrauensgewinn senden kann. Ohne eben dieses Vertrauen wird die Gesellschaft keine Herdenimmunität erlangen können. Je mehr Zeit des Misstrauens vergeht, desto größer die Gefahr von neuen Mutanten und desto geringer das Vertrauen in weitere notwendige Impfungen bzw. zukünftige Covid19-Medikationen.

Dies wäre neben dem Festhalten an den Patenten für Covid-19-Impfstoffe (siehe Artikel „Impfprivilegien – Egoismus, der krank macht“ im DISS Journal #41) der zweite folgenschwere Irrweg der Bundesregierung zur Eindämmung des Virus‘. Beide tragen maßgeblich zu einer (viele unnötige Tote produzierenden) Verschärfung der Corona-Krise bei.

Eine Rückkehr zu einer Normalität eines Leben mit dem Virus ist nur kollektiv denkbar. Das schließt die Möglichkeit der Testung als Teilhabe für Ungeimpfte als Alternative zum Impfen mit ein. Alle anderen Vorschläge müssen als Vorstöße zur Etablierung einer neuen Normalität verstanden werden – eine Normalität, die zwar restriktive Verordnungen so weit wie möglich vermeidet, jedoch über dezentrale Bonus-Malus-Systeme den gleichen normierenden Ausschluss produziert.

[1] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/helge-braun-im-bild-interview-geimpfte-werden-mehr-freiheiten-haben-77179202.bild.html

[2] https://www.morgenpost.de/vermischtes/article232893347/corona-impfung-impfpflicht-lambrecht.html

Guido Arnold, 9. August 2021

Kommentar zum AfD-„Sozialparteitag“

 

Der Leitantrag der Bundesprogrammkommission zum „Sozialparteitag“ der AfD. Ein Kommentar

Helmut Kellershohn

 

1. Die Sozialpolitik der AfD ist, wie bereits am Grundsatzprogramm zu erkennen, im Kern Familienpolitik. Diese wiederum steht unter dem Primat der Steigerung der Geburtenrate als Antwort auf die sogenannte demografische Krise. Sozial- bzw. Familienpolitik mit einer solchen bevölkerungspolitischen Funktion soll laut AfD dazu dienen, die Sozialsysteme zu erhalten, die „deutsche Kultur“ zu bewahren und den „Fortbestand des deutschen Volkes“ zu garantieren.

2. Familienpolitik ist ein verbindendes Element zwischen den ideologischen Strömungen der AfD: die Ordoliberalen sehen die Familie als gemeinschaftsstiftenden „Gegenhalt“ gegen die kalten Mechanismen der Marktwirtschaft; die Christlich-Konservativen betrachten die Familie als biblisch oder zivilreligiös begründete Institution; und für die Völkischen ist die Familie Garant des Ethnos als Abstammungs- und Zeugungsgemeinschaft.

3. Die Familie ist darüber hinaus der Kontrapunkt gegen die von der AfD ausgemachten Feinde und Feindbilder:

  • Gender Mainstreaming und Feminismus (‚untergräbt‘ die heteronormative bürgerliche Kernfamilie)
  • (unerwünschte) Zuwanderung (bedroht die ethnokulturelle Identität)
  • Kulturmarxismus und liberale Dekadenz

4. Im vorliegenden Leitantrag der Bundesprogrammkommission wird auch die Rentenpolitik zentral mit einer pronatalistischen Familienpolitik in Verbindung gebracht. Die Gegensätze zwischen der Position des „solidarischen Patriotismus“ (AfD Thüringen), die die umlagefinanzierte Rente auf Kosten der privaten Vorsorge ausbauen will, und der neoliberalen Position, die eine hauptsächlich kapitalgedeckte Finanzierung der Rente anstrebt, sollen in dem Leitantrag durch einen gesichtswahrenden Kompromiss, der den Fokus auf die Familienpolitik legt, abgeflacht werden.1 Das impliziert, dass die angestrebte „Reform der Rentenversicherung“ in wichtigen Punkten vage bzw. offen bleibt (z.B. Renten-Regelalter, Rentenniveau, steuerfinanzierte Grundrente, Beitragsbemessungsgrenze).

Hervorzuheben sind vier Punkte:

a) Die bisherige gemischte Finanzierung des Rentensystems (Umlage und private Vorsorge) wird beibehalten.

b) Die Schaffung von Arbeitsanreizen (unter dem Vorwand der Bekämpfung der Altersarmut) durch eine Abstandsregelung zwischen Arbeitnehmern mit geringem Einkommen und vorwiegend Arbeitslosen beim Rentenbezug.

c) Die Verbreiterung der Renten-Beitragsbasis durch die Einbeziehung von Beamten mit nicht-hoheitlichen Aufgaben, Selbstständigen (soweit sie nicht eine private Altersvorsorge nachweisen) und Politikern.

d) Die finanzielle Förderung und Stabilisierung der Familie zu Ungunsten von Kinderlosen durch eine steuerfinanzierte Beitragserstattung zur Rentenversicherung pro Kind (sog. Lastengerechtigkeit), ergänzt um eine völkische Komponente bei der privaten Vorsorge (Anlegung von staatlich finanzierten Spardepots pro Kind nur für deutsche Staatsbürger bis zum 18. Lebensjahr).

5. Neben der Propagierung einer pronatalistischen Familienpolitik wird in einem eingeschobenen Kapitel des Leitantrages die „Bedeutung von Kultur, Bildung und Forschung für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme“ (9f.) hervorgehoben. Beklagt wird zum einen das „Abschmelzen deutscher Tugenden“, die zum Kern des deutschen Kulturerbes gerechnet werden, und – mit Blick auf das hohe Produktivitätsniveau der „großen Industriekonzerne und vielen Klein- und mittelständischen Unternehmen“ – die Defizite der Bildungspolitik v.a. in den rot-grün regierten Ländern in Westdeutschland. Die ostdeutsche Bildungslandschaft wird dagegen lobend hervorgehoben, was darauf zurückgeführt wird, dass die ostdeutschen Länder nicht „durch die Zuwanderung von wenig gebildeten und gering qualifizierten Migranten seit den 60er Jahren“ betroffen gewesen seien. „Der überwiegende Teil dieser Migranten [der folgenden Generation] wird im Bildungssystem scheitern, keine qualifizierten Tätigkeiten übernehmen können und dauerhaft auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein. Deren Kosten, die von der ‚schon länger hier lebenden‘ Bevölkerung getragen werden sollen, sind eine Hypothek für die gesamte staatliche Entwicklung als Bildungs- und Technologiestandort.“

Die Defizite der Bildungspolitik, ablesbar an „internationalen Leistungsvergleichen“, beträfen auch den Hochschul- und Forschungsbereich, der „dringend auf hochqualifiziertes Personal angewiesen, das nur zu einem kleinen Teil aus dem Ausland angeworben werden“ könne.

