Netzfundstücke: Jürgen Link über Griechenland

Jürgen Link schickte uns einen Text zur jüngsten Entwicklung in Griechenland, der zuerst auf den Nachdenkseiten veröffentlicht wurde. Er nimmt darin Bezug auf ein Interview mit Herfried Münkler, das am 14.7.2015 in der Frankfurter Rundschau erschien (Griechenland: Europa hat ganz andere Probleme).

Hier der Diskussionsbeitrag von Jürgen Link in voller Länge:

HERFRIED MÜNKLER ERKLÄRT DAS WESEN DES GERMROPA-PUTSCHES GEGEN GRIECHENLAND: DENORMALISIERUNG UND HERABSTUFUNG IN EINE NIEDRIGE NORMALITÄTSKLASSE

1. Nicht bloß die Netz-Proliferation thisisacoup, sondern auch seriöse Beobachter und der Protagonist Jannis Varoufakis selbst bezeichnen das Diktat gegen Griechenland vom 12. Juli 2015 als „Putsch“. Aber was ist das Wesen dieses Putsches? Man versucht, ihn mittels verschiedener historischer Analogien zu fassen. Varoufakis zieht eine Analogie zum Putsch der griechischen Militärjunta von 1967: Damals mit „tanks“, heute mit „banks“. Andere bemühen (verständlicherweise aus der Position verzweifelter Ohnmacht heraus) die Analogie mit der deutschen militärischen Besatzung unter Hitler. Umso wichtiger ist es, eine aktualhistorische Analyse, ausgehend von den heutigen Machtstrukturen, zu versuchen.

2. Dabei kann ein Interview des deutschen Aktualhistorikers und Politologen Herfried Münkler, eines wichtigen Beraters der deutschen Regierung, einen ausgezeichneten Ausgangspunkt liefern (Interview in der Frankfurter Rundschau vom 14. Juli 2015 mit Arno Widmann: „Europa muss umgebaut werden“) Münkler stellt das Diktat gegen Griechenland in einen großen geopolitischen Rahmen. Er bestätigt mehr oder weniger, dass Griechenland als abschreckendes Beispiel genutzt wird, um mittels eines extremen Tests alle europäischen Länder in den „Umbau“ einzubeziehen. Er fordert im wesentlichen drei Komponenten des „Umbaus“.

3. Erstens eine Dreispaltung Europas: „Wir brauchen ein Kerneuropa mit sehr ähnlichen politischen und sozio-ökonomischen Strukturen, sodass man hier auf der Grundlage von Verträgen ohne eine starke Einheitsregierung, die es sowieso niemals geben wird, arbeiten kann. Darum kann man dann den jetzigen EU-Raum und vielleicht einige Beitrittskandidaten für einen zweiten und dritten Ring ins Auge fassen. Die haben dann weniger Rechte, aber auch weniger Verpflichtungen.“ Auf Fragen des Interviewers nach den jeweils in „Kern“ und „Ringe“ gehörenden Ländern antwortet Münkler: „Kern“ (bzw. Ring 1) wäre im Idealfall der alte Sechserkern Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux. Aber Italien sei sehr fraglich, und Frankreich auch nicht unproblematisch – die Italiener „müssen es sich überlegen“, werden also auf den Abstieg in Ring 2 vorbereitet. Dass es ohne Frankreich nicht gehe, sei ein Problem. Griechenland und andere Balkanländer gehörten in Ring 3, wenn nicht sogar in die „dritte Welt“: Darauf komme ich zurück.

4. Zweitens eine klare deutsche Hegemonie: „Deutschland ist zur Zeit die stärkste Macht in der EU. Das bringt Verpflichtungen mit sich. Es muss sich mehr engagieren. Aber es muss das tun zusammen mit anderen. Mit Frankreich vor allem.“ Es kommt dann ein Bonbon für Frankreich, das ja vielleicht künftig wieder hochkommen könnte, und Deutschland könnte vielleicht auch einmal wieder etwas schwächer werden. Das ist reine Augenwischerei, an die der Sprecher ganz offenbar selbst nicht glaubt. Bekanntlich hat er ein geopolitisches, eine „Raumordnung“ entwickelndes Buch über Deutschland als Hegemon aufgrund seiner Mitte-Position in Europa und seiner Stärke publiziert.

