Unser Mitarbeiter Jobst Paul erstellte 2023 das Kurzgutachten Religion und Macht – Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus.
Es ist auf der Website des BICC – Bonn International Centre for Conflict Studies abrufbar.
Das Kurzgutachten entstand im Rahmen von Core-NRW – Netzwerk für Extremismusforschung in Nordrhein-Westfalen.
https://www.bicc.de/Publikationen/CoRE_KurzGutachten7_Religion_u_Macht_231016_web.pdf
Paul, J. (2023). Religion und Macht – Zum extremistischen Potenzial des christlichen Fundamentalismus . In Kurzgutachten 7 . BICC.
ZUSAMMENFASSUNG
Im Rahmen des vorliegenden Gutachtens werden streiflichtartig die Fülle und Variabilität von christlich-fundamentalistischen Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen umrissen, die darin übereinkommen, nicht für, sondern gegen den Abbau von Diskriminierung und Ungleichheit einzutreten und danach zu streben, vergangene autoritäre, antidemokratische Machthierarchien wieder herzustellen. Entscheidend ist, dass in den vergangenen Jahren eine immer größere Anschlussfähigkeit der Positionen der erwähnten Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen und der Programmatik rechtsextremer Gruppen entstanden ist, wobei sich personelle Verbindungen und organisatorische Vernetzungen zwischen den Milieus ausgebildet haben.
Viele der Manifeste, die rechtsextrem motivierte Gewalttäter:innen u. a. auch in jüngster Zeit in legitimierender Absicht in Online-Netzwerken veröffentlichten, belegen, in welchem Ausmaß sich darin zentrale Positionen des christlichen Fundamentalismus mit rechtsextremen Agenden und deren Narrativen überschneiden. Die resultierenden Programmatiken, in denen sich Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen zunehmend zusammenfinden und unter deren Einfluss Radikalisierungsprozesse ausgelöst werden, sind durchzogen von verschwörungsideologischen, u. a. antisemitischen Grundthesen und von militanter Gegnerschaft gegen Selbstbestimmungsrechte im Bereich von Reproduktion, von Lebensformen und geschlechtlicher Identität.
Ganz besonders hervorzuheben ist dabei, dass diese Entwicklung zur Voraussetzung hatte, dass es zunächst zu inter-konfessionellen Koalitionen zwischen radikalen Fraktionen katholischer, evangelikaler und orthodoxer Provenienz kam, bevor es zu Bündnissen von diesen mit extrem rechten Gruppierungen, u. a. aber auch mit einem breiten Spektrum des esoterischen Aktionismus kommen konnte.
In ihrer Gesamtheit haben diese Prozesse zu einer derzeit kaum überschaubaren Bandbreite von Organisationsund Aktionsformen geführt, die zudem zwischen lokalen und regionalen, zugleich aber auch nationalen und dann internationalen Ebenen hin- und herchangieren. Dabei scheinen sechs unterschiedliche und zugleich komplementäre Dynamiken am Werk zu sein:
So tendieren (1) diese Prozesse in die Richtung einer Konzentration, d. h. der Bildung immer schlagkräftigerer Kooperationen und Verbände, und hin zu einer entsprechenden Verbreiterung der finanziellen Machtbasis. Wie sich zeigte, sind nach bisherigem Stand oligarchische Geldquellen, aber auch Großspender äußerst relevant. Großverbände wie z. B. Tradition, Family and Property (TFP) haben aber gezeigt, dass die organisatorische und ökonomische Professionalisierung des Personals (2), das im Aufbau und Ausbau von lokalen und regionalen Klein- und Missionsgruppen und der Akquirierung von Finanzmitteln eingesetzt werden kann, zu fast autarken Finanzstrukturen führen kann.
Einen erheblichen Zuwachs an Macht erbrachte darüber hinaus (3) die Etablierung einer sehr effizienten, international agierenden juristischen Ebene, die, wie etwa der Verband Alliance Defending Freedom (ADF), versucht, in Musterprozessen gegenüber Verwaltungen die Aktionsfreiheit fundamentalistischer Akteure dauerhaft durchzusetzen, wobei sie auch (und gerade) regionalen Kleingruppen zu Hilfe kommt.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sind zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen beobachtbar: So scheinen die Prozesse der Diversifizierung (4) und der regionalen und lokalen Dislozierung von Gruppen (5) einerseits dazu zu dienen, im Sinn von „Schneeball“-Systemen die Attraktivität für lokale, potenziell neue Mitglieder zu erhöhen, sei es als Besteller und Konsumenten einschlägiger Devotionalien, als Spender bzw. als ihrerseits in der Mission einsetzbare Akteure. Andererseits können so die größeren Organisationsstrukturen, in denen sie wirken, unsichtbar gemacht werden.
Eine sechste Tendenz, die der verbalen und politischen Radikalisierung (6), ergibt sich nicht nur aus den oben bereits beschriebenen, gegen Grundrechte gerichteten Programmatik des christlichen Fundamentalismus und der politischen Agenda extrem rechter Bewegungen, mit denen sich Kooperationen etabliert haben. Prozesse der Radikalisierung ergeben sich auch aufgrund fundamentalistischer Logiken selbst, die nach zunehmend „reinen“ Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, hier: zwischen eigenen, „reinen“ Ego-Idealen und dem „satanischen“ Anderen streben. Organisatorisch kann dies bedeuten, dass sich innerhalb der betreffenden Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen immer weiter abgehobene Führungsebenen entwickeln, es aber zugleich in ihnen zu einer verstärkten inneren Sozialkontrolle kommt.