Schlussfolgerung: „Statt Investitionen in die Asyl- und Migrationsindustrie brauchen wir massive Investititionen in Kultur, Bildung und Forschung, wenn wir die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme langfristig erhalten wollen und eine markante kulturelle Schwerpunktsetzung.“

An das Bildungssystem werden folgende Anforderungen („Kernaufgaben“) und Erwartungen gerichtet:

a) „Weitergabe von Wissen, Kompetenz und Kultur in politisch neutraler und äußerlich differenzierter Umgebung“ (s. dreigliedriges Schulsystem)

b) Entpolitisierung der Schulen bedeutet: „Konkret müssen das familienzerstörende Gendermainstreaming, die Frühsexualisierung und Projekte wie ‚Schule mit Courage, Schule gegen Rassismus‘ oder ‚Demokratie leben‘ sofort beendet werden.“

c) Bildungsexperimente sind zu beenden (Einheitsschule, Inklusion), um „junge[n] Mensche[n] zu der für sie besten Bildung“ zu verhelfen.

 

Fazit: Sozialpolitik = Familienpolitik = Bevölkerungspolitik

Die Institution, um die die AfD sich bemüht, ist die Familie im Sinne der klassischen bürgerlichen Kernfamilie. Ihre Sozialpolitik ist um den Erhalt dieser Institution und ihrer Funktionen für die Reproduktion von „Volk und Kultur“ zentriert. Dafür wird eine pronatalistische Familienpolitik als unabdingbar erachtet, nicht zuletzt in Hinblick auf die Rentenpolitik. Über die konkrete Ausgestaltung der Rentenpolitik (Finanzierung etc.) gibt es Differenzen zwischen den Lagern der AfD, die aber im Leitantrag zurückgestellt werden. Konsens ist sicherlich, dass die Familien gefördert, die Geburtenrate gesteigert und Migranten sozialpolitisch diskriminiert bzw. von bestimmten Leistungen ausgeschlossen werden sollen.

Es geht aber nicht nur um die quantitative Erweiterung des „Volkskörpers“ (quantitative Bevölkerungspolitik). Dies wird besonders in dem erwähnten Abschnitt zu „Kultur, Bildung und Forschung“ deutlich. Dort wird nämlich die ‚qualitative‘ Seite angesprochen: Nicht nur mehr Kinder sollen geboren werden, sondern solche, die die „Anforderungen einer modernen Arbeitswelt“ erfüllen können. Sie sollen Leistungsbereitschaft zeigen und leistungsfähig sein sowie das „deutsche Kulturerbe“ fortführen können. Eine bildungspolitische Gegenreform sowie die Einschränkung der Migration (fällt deutlicher aus im Europawahlprogramm, in dem von „Remigration“ die Rede ist) sollen daher die Sozial-/Familienpolitik flankieren.

 

 

 

 

1 In der Jungen Freiheit heißt es dazu: „Das eigentliche Thema des Parteitages […] hat allem Anschein nach sein Aufreger-Potential weitgehend eingebüßt. Das mag auch damit zusammenhängen, daß der Leitantrag, ohnehin ein Kompromiß zwischen der eher sozialstaatlich und der eher wirtschaftsliberal ausgerichteten Strömung, schon eine Weile vorliegt; […] ‚Bei dem Thema ist die Kuh vom Eis, da ist nichts Revolutionäres zu erwarten‘, meint ein erfahrener AfD-Politiker. Soll heißen: Weder in der einen noch der anderen Richtung würden sich maximale Forderungen durchsetzen. Spannender wird indes, wie sich die Delegierten zur Idee eines Staatsbürgergeldes stellen. Diese Form eines bedingten Grundeinkommens, verknüpft mit einer negativen Einkommenssteuer, hatte […] Rene Springer ausgearbeitet.“ (JF 49/2020, S. 4)

Flüchtlingskinder : Verloren, Verraten, Vergessen!?

30 Jahre UN- Kinderrechtskonvention:
Flüchtlingskinder : Verloren, Verraten, Vergessen!?

 

Von Heiko Kauffmann

Die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 durch die Vereinten Nationen wurde von der Politik als „Meilenstein“ in der Entwicklung des Völkerrechts, ihre Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag im April 1992 als „Sternstunde“ für die Menschenrechte gefeiert. Erstmal wurden Kindern und Jugendlichen grundlegende und umfassende Rechte auf Schutz, Grundversorgung sowie Mitbestimmung und Beteiligung garantiert. Zu den zentralen Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention gehören das absolute Diskriminierungsverbot (Art. 2) und der Vorrang des ‚Kindeswohls’ (Art.3).

Art. 22 verpflichtet die Vertragsstaaten, Flüchtlingsschutz suchenden Kindern die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten und sie in jugendhilferechtlicher Hinsicht wie einheimische (deutsche) Kinder zu behandeln. Die damalige Bundesregierung hatte jedoch – vor dem Hintergrund einer beispiellos aufgeheizten Asyldebatte 1991/92 im Vorfeld der Änderung des Artikels 16 GG – bei der Ratifizierung eine Vorbehaltsklausel hinterlegt, die das Asyl- und Ausländerrecht über die Konvention stellte. Fortan bestimmten über fast zwei Jahrzehnte – bis zur Rücknahme der Vorbehalte im Sommer 2010 – nicht das ‚Kindeswohl’ und das Prinzip des Optimums an Förderung und Entfaltung den rechtlichen und behördlichen Umgang Deutschlands mit Flüchtlingskindern, sondern: eingeschränkte Rechte, reduzierte Leistungen, ein unsicherer Aufenthaltsstatus, mangelnde Förderung und verweigerte Bildungsmöglichkeiten.

In der kurzen Phase der ‚Willkommenskultur’ 2015 durchgeführte Änderungen des Aufenthalts – und Asylgesetzes zur Verfahrensfähigkeit (entgegen der bisherigen Vorschrift „erst“ mit Vollendung des 18. Lebensjahres) und umfangreiche Erweiterungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ließen kurzfristig auf eine grundlegende Verbesserung der Lage minderjähriger Geflüchteter hoffen. Doch schon ab Herbst 2015 – vor dem Hintergrund flüchtlingsfeindlicher und rassistischer Vorfälle und eines gesellschaftlich atmosphärischen Rechtsrucks in Teilen der Bevölkerung – versäumte es die Bundesregierung, sich deutlich auf die Seite der Verfechter einer offenen und solidarischen Gesellschaft zu stellen, die – wie die Mitgliedsorganisationen der NATIONAL COALITION, darunter PRO ASYL, terre des hommes und viele andere – sich seit vielen Jahren für die umfassende Umsetzung der UN-Kinderrechtskonventikon in Deutschland einsetzen. Stattdessen hat die Große Koalition mit einem ‚repressiven Rollback’ an Gesetzesverschärfungen (Asylpakete I und II, „Lex Ankerzentren“ u.a., bis hin zum ‚Geordnete-Rückkehr-Gesetz’, besser: ‚Hau-ab-Gesetz’) „Ängste“ und Ressentiments sogenannter ‚besorgter Bürger’ bedient und Populisten und der organisierten Rechten damit noch Auftrieb gegeben.

