Rezension: Erich Später: Villa Waigner. Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1939-45, Hamburg 2009: Konkret Verlag, ISBN 978-3930786572, 12€.
Autor: Jens Zimmermann
Am 9. Mai 1945 befreite die Rote Armee die Stadt Prag und damit das von den Nationalsozialisten besetzte Protektorat Böhmen und Mähren. Damit endete eine fast sechs Jahre andauernde Terrorherrschaft, in deren Zeit die erste tschechoslowakische Republik zunächst von der Wehrmacht überfallen und anschließend systematisch vom nationalsozialistischen Herrschaftsapparat ausgeraubt wurde. Mit dem Auftakt zum Vernichtungskrieg im Osten Europas einher ging die Installation eines umfassenden administrativen Apparates zu Erfassung und Vernichtung der tschechoslowakischen Juden. In einem faktenreichen und kompakten Essay zeichnet der profilierte Historiker Erich Später die Jahre vom Münchner Abkommen, das letztlich die militärisch-aggressive Zerschlagung der CSR einleitete, bis hin zur Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Deutschland nach. Auf insgesamt neunzig Seiten erwartet den/die LeserIn eine gut lesbare Studie und das vor allem, weil Später beständig zwischen chronologischer und thematischer Darstellung vermittelt.
Im ersten Kapitel resümiert Später die außenpolitischen Entwicklungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Tschechoslowakei bis zur Invasion der Wehrmacht im März 1939. Bis zum Münchner Abkommen, in dessen Folge die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei annektiert wurden, was die staatliche Souveränität des deutschen Nachbarstaates entscheidend schwächte, war Prag „das Zentrum des politischen und kulturellen Widerstands gegen das nationalsozialistische Deutschland“ (10), welches zahlreichen deutschen Intellektuellen, unter anderem der Familie Heinrich Manns, Asyl und Bürgerrechte gewährte. Die demokratische Tradition der ersten Republik der Tschechoslowakei wurde nun gewaltsam durch den Einmarsch deutscher Truppen beendet. Einen Tag nach der Invasion erschien der Erlass über die Einrichtung des Protektorats Böhmen und Mähren. Zugleich begannen die administrativ-politischen Bemühungen, das Gebiet der ehemaligen Republik in einen Rassestaat nach dem Vorbild der völkischen Ideologie einzurichten. Fortan schlug sich der antisemitische Vernichtungswahn der deutschen Besatzer in einer massiven Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung nieder, die systematisch ausgeraubt und letzten Endes vernichtet wurde. Im zweiten Kapitel erörtert Später diesen Prozess, in dem er die Ereignisse beispielhaft an der Prager Juden aufzeigt. Neben der „Arisierung“ jüdischer Geschäfte werden auch Wohnungen, Privatbesitz und Vermögen durch die deutschen Besatzer erfasst und dann gestohlen. Mit der Ernennung Reinhard Heydrichs zum stellvertretenden Reichsprotektor am 27. September 1941 radikalisiert sich das antijüdische Programm – ab Oktober 1941 beginnt die Massendeportation der Juden des Protektorats in die KZs und auch die Massenhinrichtungen an Tschechen nehmen zu. Das KZ Theresienstadt wird ab November 1941 die zentrale Durchgangsstation der Juden des Protektorats in die Vernichtungslager.
Im dritten Kapitel fokussiert Erich Später seine Darstellung auf die Hauptstadt Prag: „Hier bündeln sich die Politik der Vernichtung und die Bestrebungen zur Germanisierung des Landes.“ (46) Dabei kann die deutsche Vernichtungselite auf ein akademisches Milieu zurückgreifen, welches an der deutschen Karls-Universität seit der Gründung der Tschechoslowakei 1918 zum Gravitationszentrum der deutsch-völkischen und antisemitischen Agitation geworden ist. Die radikale Studentenschaft der Karls-Universität wird letztendlich zur Kaderschmiede des deutschen Vernichtungsapparates. Ab 1941 überlegen Heydrich und hochrangige SSler die Einrichtung einer SS-Universität in Prag. Hier sollte das Personal für den Völkermord geschult werden. Gegründet wurde schließlich eine „Reichsstiftung“ an der Universität, die „für die Bedürfnisse des Besatzungsapparats forschen und lehren“ (55) soll. Alle neun Lehrstühle sind „größtenteils räumlich und personell identisch mit den entsprechenden Universitätseinrichtungen.“ (56) Die Lehrstühle liefern „Forschungsergebnisse um die „Besetzung des Landes zu rechtfertigen und die geplante Eindeutschung und massenhafte Ermordung der tschechischen Bevölkerung nach ‚wissenschaftlichen‘ Kriterien zu planen und ideologisch zu begründen.“ (56)
