„Eklat“ im niedersächsischen Landtag

Autor: Martin Dietzsch

„… und es gibt auch Wissenschaftler, die bezeichnen das als ‚Institutionellen Rassismus‘ was wir hier erleben…“

Am Mittwoch (20.6.2012) nahm SPD-Fraktionschef Stefan Schostok in seiner Rede im niedersäschsischen Landtag das böse Wort „Institutioneller Rassismus“ in dem Mund und löste damit tumultartige Szenen bei Abgeordneten und Ministern der CDU aus.

„Niemand dürfe sich im Parlament dazu hinreißen lassen, der Regierung Rassismus vorzuwerfen.“

So fasst die WELT die heftigen Reaktionen höflich zusammen.

Einen drastischeren Eindruck vermittelt ein TV-Beitrag des NDR:
Eklat im Landtag, NDR 20.6.2012, 19.30 Uhr (Diesen Beitrag findet man inzwischen auch bei youtube)

Bildschirmfoto NDR 20.6.2012

Stefan Schostock zitierte eine kurze Passage aus einer Stellungnahme des DISS, die in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung  erwähnt worden war (Umstrit­tene Abschie­bung in Nie­der­sach­sen — In Stur­heit gefangen, vergl. auch DISSkursiv vom 18.6.2012).

Wir veröffentlichen hier den „Stein des Anstoßes“, auf den der Artikel in der SZ Bezug nahm.

Dass allein die Benennung der Tatsache, dass es auch in Deutschland Institutionellen Rassismus gibt, solche Affekte auslöst, damit hätten selbst wir nicht gerechnet. Der „Eklat“ im Landtag ist ein Beleg dafür, wie dringend die Forderung nach einer unabhängigen Kommission zum Institutionellen Rassismus ist.

 

Duisburg, 30. Mai 2012

Stellungnahme zur Einrichtung einer unabhängigen Expertinnenkommission Institutioneller Rassismus

Wir unterstützen die Forderung von Heiko Kauffmann, Mitglied des Vorstands von PRO ASYL, nach dem Vorbild der britischen Macpherson-Kommission von 1999 endlich auch in Deutschland eine unabhängige Expertinnenkommission Institutioneller Rassismus zu berufen und mit einem umfassenden Untersuchungsauftrag auszustatten. Dem Vorschlag haben sich inzwischen auch Prof. Lothar Krappmann, Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, und Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen angeschlossen.

Man erkennt in Deutschland bis heute vielerorts nicht, dass dieser Begriff keine polemische Anklage beinhaltet, sondern eine vollkommen adäquate Beschreibung der Wirklichkeit ist, die viele Betroffene zu durchleiden haben – Flüchtlinge, Einwanderer. Für diese Erfahrung gibt es schockierende Anlässe, die übrigens weit zurück reichen.

Bereits nach den Anschlägen in Hoyerswerda (September 1991), in Rostock (August 1992), in Mölln (November 1992), in Solingen (Mai 1993) und trotz vieler weiterer Opfer rechter Gewalt in den folgenden Jahren leugnete die Bundespolitik die offenkundig rassistischen Motive hinter den Taten in einem Maß, dass es sogar zu einem unwürdigen Streit um Opferzahlen und schon damals zu einer schlimmen Erfahrung für die Angehörigen kam.

Nun stellt sich heraus, dass während des ganzen Jahrzehnts seit dem Anschlag in Düsseldorf-Wehrhahn am 27. Juli 2000 eine rechtsterroristische Mordserie durch polizeiliche Verfolgungsbehörden nicht als solche ‚erkannt‘ wurde, obwohl ausgerechnet Verfassungsschutz-Behörden im Täter-Milieu kundschafteten.

Wir sind mit einer stigmatisierenden Perspektive dieser Behörden konfrontiert, die auf eine ‚Milieu- Kriminalität‘ abhob. Dies zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die Verfolgungsbehörden und die Medien, bis hin zum deutschen Generalbundesanwalt den Begriff ‚Döner-Morde‘, der schließlich von der Aktion Unwort des Jahres im Januar 2012 als rassistisch gebrandmarkt wurde, wie selbstverständlich verwendeten. Behörden unterschiedlicher Bundesländer kriminalisierten damit die Opfer, aber auch ihre Angehörigen und fügten ihnen unermessliches Unrecht zu.