Insgesamt können einzelne Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechte und Bedürfnisse dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe von Kindern und Jugendlichen in Deutschland noch immer massiv vernachlässigt werden: nach wie vor leben viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in aufenthaltsrechtlich unsicherer Situation; beim Zugang zu Schutz und Hilfe und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte nach der UN-KRK sind erhebliche rechtliche und tatsächliche Verschärfungen zu verzeichnen; noch immer gibt es gravierende Defizite bei behördlich angeordneten willkürlichen Altersfiktionen, auch die Anwendung medizinisch fragwürdiger und zweifelhafter Methoden ist nach wie vor nicht ausgeschlossen; geflüchtete Kinder können weiterhin in Abschiebungshaft kommen; Unterbringung und beschleunigte Verfahren in sog. Ankerzentren gefährden ihre ungehinderte Entwicklung und Integration; die Ablehnungen von Familienzusammenführungen für Kinder und Jugendliche durch deutsche Behörden stellt eine schwerwiegende Verletzung der Artikel 3, 9 und 10 der UN – Kinderrechtskonvention dar; und nach wie vor werden unbegleitete Minderjährige an der Grenze abgewiesen oder zurückgeschoben. – Auch 30 Jahre nach der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention besteht ein großer Handlungsbedarf für ihre umfassende Umsetzung in Deutschland.

Eine noch größere Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Menschenrechte für Kinder nach der UN – Kinderrechtskonvention besteht in der oft tödlichen Abwehr und systematischen Ignoranz der EU – Regierungen gegenüber den Schicksalen Tausender Flüchtlingskinder am Rande und an den Außengrenzen Europas.

In der Hoffnung auf ein besseres und friedliches Leben machten sich seit Beginn dieses Jahrhunderts Hunderttausende von Flüchtlingskindern mit ihren Eltern, mit Verwandten oder allein auf sich gestellt auf den Weg nach Europa. Sie flohen vor Krieg, Gewalt, Terror und Armut. Tausende kamen bei dem Versuch, hier ein Leben in Sicherheit führen zu können, ums Leben.

Sie ertranken im Mittelmeer, verdursteten in der Wüste, erstickten in Lastwagen und Containern, erfroren beim Überqueren von Gebirgspässen oder eisigen Grenzflüssen im Winter; sie starben in den Triebwerken von Flugzeugen oder an den Strapazen der Flucht; sie starben in Gefangenschaft, in den grausamsten Lagern Libyens; sie wurden Opfer von Ausbeutung, Folter, Misshandlung und Krankheiten. Tausende Kinder leben am Rande Europas in überfüllten Flüchtlingslagern unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Schutz und Perspektive.

Diese Kinder sind die Flüchtlingskinder Europas, für die europäische Staaten und Regierungen gemeinsam Verantwortung tragen: sie sind die unschuldigsten Opfer unverantwortlicher „Deals“ mit nationalistischen Autokraten und der Zusammenarbeit europäischer Regierungen mit menschenrechtlich bedenklichen Staaten; sie sind die Opfer der Unterstützung von warlords und kriminellen Milizen durch die EU; sie sind Opfer einer verfehlten deutschen und europäischen Flüchtlings- und Kinderschutzpolitik. Diese Politik straft den Anspruch der EU als einer „Wertegemeinschaft“ – Europa als “Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – Lügen. Die europäische Kinderflüchtlingsschutz-Politik stellt sich heute als grenzenlos-brutales System der Be- und Verhinderung der Inanspruchnahme des Asylrechts und von Schutz und Hilfe dar. Im Umgang mit der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie zivilisiert sie wirklich sind:

Solange noch Kinder auf der Suche nach Schutz im Mittelmeer und auf dem Weg nach Europa sterben oder in überfüllten Lagern verelenden und dahin vegetieren, solange bleiben der Humanitätsanspruch Deutschlands und Europas und ihre vielbeschworenen Werte „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ gänzlich in Frage gestellt.

Kinder – und Menschenrechtsorganisationen, die demokratischen Zivilgesellschaften Deutschlands und Europas sind gefordert: damit die „Sternstunde“ der Kinderrechte nicht als „Sternschnuppe“ verglüht.

 

CSU-Generalsekretär – noch schlimmer – Singalesen, nicht Senegalesen

Glosse

Noch schlimmer – Singalesen, nicht Senegalesen: Andreas Scheuer’s rassistische Possen1 und der deutsche Journalismus

von Jobst Paul

 

Wir wissen nun schon einiges recht genau: Nach Andreas Scheuers herabsetzenden Äußerungen zu Asylbewerbern beim „Regensburger Presseclub“ am 15. September 2016 veröffentlichte die Mittelbayerische Zeitung am 16. September 2016 eine verkürzte und leicht veränderte Fassung der Scheuer’schen Äußerungen2:

Das Schlimmste ist ein fußballspielender ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre in Deutschland — als Wirtschaftsflüchtling — den kriegen wir nie wieder los“, sagt Scheuer und spricht sich für eine geordnete und gesteuerte Zuwanderung nach dem Vorbild Kanadas aus.

Bildschirmfoto br.de
Bildschirmfoto br.de

Während sich die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling von der Universität Berkeley noch am 21. September auf diesen Wortlaut bezog und Scheuer das Spiel mit faschistischen Sprachbildern und Assoziationen bescheinigte3, platzte dem Regensburger Generalvikar Michael Fuchs schon am 17. September der Kragen4. Auf Facebook verurteilte er Scheuer’s Formulierungen und lud ihn zur Flüchtlingsarbeit vor Ort ein.