Die „Reichsstiftung“ diente zur Ausbildung und „Veredelung“ einer nationalsozialistischen Elite, die durch akademische Ausbildung für den Völkermord vorbereitet wird. Es ist gerade diese Vernichtungselite, die der Historiker Michael Wildt als „Generation des Unbedingten“ beschreibt. Sie sind das Rückgrat der „kämpfenden Verwaltung“, wie sich zum Beispiel das Reichssicherheitshauptamt verstand. In diesen Institutionen sollte nicht bloß administrativen Aufgaben nachgegangen werden: Verwaltung wurde zum Mittel der Umsetzung nationalsozialistischer Ideologie. Neben den Universitäten wurde diese Gruppe junger Männer vor allem in den völkisch ausgerichteten Studentenverbindungen politisch sozialisiert. Hanns Martin Schleyer war einer dieser jungen Männer, die während des NS eine Bilderbuchkarriere machten. Schon im Alter von 18 Jahren trat Schleyer in die SS ein, am 1. Mai 1937 wurde er NSDAP-Mitglied. Kurz darauf wurde er Leiter des Heidelberger Studentenwerks. Nach seinem Abschluss im Sommer 1938 trat er die Stelle des Leiters des Studentenwerks an der Universität Innsbruck an. Als dessen Leiter hatte er maßgeblichen Anteil daran, dass der Rektor der Universität Innsbruck im November 1938 nach Berlin melden konnte, dass sowohl Lehrkörper als auch Studentenschaft „judenfrei“ seien. (65) Im Juli 1941, nach kurzem Kriegseinsatz, ging Schleyers Karriere weiter. Er übernahm die Leitung des Studentenwerks der Deutschen Karls-Universität in Prag – das „größte Studentenwerk des Reiches“ (72). Diese Position bedeutete für Schleyer den Zutritt zur „Elite der SS und Protektoratsverwaltung.“ (80) Dies schien Schleyer auch im Jahr 1942 zu merken, und er brach seine juristische Laufbahn ab. Fortan arbeitete er als Referent für den Zentralverband der Industrie in Böhmen und Mähren – die Schaltzentrale für die „Aufrechterhaltung des Ausbeutungs- und Terrorsystems der deutschen Rüstungswirtschaft im Protektorat.“ (77) Am 27. Januar 1944 wurde er zum SS-Führer beim Reichssicherheitshauptamt ernannt – damit war Schleyer in der Zentrale des Völkermordes angekommen.
In diese faktenreiche Rekonstruktion schreibt Erich Später immer wieder verstreut die Geschichte des jüdischen Ehepaars Emil und Marie Waigner. In ihrer Geschichte verwebt Später schlüssig die Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Prags und die Rolle von Funktionseliten wie Hanns Martin Schleyer. Die Waigners bauten ihre Villa im Prager Vorort Bubentsch im Jahr ihrer Heirat 1923. Emil Waigner arbeitete bis zu seiner Entlassung als Direktor der Bank für Handel und Industrie und gehörte somit zum tschechischen Bürgertum. Mit der Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland änderte sich ihre Lebenssituation dramatisch bis sie schließlich im August 1940 enteignet wurden und ihre Villa zum Objekt der Begierde zahlreicher SS-Angehöriger wurde. Im August 1944 zieht Schleyer in die Villa Bubentscherstraße 55 ein. Zu diesem Zeitpunkt sind Emil und Marie Waigner schon ermordet. Emil Waigners Tod ist für den 19. Februar 1942 im KZ Mauthausen datiert, Marie Waigners Tod auf den 14. Oktober 1942 in KZ Auschwitz.
Im abschließenden fünften Kapitel rekonstruiert Später die Befreiung der Protektoratsbevölkerung am 9. Mai 1945 durch die Rote Armee. Für die jüdische Bevölkerung, die der Vernichtung entronnen war, begann nun der Kampf um ihr gestohlenes Gut. Bis 1950 emigrierten annähernd 20.000 überlebende Juden – die meisten nach Israel. Die ehemalige Nazi-Elite in Prag hat nach 1949 nur wenig zu befürchten: „Die schlimmste Strafe ist die Pensionierung bei vollen Bezügen.“ (85) Auch Hanns Martin Schleyer Karriere war nach 1945 nicht zu Ende. Nach seiner Kriegsgefangenschaft wurde er 1948 als Mitläufer eingestuft.
Erich Später ist ein kluges Stück Geschichtsschreibung gelungen, was spielend Faktenreichtum und exemplarische Rekonstruktion verbindet. Zu keiner Zeit verliert er die Fäden aus der Hand und komponiert so chronologische, biografische und institutionell-orientierte Historie zu einem schlüssigen Ensemble.