5. Drittens als Mittel der Hegemonie-Ausübung eine „postdemokratische“ (er benutzt diesen Ausdruck von Colin Croach selbst nicht), besser undemokratische Herrschaft durch ein Ermächtigungsregime. An dieser Stelle äußert er sich bewusst ironisch-zynisch und sagt: „Bis zum Beispiel Frankreich wieder auf die Beine kommt, hat Deutschland eine zentrale Funktion als, sagen wir mal Hüter der Verträge.“ Das werden nur ganz wenige der SPD-nahen Leserinnen der FR verstehen können – es ist ein augenzwinkernder Wink an „Eingeweihte“. Denn es ist ein Carl-Schmitt-Zitat. Der bekannte faschistoide Jurist, später dann Kronjurist Hitlers („Der Führer schützt das Recht“: Massaker des „Röhmputsches“ 1934), publizierte während der Weimarer Zeit das Grundsatzbuch „Der Hüter der Verfassung“. In diesem Buch interpretierte er die Stellung des Reichpräsidenten in der Weimarer Verfassung als den eigentlichen Träger der Souveränität letzter Instanz über dem Parlament, auf dem eine Diktatur als Ermächtigungsregime errichtet werden könnte. Münkler sagt also: Deutschland als „Hüter der Verträge“ (Europas) besitzt diese Souveränität letzter Instanz, die im Notstand über allen europäischen Parlamenten steht. Da die EU allerdings (noch) keine Notstandsordnung besitzt, folgt daraus, dass Deutschland im Notfall de facto das Recht zu diktatorischen Maßnahmen besitzt. Deutschland müsste dann mittels der EU den Notstand über ein Land verhängen. Genau das fordert der Oettinger-Gabriel-Göring-Eckart-Plan: Griechenland zur Zone eines humanitären Notstands erklären und dann, über den Kopf der griechischen Regierung hinweg, eine „europäische“ Notintervention implementieren.

6. All das also wurde und wird weiter am „Notfall“ Griechenland exekutiert. Das also ist der Putsch, zunächst rein strukturell beschrieben ohne historische Analogien. Zurecht muss das Diktat vom 12. Juli bereits als Gründungsakt eines solchen „europäischen“, im Wesen deutschen („germropäischen“) Ermächtigungsregimes betrachtet werden. Die richtige Analogie ist also nicht das Dritte Reich, sondern die Notstandsregime in Kriegs- und Revolutionszeiten des Zweiten Reichs und der Weimarer Republik. Also in der Tat die auf den Versailler Vertrag gestützten Ausnahmeregime, besonders von 1923 – und ganz besonders die letzten Jahre der Republik, als das Regime Brüning auf der Basis der Theorie von Carl Schmitt mit Notverordnungen des Reichspräsidenten herrschte.

7. Nun aber noch eine zusätzliche Einsicht, die sich aus der Normalismustheorie ergibt (Kurzfassung in: Jürgen Link, Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz 2013, mit einem Griechenland-Kapitel). Denn Münklers Schema eines europäischen „Kerns“ und zweier peripherer „Ringe“ innerhalb der EU deckt sich total mit meiner These der Aufspaltung der EU in drei „Normalitätsklassen“ im Laufe der Großen Krise des globalen Kapitalismus von 2007ff. Sie deckt sich genau mit der These, dass das Wesen der Vergewaltigung Griechenlands in seiner zwangsweisen Herabstufung von Normalitätsklasse 2 (etwa Irland, Polen) nach Klasse 3 (Bulgarien, Rumänien) besteht. Münkler droht sogar mit einer weiteren Herabstufung nach Klasse 4 (der zweitniedrigsten von insgesamt 5 Klassen): „Kommt man zu dem Ergebnis: Es klappt nicht, dann muss man sagen: Griechenland ist ein Dritte-Welt-Land und hat in Europa und erst recht im Euro nichts zu suchen.“ Genau damit hatte die NAI-Kampagne der Parteien der inneren Troika vor dem Referendung gedroht: „Tsipras macht uns zu einem Simbabwe!“

8. Warum ist es wichtig, den Putsch mittels der Normalismustheorie zu begreifen? Weil diese Theorie erklärt, wie Normalitäten (gestufter Klassen) produziert und reproduziert werden. Das geschieht auf der Basis flächendeckender statistischer Verdatung. Darin also besteht der Zusammenhang zwischen BIP-Daten, Maastrichtkriterien, Zinsspreizungen usw. (Normalitätsgrenzen, die eingehalten werden oder nicht) einerseits und Troika, Ermächtigungsregime von „Institutionen“ sowie schließlich Putsch anderseits.