Erst jetzt wurde der Bayerische Rundfunk aufmerksam5 und verbreitete, wie alle Nachrichten-Agenturen, den Wortlaut der Mittelbayerischen Zeitung weiter. Erst danach besorgte sich die BR den Originalmitschnitt, erkannte die textliche Abweichung, korrigierte das Zitat und machte am 19. September 2016 den Original-Mitschnitt6 öffentlich zugänglich. Am 21. September 2016 stützte sich die deutsche Presse danach auf folgende Transkription des Wortlauts:

Weil wenn er mal über einen langen Zeitraum in den Verfahren herinnen ist, entschuldigen Sie die Sprache, das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist, weil den wirst Du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern er ist Wirtschaftsflüchtling. Aber wir haben halt eine Gesellschaft, wo’s Du den Vereinsvorsitzenden, den Pfarrer, schlimmstenfalls den Landtagsabgeordneten, den Bundestagsabgeordneten, und wie sie alle heißen, findest, der sagt: „Alle müssen durch dieses strenge Verfahren, aber der, der hat sich so gut integriert.“

Offenbar haben sich die Textlaut-Beauftragten aber erneut verhört – Scheuer hatte in Regensburg nicht von ‚Senegalesen‘, sondern hatte ausgerechnet ‚Singalesen‘, also Flüchtlinge aus Sri Lanka, als fußballspielende, ministrierende Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet.

***

Auf Sri Lanka tobte seit 1983 über Jahrzehnte einer der schlimmsten Bürgerkriege der Welt zwischen einer buddhistisch-singalesischen Mehrheit und einer hinduistischen Minderheit (Tamilen). Viele Zehntausende von Menschen wurden getötet, Hunderttausende wurden zu Flüchtlingen. In der Zeit des Bürgerkriegs (noch bis 2011) wurden von allen Seiten schwerste Kriegsverbrechen verübt.7 Noch bis in die jüngste Zeit lehnte es die sri-lankische Regierung ab, die bis 2011 andauernden Verletzungen der Menschenrechte aufzuarbeiten.

Nach Angaben einer Oldenburger Länderdaten-Plattform8 wurden im Jahr 2015 von ca. 350 Asylanträgen von Menschen aus Sri Lanka ca. 130 Antragsteller als Asylberechtigte anerkannt.

Von den 21 Millionen Einwohnern sind etwa 1,1 Mill. Christen, davon 270 000 Protestanten.9 Die Dominanz von Christen im Bildungswesen und in der Verwaltung führte zu einer Gefährdung der christlichen Minderheit, die zwischen die Linien des Kampfgeschehens geriet.

Noch einmal Andreas Scheuer zu katholischen Singalesen:

das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Singalese, der über drei Jahre da ist, weil den wirst Du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern er ist Wirtschaftsflüchtling …

 

 

1 Vgl. Jobst Paul, „Wir können nicht die ganze Welt retten.“ Der Generalsekretär der CSU, Andreas Scheuer, zu Migration und Flucht im Juli 2015. DISS-Journal 30 (2015)

Der Schäuble-Schwiegersohn und der Grieche

Mit Recht sorgen herabsetzende Äußerungen, insbesondere aus den Reihen verantwortlicher Politiker oder hoher Beamter, für breite öffentliche Empörung. Dagegen können kritische Analysen solcher Äußerungen zu nachhaltigeren Einsichten über den Tag hinaus führen. Im Zusammenhang der Griechenland-Krise des Jahres 2015 und der nachfolgenden, immer noch andauernden Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderer kam es (und kommt es weiterhin) zu menschenverachtenden Aussagen. Im Folgenden dokumentieren wir die Analyse, die Jobst Paul im Juli 2015 zu einer Äußerung von Thomas Strobl, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, formulierte.

Thomas Strobl (CDU-Vize) am 13.7.2015:
Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“1

Eine Analyse von Jobst Paul

Am 13. Juli 2015 kommentierte Thomas Strobl, „CDU-Vize und Schäuble-Schwiegersohn“, den Stand der Griechenland-Krise vor Kameras und Journalisten mit dem Satz „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt“ – als „ob er am Stammtisch säße beim dritten Glas Heilbronner Trollinger Rosé“, meinte Oliver Das Gupta in der SZ2. Strobl habe damit auf dem Höhepunkt von Ängsten in ganz Europa, Deutschland wolle anderen Staaten seinen Willen aufzwingen und den Kontinent beherrschen, genau diese Ängste geschürt.

Für scharfe Kritik hat zunächst die Formulierung „der Grieche“ gesorgt3. Es gibt allerdings mehrere Schwerpunkte für die Analyse. Zunächst aber erinnert der Singular „der Grieche“ tatsächlich an alte herabsetzende Muster, wie zum Beispiel „der Russe“, „der Chinese“ und ähnliches. Betrachten wir zunächst, wie die Herabsetzung in diesem Fall funktioniert.

Die Reduktion eines Kollektivs von Individuen auf einen Singular zielt auf die Charakterisierung des Kollektivs, bzw. seines Charakters und Verhaltens, als unveränderlich, als sozusagen für alle ‚gleich programmiert‘. Was aber als Charakter und Verhalten unveränderlich ist, ist einem individuellen menschlichen Willen entzogen. Ein solches Wesen kann nichts lernen und es kann von nichts abgehalten werden. Insofern ist es ein dummes, seinen Impulsen ausgeliefertes Wesen.

Dummheit“ kann ‚nur‘ (wie im Fall „das Schaf“, „die Kuh“, „der Ostfriese“) Passivität, d.h. eine gewisse Harmlosigkeit signalisieren. Es kann aber auch, je nach Kontext, andeuten, dass das Wesen automatisch (‚blind‘) seinen instinktiven, egoistischen Trieben folgt und von daher auf Angriff und gewaltsame Inbesitznahme gebürstet ist. Dann aber, wie offenbar im Fall des obigen Zitats, appelliert ein Kollektiv-Singular wie “der Grieche“ an den Impuls zur Abwehr und Verteidigung.

Das Zitat hat aber zwei weitere Schwerpunkte. Betrachten wir zunächst die möglichen Valenzen von “nerven“. Man kann aus Formulierungen wie: ‚die Kinder nerven‘, ‚die Arbeitskollegen nerven‘, ‚der Pressluftbohrer nervt‘ eine ständige Belästigung extrapolieren, die an Schmerz grenzt oder Schmerz, vor allem auch psychischen Schmerz beinhaltet, da man der Situation ausgeliefert ist.

Hier wiederholen sich zwei bereits genannte Aspekte. Einerseits scheint die Belästigung unveränderlich und damit die Urheber nicht ansprechbar zu sein. Andererseits führt die Belästigung (auf der Seite des ‚Opfers‘) zweifellos zum Bedürfnis nach Abwehr und Verteidigung. Doch steht in dieser Konstellation (‚die Kinder nerven‘) noch merklich die Bereitschaft des Erduldens und Tolerierens im Vordergrund.