Wenn gegen diese Institutionen der verständliche Vorwurf erhoben wird, ‚auf dem rechten Auge blind zu sein‘, so ist damit nichts anderes gemeint als eben jener Institutionelle Rassismus, in den sich diese Institutionen verstrickt haben und aus dem sie nur durch äußere Hilfestellung wieder herauskommen. Dies wird derzeit nachdrücklich bestätigt, indem führende, für die Untersuchung der Mordserie zuständige Beamte im Zusammenhang von Befragungen durch parlamentarische Untersuchungskommissionen in kategorischer Weise in Abrede stellen, irgendwelche Fehler gemacht zu haben.

Dieses Phänomen führt mitten hinein in die von der Macpherson-Kommission seinerzeit erarbeiteten 13 Grundsätze, mit denen Institutionellem Rassismus begegnet werden soll. Die Kommission fordert z.B. unter anderem, dass die Wahrnehmungen von Betroffenen und ihrer Angehörigen, rassistisch diskriminiert worden zu sein, zum Maßstab der Untersuchung und der künftigen Praxis gemacht werden sollen und nicht derartige Abwehr- und Verteidigungshaltungen von Institutionen.

Darüber hinaus formuliert die Kommission wichtige Einsichten in institutionelle Prozesse der Vorurteilsbildung.(1) Rassismus sei zwar in „weit verbreiteten Einstellungen, Werten und Annahmen verwurzelt“, die ggf. auch die Mitarbeiterinnen von Institutionen teilen, doch könne sich eine Institution diskriminierende Praktiken zugelegt haben, völlig „unabhängig von der Absicht des Individuums, welches die Arbeit der Institution ausführt“. Umgekehrt seien diskriminierende Praktiken „nicht ohne das Wissen der agierenden Person“ denkbar, die es „versäumt hat, die Konsequenzen seiner / ihrer Handlungen für Menschen ethnischer Minoritäten zu überdenken“. Diskriminierende Praktiken können daher nicht auf einen „unbewussten“ Rassismus abgewälzt werden, für den der Einzelne nicht verantwortlich sei. Diese Praktiken gehen vielmehr auf mangelnde Selbstkritik zurück. Diese kann von Amtsleitungen noch weiter eingeschränkt werden, wenn sie im Sinne einer Wagenburg-Mentalität nach außen die Losung einer zu schützenden corporate identity ausgeben, bzw. für sich ‚Loyalität‘ einfordern oder sich ‚vor ihre Mitarbeiter stellen‘.

Die Kommission wies jedoch auch darauf hin, dass in der Regel diskriminierenden „Gebräuchen und Praktiken“, die in Institutionen ausgebildet werden, bestehende Gesetze vorausgehen. Für Deutschland gilt dies gewiss und insbesondere für das Ausländer- und Asylrecht. Die Wirkungen von Institutionellem Rassismus betreffen jedoch – so die Macpherson-Kommission – grundsätzlich alle Routinen, „mit der ethnische Minoritäten in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer, Zeugen, Opfer, Verdächtige und Mitglieder der Bevölkerung behandelt werden“.

Zweifellos stellt in Deutschland die Kriminalisierung von Minderheiten eine bevorzugte institutionelle Option der rassistischen Diskriminierung dar. Dies wurde nicht nur – wie erwähnt – anlässlich der erwähnten rechtsterroristischen Mordserie offenbar, die von den betreffenden SoKos „Halbmond“ (2001) oder „Bosporus“ (2005-2008) zur ‚Milieu‘-Kriminalität erklärt wurde. Bereits 2003 sprach das LKA Berlin von einer „libanesischen, insbesondere „libanesisch-kurdischen“ Kriminalitätsszene Berlins(2), während eine Ermittlungsgruppe IDENT in Berlin ethnische Minderheiten ausspähte. Sie bestand bis 2008 und wurde umgruppiert, nachdem ihr ein allzu pauschales Vorgehen gegen Mhallamiye-Kurden nachgewiesen wurde.

Noch viel weiter geht ein vertraulicher Expertenbericht (147 Seiten) der Kommission Organisierte Kriminalität (BKA)(3) für die Innenministerkonferenz am 19.11.2004 in Lübeck. Der Bericht befasst sich ausschließlich mit der türkischen Glaubensgemeinschaft der Yesiden sowie mit Mhallamiye-Kurden, überwiegend aus dem Libanon. Der auf ethnische ‚Gruppen‘ gerichteten Perspektive entsprechend geht der Bericht auch über einen kriminalistischen Anspruch weit hinaus und zielt auf eine Verschärfung „des bundesdeutschen Ausländer- und Asylrechts“.