Insbesondere die Radikalisierungsprozesse, die sich z. B. in Afrika und Südamerika zeigen, unterstreichen darüber hinaus, dass sie nicht denkbar sind ohne die ständige Steigerung der verbalen, rhetorischen Herabsetzung von Opfergruppen, um eine Polarisierung der Öffentlichkeit zu erreichen (und zu erhalten) und Opfergruppen dann der rechtlichen, öffentlichen, psychischen wie physischen Verfolgung preiszugeben. Mit diesen Prozessen ist auch in Deutschland, ggf. gerade in regionalen und lokalen Kontexten zu rechnen (Anonym 2023e).
Dabei könnten Hass- und Gewalt-Prediger, die – wie in Pforzheim (Anonym 2021d; Streib 2023a; Streib 2023b; Anonym 2023d) – zur „Tötung von LGBTQ-Personen“ aufrufen, in den Hintergrund treten gegenüber geografisch deutschlandweit bis in Kleinstgemeinden hinein gestreuten potenziellen Täter:nnen, die sich – wie im Fall des geplanten „Reichsbürger“-Coups um Heinrich XIII. Prinz Reuß – unterschiedlich und aufgrund unterschiedlichster, darunter christlich-fundamentalistischer Ideologiekonstrukte extrem radikalisiert hatten und sich offenbar spontan vernetzten (Anonym 2023e).
Gerade letzteres Beispiel zeigt, dass sich hate speech und Programmatiken der Ungleichheit nicht auf bestimmte Themen und Politikfelder beschränken lassen, sondern auf eine insgesamt totalitäre Ordnung zielen, auch wenn sie sich temporär auf die Verfolgung bestimmter Minderheiten fokussieren. Nicht zu unterschätzen in ihrer gesellschaftlichen Dynamik sind aber auch „kalte“ Wege einer Radikalisierung, die die – bereits genannte – Ausbildung zunehmend abgehobener Führungsebenen und einer intensivierten inneren Sozialkontrolle der betreffenden Organisationen, Bewegungen und Gruppierungen zur Voraussetzung haben: Zu nennen sind hier eine aggressive Siedlungstätigkeit und/oder der Land- und Immobilienerwerb durch vernetzte Kleingruppen, wie aktuell in der Bundesrepublik im Fall der völkischen, extrem rechten, so genannten „Anastasia“- Bewegung mit über 20 Siedlungsprojekten, die mit Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber der umgebenden Bevölkerung einhergehen (Kelan 2023; Takac 2023).
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung 4
1 Rückblick. Eine Kontextualisierung. 7
2 Rechtliche Aspekte 9
2.1 Religiöser Fundamentalismus als Familien- und Jugendproblem 9
2.2 Verschiebungen der Perspektive 11
2.3 Haltung der Bundesregierung 13
2.4 Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 14
3 Forschungslage 16
3.1 Strukturen der Forschung 16
3.2 Dokumentations- und Informationsstelle für die Bundesregierung
zum Bereich „Sekten und Psychogruppen“ 18
4 Diabolisierung als Konstante im christlichen Fundamentalismus 19
4.1 Ältere Gutachten 20
4.2 Religionsgeschichtlicher Rückblick 20
4.3 Katholischer Fundamentalismus 21
4.4 Protestantischer Fundamentalismus 22
4.5 Russisch-Orthodoxer Fundamentalismus 23
5 „Anti-Gender“ als fundamentalistischer Nenner 24
6 Taktiken, Konzeptionen, Finanzen 26
6.1 Taktisch-theoretische Konzeptionen von rechts 26
6.2 Christlich-fundamentalistische Vernetzungen mit rechtsextremistischen Gruppierungen 29
6.2.1 Katholische Akteure (Auswahl) 31
6.2.2 Evangelikale Akteure (Auswahl) 32
6.2.3 Vernetzungen mit dem russisch-orthodoxen Machtapparat – und darüber hinaus (Auswahl) 34
6.3 Astroturfing, Multiple Gruppen, Mega Churches 36
6.4 Finanzierungsformen 37
7 Zwei Fallstudien 40
7.1 Tradition, Family and Property (TFP) 40
7.2 World Congress of Families (WCF) 41
8. Schlussfolgerungen und Empfehlungen 43
8.1 Befunde 43
8.2 Empfehlungen an die Praxis 45
i Foren für Austausch und Projektkonzeptionen 45
ii Schnittstellen zwischen Forschung, Praxis, Politik, Medien und Öffentlichkeit 45
8.3 Empfehlungen an die Forschung 46
i Forschungsverbundstrukturen in NRW aufbauen 46
ii Forschungsthemen etablieren 46
iii Psychologische Forschung 47
iv Territorialforschung 47
v Rechtsforschung 47
Literatur 48