Dies verändert sich in der Perfekt-Form ‚hat (lang genug) genervt‘. Hier soll es zweifellos zur Gegenhandlung kommen oder es ist bereits zur Gegenhandlung gekommen, wobei die Ursache der Belästigung – sozusagen schlagartig – beseitigt wird oder werden soll. Damit aber verschiebt sich die Gesamtkonstellation: Nun sind es nicht mehr Kinder, Arbeitskollegen oder ein Pressluftbohrer, die nerven oder genervt haben. Nun ist es vielleicht ein entzündeter Zahn, der den Körper angreift und kurzerhand gezogen wurde, weil er „lang genug genervt hat“, eine Mücke, die nun nicht mehr nervt, weil sie abgeklatscht wurde, oder ein unbotmäßiger Schüler, der ‚von der Schule fliegt‘ und insofern ‚verschwindet‘.

Strobl partizipiert damit zunächst am stereotypen Erziehungsdiskurs, der im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise prägend war (‚die Griechen müssen ihre Hausaufgaben machen‘) und dem es insbesondere um ‚klare Regeln‘ mit angekündigten ‚Konsequenzen‘ geht, in Abgrenzung zu einem ‚libertären‘ (schwachen) Stil, der es zulässt, dass die Quälgeister ‚einem auf der Nase herumtanzen‘.4

Doch geht Strobls Assoziation definitiv weiter als der Vorstellungsgehalt der Zähmung und Domestizierung des ‚wilden Kinds‘, das am Ende ‚in den Stiefel gebracht wird‘. Denn offenbar ist der Fall hoffnungslos – das Kind lässt sich wohl nicht zähmen.

Damit allerdings nimmt der Erziehungsdiskurs Strobls, ganz entsprechend der Logik dehumanisierender Rhetorik, eine dramatische Wendung, weg von Methoden der schwarzen Erziehung hin zu einem Vernichtungsszenario: Der kleine Quälgeist, der einem ganz Großen zusetzen will/wollte, der freche David, der einen Goliath herausfordert(e), erhält die (tödliche) Quittung. Entscheidend wird der Aspekt der Beseitigung, nicht nur der Belästigung, sondern des Quälgeistes selbst. Dies verrät Strobls Vorstellung eines binär, d.h. zwischen totaler Macht und totaler Machtlosigkeit organisierten Machtgefälles zwischen dem ganz Großen (als vermeintlichem Opfer) und dem ‚Quälgeist‘.

Offen ist lediglich, ob Strobl mit der Perfektform (hat … genervt) zum kurzen gewaltsamen Schlag gegen den ‚kleinen frechen‘ Aggressor aufruft oder ob er Vollzug melden möchte. Allgemein unterstreicht Strobl die Heftigkeit und Unmittelbarkeit des ‚Schlags‘ durch die Einfügung eines ‚jetzt‘ (hat jetzt lang genug genervt). Die geringfügige schwäbische Dialektfärbung (lang genug statt lange genug) bindet die Haltung des ‚kurzen Prozesses‘ – stark genug für die Wahrnehmung – zudem an ein ‚gesundes Volksempfinden‘.

In der Presse wurde übrigens gut verstanden, dass Strobl eine Vernichtungsphantasie formuliert hatte:

Und dann kommt dieser Strobl daher und sagt mit Blick auf das Land, das die Deutschen vor nur etwas mehr als 70 Jahren überfallen und grausam beherrscht hatten: ‚Der Grieche hat lang genug genervt.‘“5

2 Ebd.

4 Strobl verknüpft damit das Griechenland-Thema subkutan mit den Links/Rechts-‚Schlachten‘ im Erziehungsdiskurs in verschiedenen deutschen Bundesländern.

CSU: 60 Millionen Flüchtlinge stehen an Bayerns Grenzen

Eine Analyse von Jobst Paul.

Andreas Scheuer (Generalsekretär der CSU):

„An den Grenzen stehen 60 Millionen Flüchtlinge. Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? Wir können nicht die ganze Welt retten.“

Dies äußerte Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, im Rahmen eines Gesprächs mit der Passauer Neuen Presse, das am 20. Juli 2015 veröffentlicht wurde.1

Scheuer griff dabei auf Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR2 vom Juni 2015 zurück, wonach sich Ende 2014 „weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht“ befanden. Betroffen waren/sind zumeist Menschen in Bürgerkriegsregionen und in Staaten in Auflösung. Daher waren von diesen 60 Millionen im Jahr 2014 38,2 Millionen Menschen „innerhalb ihres eigenen Landes“ auf der Flucht und davon wiederum 11 Millionen Menschen auf der Flucht „in ein angrenzendes Nachbarland“.3

Von daher war die UNHCR-Angabe „weltweit“ als Hinweis auf eine statistische Summe zu verstehen, in der unterschiedlichste humanitäre Katastrophen auf den Punkt kommen und für die der Westen – wie man hinzufügen darf – einen großen Teil der Verantwortung trägt. Aus der UNHCR-Mitteilung war aber nicht ein Szenario herauslesbar, in dem sich all diese Menschen auf der Flucht nach Europa (und in die USA) befänden.

Doch begnügte sich Andreas Scheuer am 20. Juli 2015 nicht damit, die UNHCR-Angabe allein in diesem Sinn zu fälschen und die schockierende Nachricht als rhetorisches Spielmaterial zu verwenden. Er beließ es auch nicht dabei, der bayerischen Öffentlichkeit in der Form einer ‚Mauerschau‘ mitzuteilen, dass sich diese ‚Vorhut‘ (also 60 Millionen Menschen) schon „an den Grenzen“ (Deutschlands, bzw. Bayerns) versammelt hätte. Vielmehr deutete er tendenziell an, dass sich hinter ihr bereits „die ganze Welt“, also die Weltbevölkerung, in Warteposition aufgestellt habe.

Bevor man die Frage beantworten kann, auf welche Handlungsanweisungen Scheuer mit dieser Zuspitzung bei seinem Publikum zusteuert, sollte man betrachten, wie die Zuspitzung selbst strukturiert ist, um auf diesem Weg zu erfahren, welche Denk- und Handlungsmuster Scheuer beim Publikum abrief. Wie verändert sich zum Beispiel die ‚Charakterisierung‘ von Flüchtlingen und globaler Fluchtbewegungen, wenn die millionenfachen menschlichen Tragödien, wie sie das UNHCR beschreibt, in eine uniforme Bewegung von „60 Millionen Menschen“ auf Europa zu und schließlich zu einer Bewegung der ‚ganzen Welt‘ in Richtung der deutschen (bayerischen) Grenzen umgedeutet werden?

Offenbar führt die Pauschalisierung dazu, dass konkrete Fluchtursachen (Krieg, Gewalt, regionale Bürgerkriege aufgrund der westlichen Interventionskriege der vergangenen Jahrzehnte, Zerstörung sozialer und ökonomischer Strukturen) aus dem Blickfeld gedrängt werden. In der Tat müssen global wirksame Fluchtgründe wegfallen, wenn doch ein einzelner Fleck (Deutschland / Bayern) davon völlig unberührt bleiben und sogar zur rettenden Oase für die „ganze Welt“ werden kann.