Dessen „Schwachstellen“ hätten einen „erheblichem Missbrauch“ und die Bildung „ethnisch abgeschottete(r) Subkulturen“ ermöglicht. Die Zerschlagung solcher krimineller Strukturen sei deshalb „nur noch in Teilbereichen“ und nur bei Zusammenarbeit „aller mit der Thematik befassten Behörden, justizieller Unterstützung und dem Ausbau kriminaltaktischer Ermittlungsmaßnahmen“ möglich. Im Übrigen seien die Erkenntnisse – so zitiert der SPIEGEL-Bericht ein Kommissionsmitglied – „auch auf andere Gruppen übertragbar“ – etwa auf Albaner oder Aussiedler aus Kasachstan.

Vor diesem Hintergrund kann der Verdacht formuliert werden, dass die Fälle der Familien von Badir Naso, der der Gruppe der kurdischen Yeziden angehört, und von Ahmed Siala, der der Gruppe der Mhallamiye- Kurden angehört, im Zusammenhang mit einer ethnischen Kriminalisierung steht, wie sie von der Kommission Organisierte Kriminalität (BKA) umrissen wurde. Beide Fälle sind durch eine beispiellose Brutalität der verantwortlichen Behörden gekennzeichnet.

Das Bild rundet sich durch eine Entscheidung des Auswärtigen Amts unter Guido Westerwelle ab. Es wies im Mai 2012 die deutsche Botschaft in Izmir an, den Visumsantrag für Gazale Salame und ihre Kinder zu einem Besuch ihres Mannes und ihrer Töchter in Deutschland erneut aufgrund der konstruierten, immer gleichen, bis ins Jahr 2000 zurückreichenden Betrugsvorwürfe abzulehnen.

Diese neueste Entwicklung zeigt, dass eine künftige Expertenkommission Institutioneller Rassismus nur dann Erfolg haben wird, wenn sie nicht in einen politischen Machtkampf verstrickt wird. Vielmehr müssen die Öffentlichkeit, alle betroffenen Institutionen wie Polizei, Gerichte, Schulen und Behörden, aber auch Exekutiven und Legislativen, zuvor von sich aus ihre Bereitschaft zu einem Reflexionsprozess, d.h. auch zu einer sanktionsfreien Selbstreflexion erklären (4), die dann zur Veränderung oder zur Rücknahme diskriminierender Praktiken oder gar Gesetze führt. Das Konzept des institutionellen Rassismus zielt daher in der Tat, wie Heiko Kauffmann formuliert hat, „auf die Analyse von Vorurteilen in Verbindung mit Machtausübung ab, untersucht und analysiert Strukturen und Vorgänge in Behörden und Institutionen, die in ihrer Konsequenz diskriminierende und rassistische Auswirkungen haben.“

Aus diesen Gründen befürworten wir die Einberufung einer unabhängigen Expertinnenkommission zum Instituionellen Rassismus. An der Diskussion über deren Aufgabenstellung und Verankerungen beteiligen wir uns gerne.

Prof. Dr. Siegfried Jäger – Dr. Jobst Paul – Dr. Margarete Jäger

 

1 Alle nachfolgenden Zitate aus dem Bericht in der Übersetzung nach Iris Tonks, Der Macpherson Report. Grundlage zur Entwicklung von Instrumenten gegen den institutionellen Rassismus in Großbritannien. In: Margarete Jäger; Heiko Kauffmann (Hg.): Leben unter Vorbehalt. Institutioneller Rassismus, Duisburg, 2002, S. 239–255.

2 Vgl. den Bericht „Importierte Kriminalität“ und deren Etablierung am Beispiel der libanesischen, insbesondere „libanesisch-kurdischen“ Kriminalitätsszene Berlins des LKA Berlin (Henninger) aus dem Jahr 2003.

3 Alle Angaben dazu nach Andreas Ulrich (Blutige Selbstjustiz) im Spiegel 50/2004 vom 6.12.2004.

4 Vgl. Paul, Jobst, Von ‚Einzeltätern‘ zum ‚Institutionellen Rassismus‘. Die britische Regierung zieht die Konsequenzen und trifft eine historische Entscheidung. In: DISS-Journal 5/2000.

 

P.S.:

Hier noch einige Links auf Presseartikel zum „Eklat“:

Hamburger Abendblatt: „Rassismus“-Vorwurf sorgt für Eklat im Landtag
WELT kompakt: Eklat wegen Rassismus-Vorwurf
taz: Du sollst nicht „Rassismus“ sagen
Neue Osnabrücker Zeitung: Niedersachsens Innenminister nennt SPD-Attacke „Unverschämtheit“ – Grüne: Gnadenlose Flüchtlingspolitik
junge welt: Kindeswohl Nebensache
Flüchtlingsrat Niedersachsen: Eklat um Begriff “institutionellen Rassismus” in Hannover

 

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