Entsprechend sorgt Scheuers Bild eines wandernden Kollektivs der „60 Millionen Flüchtlinge“ (und danach des Kollektivs der „ganzen Welt“) für die Einebnung alles dessen, was menschlich individuell ist und über rein körperliche Überlebensbedürfnisse hinausgeht. Stattdessen reduziert Scheuers Bild der „Massen“ Menschen auf ‚pure‘ Überlebensbedürfnisse und auf ein davon bestimmtes Flucht- oder ‚Wanderungs’verhalten, schreibt den „Massen“ also den uniformen Status menschlich reduzierter Wesen zu.

Dann aber haben wir es offenbar entsprechend der Scheuer’schen Logik und was Deutschland / Bayern einerseits und „die ganze Welt“ andererseits angeht, mit zwei Existenzformen zu tun:

Während Deutschland / Bayern über existenzielle ‚Lebensmittel‘ weit über den eigenen Bedarf hinaus verfügt, also in ‚humaner‘, zivilisatorischer Weise Vorräte angelegt hat, hat „die ganze Welt“ offenbar (in der nicht-zivilisatorischen Weise der ‚Wilden‘) keine Vorräte angelegt und möchte sich deshalb diese existenziellen ‚Lebensmittel‘ in Deutschland / Bayern holen.

Seit jeher arbeiten rassistische, aber auch antisemitische Stereotype mit dem Motiv des ‚Herumwanderns‘, um Minderheiten eine ‚zivilisatorische‘ Fähigkeit (die Vorratshaltung, den Verzicht auf unmittelbaren Genuss) abzusprechen und zu unterstellen, dass sie ‚auf Kosten anderer‘ leben wollen. Entsprechend evoziert Scheuers Äußerung die Vorstellung, dass die Flüchtlingsströme der Welt potenziell auf Deutschland / Bayern gerichtete Raubzüge sind, gegen die harte Vorkehrungen zu treffen wären.

Scheuers Frage Wie sollen wir dieser Massen Herr werden? scheint diesen Aspekt inhaltlich zunächst aufzugreifen: Der naturhaften ‚Ströme‘ könnte man wohl nur mit äußerster Gewalt und Brutalität „Herr werden“, entweder, indem man sie „an den Grenzen“ blockiert oder aber im Land einer massiven Repression unterwirft. Dies entspräche wohl einem völkisch-rechtspopulistischen Drehbuch. Die Frageform Scheuers realisiert allerdings einen Bruch im martialischen Gestus. Sie deutet eher auf die Ratlosigkeit, wie man einer großen Aufgabe gewachsen sein soll, die man nicht abweisen kann.

Das Bild der „Massen“ an den Grenzen zeigt einen ähnlichen Bruch. Dort gibt es offenbar gar nicht die naturhaften ‚Ströme‘, die Deutschland überfluten wollen: Vielmehr haben die „Massen“ (d.h. „60 Millionen Flüchtlinge“) an den deutschen (bayerischen) Grenzen unversehens Halt gemacht. Sie stehen dort geduldig und warten auf Einlass, anerkennen also die Autorität des rettenden deutschen Gemeinwesens.

Scheuers Diktum verharrt also in dieser Unentschiedenheit zwischen martialischem Gestus und einer ‚gewissen‘ humanitären Verpflichtung: Wenn Deutschland / Bayern zwar nicht ‚die ganze Welt‘ ins Land lassen kann, so werden sich angesichts des „an den Grenzen“ aufgebauten Szenarios die „Massen“ nicht gänzlich abweisen lassen. In eine politische Ankündigung umgemünzt, könnte dies eine taktisch hinhaltende, dosierte Öffnung der Grenzen bedeuten und eine Behandlung der hereingelassenen Flüchtlinge nach humanitärem Mindeststandard.

Von daher kann nun die Funktion des zugespitzten Angstszenarios eingeschätzt werden, das Scheuer im Juli 2015 mit Hilfe einer Fälschung vor seiner politischen Anhängerschaft aufbaute. Offenbar wollte er einer rechten Klientel in ihrem politischen Selbstverständnis, insbesondere in ihrer rassistischen Perspektive auf Flüchtlinge entgegenkommen, um sie so zu bewegen, eine begrenzte Zuwanderung von Flüchtlingen (gewaltfrei) zu dulden.4 Dies entspräche dem Versuch, rechte Konkurrenz mit dem Versprechen zu ‚befrieden‘, am staatlichen Gewaltmonopol und an der politischen Macht der CSU zu partizipieren.

Abgesehen davon, dass solche Rückzugssignale faktisch zu einem Machtzuwachs rechts von der CSU führen müssen, könnte die CSU auch deshalb an Macht einbüßen, weil ihr Angebot ‚leer‘ ist: Sie hat gar nicht die Macht, die Zuwanderung restriktiv zu begrenzen und ihr autoritaristisch „Herr“ zu werden, oder gar eine bloße Minimalversorgung der Flüchtlinge (sozusagen nach ungarischem Modell) durchzusetzen.

Dies zeigte sich eklatant am 5. September 2015, als die deutsche Regierung (mit Beteiligung von CSU-Ministern) kurzfristig der Einreise von 8000 in Ungarn festgehaltener Flüchtlinge zustimmte, während sich der bayrische CSU-Innenminister Joachim Herrmann als ahnungslos – und ohnmächtig – gab und die Berliner Entscheidung als „völlig falsches Signal innerhalb Europas“ verurteilte. 5

1 Scheuer zur Asylpolitik: „Können nicht die ganze Welt retten“. In: Passauer Neue Presse (Lokalteil) vom 20.07.2015 [http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1749952_Scheuer-zur-Asylpolitik-Koennen-nicht-die-ganze-Welt-retten.html]

2 Vgl. World at War. UNHCR Global Trends 2014. Forced Displacement 2014. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html

3 In Deutschland wurden 2014 ca. 33.310 Personen als Flüchtlinge anerkannt, 4,0 Prozent erhielten einen Schutzstatus, und 1,6 Prozent Abschiebungsschutz. Im ersten Halbjahr 2015 lag die Anerkennungsquote (bei 180.000 Asylanträgen) bei etwa 37 %. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.html?nn=1366068

4 Nach massiver politischer und medialer Kritik nahm der CSU-Generalsekretär die UNHCR-Angabe am 30. Juli 2015 noch einmal auf. In einem Pressegespräch mit dem Oberpfalznet (unter http://m.oberpfalznetz.de/zeitung/454/4675558/) gab er sie nunmehr korrekt wieder („Es sind weltweit 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs“).

5 Angesichts der dramatischen Ereignisse am 5. September 2015 forderte Scheuer erneut, der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland müsse begrenzt werden. „So kann es nicht weitergehen.“ http://www.tagesspiegel.de/politik/newsblog-zu-fluechtlingen-csu-sauer-auf-die-kanzlerin-linke-geben-usa-schuld-an-krise/12282848.html

NPD-Verbot: staatsfundamentalistische Verfahrenshindernisse

Von Martin Dietzsch

Nach längerer Pause rückt das Verbotsverfahren gegen die NPD wieder einmal in die öffentliche Aufmerksamkeit. Seit dem Antrag des Bundesrats vom Dezember 2013 hatte man kaum noch etwas zum Thema gehört. Nun meldete sich das Bundesverfassungsgericht zu Wort mit einem „Hinweisbeschluss im NPD-Verbotsverfahren“ vom 19.3.2015.

Es geht wieder einmal um die unsägliche V-Leute-Praxis der Geheimdienste. Das Gericht gibt sich nicht zufrieden mit den Testaten der Innenminister, in den Führungsgremien der NPD befänden sich keine V-Leute mehr. Schon diese Testate waren 2013 nur mit Mühe zusammengetragen worden. Jetzt fordert das Gericht – wenn ich die Ausführungen richtige verstehe – die vollständige Offenlegung der V-Leute-Praxis. Das Schreiben schließt mit der Forderung, der Antragsteller solle „insbesondere zur Frage der Quellenfreiheit des Parteiprogramms Stellung nehmen“. Es fordert also Beweise dafür, dass das NPD-Parteiprogramm nicht von V-Leuten verfasst oder beeinflusst wurde.

Diese Forderungen wären nur zu erfüllen, wenn man die Geheimdienste dazu zwingt, sich in die Karten schauen zu lassen. Doch selbst die zahlreichen Enthüllungen im Zusammenhang mit dem NSU-Skandal haben nicht zu einem Umdenken geführt.

Titelseite der DISS Studie V-Leute bei der NPD
DISS Studie „V-Leute bei der NPD“ (2002)

In Deutschland existiert eine Form des Fundamentalismus, die nicht in das Schema einer Extremismustheorie passt. So wie beim religiösen Fundamentalismus die jeweiligen heiligen Bücher über den weltlichen Gesetzen stehen, vertritt diese weitverbreitete weltliche Form des Fundamentalismus das Axiom: Die Nationale Sicherheit steht über der Politik und über dem Grundgesetz. Bei der Debatte über V-Leute geht es nicht um Quellenschutz, sondern um Verteidigung und Ausbau der Privilegien und der Sonderstellung der Geheimdienste.

Eine neue legale und unverbietbare NSDAP ist im Lichte dieser Form des Fundamentalismus weniger schlimm als eine wirksame demokratische Kontrolle der Sicherheitsapparate.

Aber das schreibe ich ja nicht zum ersten mal. „NPD-Verbot: staatsfundamentalistische Verfahrenshindernisse“ weiterlesen

Diskurspiraten bei den Duisburger Piraten?

Von Martin Dietzsch

Das Blog der Duisburger Piratenpartei hat am 19.6.2014 den Beitrag „Duisburger Konsens – Eine Klarstellung“ veröffentlicht. In ihm versucht der Piraten-Kreisverband seine Ablehnung der Erklärung des Duisburger Stadtrats „Duisburger Konsens gegen Rechts: Wir alle sind Duisburg!“ noch einmal zu begründen. Der Blogbeitrag beruft sich dabei auf einen Vortrag, den ich am 28.4.2014 bei einer Veranstaltung des Landesintegrationsrats im Ratssaal gehalten habe. Inhalt und Intention meines Vortrages stützen aber in keiner Weise die vom Pressesprecher der Duisburger Piratenpartei vertretene Position.

Nicht die Duisburgerinnen und Duisburger aus Rumänien und Bulgarien sind in Duisburg das „Problem“, sondern der Rassismus in beträchtlichen Teilen der Bevölkerung. Ich plädierte dafür, diesem Rassismus offensiv entgegenzuwirken, statt ihn weiter zu verharmlosen. Die Presseerklärung der Duisburger Piraten scheint mir eher in die Richtung zu gehen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und zu verschlimmern.

Der „Duisburger Konsens gegen Rechts“ ist meines Erachtens ein begrüßenswerter erster kleiner Schritt in die richtige Richtung. Es wäre gut, wenn er nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt.

Zur Erinnerung und Klarstellung hier die Schlusspassage aus meinem Vortrag vom 28. April:

„Abschließend ein paar Worte zum Thema Gegenstrategien. Die Duisburger Stadtverwaltung trat einmal mit dem sehr begrüßenswerten Anspruch an, Integration zu fördern, statt zu diskriminieren und Verdrängung zu praktizieren. Leider ist sind diesen Worten bisher nur wenig Taten gefolgt. Man sollte die Verantwortlichen immer wieder an ihr Versprechen erinnern.

Der Protest gegen Rechts allein greift zu kurz. Es muss auch dem Rassismus und Antiziganismus innerhalb von großen Teilen der Duisburger Bevölkerung entgegengewirkt werden. Die Empathie mit den Neubürgern muss gefördert werden. Die vielen Duisburger Bürger, die in diesem Bereich bereits in Eigeninitiative tätig sind, benötigen dringend moralische und finanzielle Unterstützung. Langfristiges Ziel sollte es sein, Duisburg zu einer gelungenen Ankunftsstadt zu machen. Davon hätten alle Bewohner dieser Stadt etwas. Und Duisburg könnte endlich einmal ein Vorbild für andere Städte werden.“

P.S.:

Vergl. auch die Distanzierung der Jungen Piraten NRW von der Duisburger Presseerklärung und die Twitter-Meldung von Britta Söntgerath, der Ratsfrau der Piraten:

„Britta Söntgerath @Kapetanio 17. Juni
@twena ja deshalb habe ich auch zugestimmt, wie auch meine Fraktion + alle anderen, außer: AfD, proNRW und NPD. Jetzt weiß man wo AfD steht“

Die Scharfmacher

Dieser Beitrag von Prof. Dr. Thomas Kunz erschien zuerst im MiGAZIN. Der Nachdruck auf DISSkursiv geschieht mit freundlicher Genehmigung der Verfassers. Er ist Professor am Fachbereich „Soziale Arbeit und Gesundheit“ der Fachhochschule Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Migration und Soziale Arbeit, Konstruktion und Analyse gesellschaftlicher Fremdheitsbilder, Sicherheitsdiskurs, Rassismusforschung, kritische Analyse von Integrationspolitik und -steuerung.

Trauerbekundungen zu Lampedusa sind kein Sinneswandel, sondern Doppelmoral

Das Flüchtlingsdrama vor Lampedusa mit mehr als 230 Todesopfern hat die unmittelbaren Konsequenzen des fortschreitenden Ausbaus der Festung Europa und die Kritik hieran in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt. Wäre der Anlass nicht so schrecklich, wäre man geneigt zu sagen „endlich“. Denn: Gestorben wird seit langem, zahlreich und täglich an Europas Außengrenzen. Für viele Flüchtlinge endet der Traum von Europa tödlich und noch bevor sie ihren Fuß auf europäischen Boden setzen können.

Was verschwiegen wird: letztlich wird genau das in Kauf genommen. Denn dies ist die Konsequenz einer Politik, die ein harmonisiertes europäisches Asyl- und Abschottungsrecht durchsetzte. Einem Asylrecht, welches von Anfang an als Verschärfung gedacht war und das zugleich den in der Mitte Europas gelegenen EU-Mitgliedern, allen voran der Bundesrepublik, einen sie umgebenden Puffer von Mitgliedsstaaten verschaffte, die sich von nun an mit vermehrten Zuwanderungsversuchen konfrontiert und alleine gelassen sahen. Zuwanderung und deren Kontrolle wurde an die südlichen EU-Außengrenzen verschoben.

Das sogenannte Dublin-2-Abkommen regelt, dass Asylanträge in dem Mitgliedstaat zu stellen und zu bearbeiten sind, in welchem Flüchtlinge erstmals europäischen Boden betreten. Dies bewirkt de facto, dass ein Großteil der Zuwandernden im Mittelmeerraum eben nur in Spanien, Italien und Griechenland Asylanträge stellen können. Sofern sie es lebend bis dorthin schaffen.

Die Toten im Mittelmeer sind unmittelbare Folge dieser auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene durchgesetzten Verschärfungen. Sie sind Folge einer europäischen Außengrenzpolitik, die auf Abschottung, massive paramilitärische Aufrüstung und Überwachung setzt. Seit Jahren, seit Jahrzehnten ersticken (in Containern) und ertrinken (beim Untergang seeuntüchtiger Boote) Menschen an Europas Außengrenzen, beim Versuch, den Folgen der Globalisierung oder den Kriegen in ihren Heimatländern zu entkommen. Unbestätigten Zahlen zu folge müssen es mittlerweile über 20.000 sein. Und die, die es dennoch schaffen, vegetieren unter unwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern.

Die europäische Abschottungspolitik, die immer auch Abschreckungspolitik sein soll, ist, zynisch betrachtet, also ein Erfolgsmodell. Die Verantwortlichen für diese Politik haben ein fortbestehendes Interesse daran, die Festungsmauern immer höher zu ziehen. Die Befestigungsanlagen in Melilla und Ceuta, den spanischen Enklaven in Nordafrika, sind ein weiterer Beleg für diese menschenverachtende Politik. Nur mit der begleitenden PR scheint manch einer der Hardliner nicht so recht zufrieden zu sein.

Die jetzt zu beobachtenden wohlfeilen offiziellen Trauerbekundungen dokumentieren insofern keinen Sinneswandel, sondern verweisen auf die Doppelmoral ebenjener Politik und die Widersprüche eines europäischen Selbstbildes, das sich gerne Menschenrechte und humanistische Werte auf die Fahne schreibt. Und manchmal auf den erhobenen Zeigefinger, wie beispielsweise gegenüber den Protestbewegungen in den nordafrikanischen Staaten.

Unbeleckt von solchen Widersprüchen scheint derzeit der amtierende Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich zu sein. Der macht sich nicht einmal die Mühe, den Spagat zwischen Sicherheit und Moral zu verklausulieren und schwadronierte jüngst in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt angesichts der Toten unbeeindruckt von wachsendem Missbrauch der Freizügigkeit innerhalb der EU und vom Erschleichen von Sozialleistungen. Friedrich klagte über Armutseinwanderung und plädiert für mehr Härte gegenüber Einwanderern. Warum nicht gleich den Schießbefehl für Frontex-Patroullienboote fordern? Aber das wäre wohl in der Öffentlichkeit nicht durchsetzbar. Da kennt selbst ein Minister Friedrich seine Grenzen.

Es kommt einer Verhöhnung der Toten und einem Schlag ins Gesicht der Überlebenden von Lampedusa gleich, wenn Friedrich nun in Reaktion auf die aufgekommene Debatte von Verschärfung der Überwachung und vom Missbrauch von Freizügigkeitsrechten spricht. Es ist um so unerträglicher, als der Bundesinnenminister zwanzig Jahre nach den Mordanschlägen von Solingen – und den Anschlägen und Pogromen von Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda im Jahr 1992 – just jene Parolen wiederholt, die seinerzeit einem rassistischen Mob als Motivation für Mordanschläge und pogromartige Verfolgungen von Migranten in Deutschland dienten. Schon damals, im Jahr 1993, lieferten sich weite Teile der etablierten Parteien mit besagtem Mob einen regelrechten Überbietungswettbewerb in einer mit ausländerfeindlichen Aussagen geführten Debatte zur Änderung des Asylrechts, die aus kritischer Sicht als die Abschaffung des bundesdeutschen Asylrechts zu deuten war.

Friedrich macht damit unfreiwillig deutlich, wes Geistes Kind die herrschende EU-Asylpolitik und – in ihrem Kern – deren Menschenbild ist. Der Minister verschiebt die weitere Bearbeitung der Thematik auf das bekannt-bewährte Feld von Sicherheitspolitik. Mit dieser Strategie hat Friedrich in der Vergangenheit auch schon die Reputation der Deutschen Islamkonferenz ruiniert. Getreu dem Motto „Schuster bleib bei Deinen Leisten“ bleiben seine jüngsten Äußerungen im Angesicht der Katastrophe von Lampedusa und anlässlich des EU-Innenministertreffens in Luxemburg dieser Strategie verpflichtet. Insofern ist er immerhin ehrlich.

Er bedient sich hierzu, nur wenige Tage nach dem Unglück, aus der untersten Schublade vorurteilsbeladener Klischees über Zuwanderer. Und das ist der eigentliche Skandal: ein Spitzenpolitiker mit Ressortzuständigkeit auch für das Thema Integration, der so sehr fremdenfeindlichen Klischees verhaftet scheint. Es fragt sich, wer hier Stichwortgeber ist: Friedrich den Stammtischen oder umgekehrt? Ein Bundesminister, der solche Ressentiments in staatstragende Worte kleidet und oberflächlich als Sicherheitspolitik verbrämt, ist fehl am Platze.