9. Warum funktioniert der gegenwärtige Putsch mit banks besser als der frühere mit tanks? Weil er die Normalität des Alltags der Leute im Kern trifft. Die Normalitätstheorie nennt das „Denormalisierung“ (Zerstörung der Normalität). Syriza erklärte immer feierlich, die Normalität (omalótita, physiologikótita) voll wiederherstellen zu wollen. Mit der Denormalisierung der Banken wurde dieser Hoffnung (elpída) ein tödlicher Schlag vesetzt, und elpída in apelpisía (Verzweiflung) verwandelt. Mehr noch: Syriza versprach imgrunde den Wiederaufstieg in die Normalitätsklasse 2 (2. Ring nach Münkler) – jetzt soll Griechenland ein für allemal und auf Dauer die Herabstufung nach Klasse 3 akzeptieren. Wenn es weiter „störrisch“ ist, möchte Münkler es gewaltsam in Klasse 4 herabstürzen.

10. Worin besteht nun das eigentliche Wesen der verschiedenen Normalitätsstandards nach Klassen? Es besteht im verschiedenen Grad der Annäherung der Verteilungskurve des Einkommens an eine grobe Normalverteilung. Die Annäherung ist am größten in Klasse 1 (wenige Reiche, relativ wenige sehr Arme, nicht sehr viele Arme, die meisten obere und untere Mittelklasse: bell curve). Sie sinkt mit den Klassen. In Griechenland stürzten die Mnimonia das untere Drittel in extreme Armut und einen Teil der Mittelklassen in Armut. Der Putsch klopft diese Herabstufung nicht bloß fest, sondern verschärft sie noch – insbesondere durch die Enteignung allen Staatseigentums (Privatisierung und/oder Treuhandstatus), das künftig nicht mehr zur internen Umverteilung zur Verfügung steht.

11. Der Münklersche (und Merkel-Schäublesche) „Umbau Europas“ schafft also ein Drei-Klassen-GERMROPA mit gestufter Souveränität: Volle Souveränität genießt eigentlich nur noch Deutschland, weshalb die „schwarze Null“ für Deutschland so wichtig ist. Ring 2 ist bereits erpressbar durch das Schuldenregime. Ring 3 verliert seine Souveränität an die Ermächtigung germropäischer „Institutionen“. All das wurde und wird am Fall Griechenland paradigmatisch und absolut kaltschnäuzig durchexerziert. Wer also mit Griechenland solidarisch sein möchte, sollte als erstes eine awareness für die gespaltenen Normalitäten entwickeln. Ein ungeheures Symbol dafür ist der Zugang der Touristen aus Klasse 1 und 2 zu Geld in Griechenland, während der Zugang der Griechen blockiert ist: Die einen leben in voller Normalität, die anderen in extremer Denormalisierung.

12. Aber eins ist klar: das 3-Klassen-System ist selbst nicht normal, weil zur vollen Normalität eine spontane Reproduktion gehört. Je gewaltsamer und diktatorischer (notständischer, „postdemokratischer“) die Hegemonie ausgeübt wird, umso mehr herrscht im Gesamtsystem Denormalisierung. Und jeder Widerstand schafft eine Art „positive Denormalisierung“, die ich transnormalistisch nenne. Wer andere unterdrückt, kann selbst nicht frei sein. Wer andere denormalisiert, kann selbst nicht wirklich normal sein.

Jürgen Link 15. Juli 2015

(weitere Texte auf der Site appell-hellas.de, unter „aktuell“ und im Blog Bangemachen.com – der appell-hellas.de beruht auf diesem analytischen Rahmen; er wurde von 2000 Signataren unterzeichnet – weitere Unterschriften sind erwünscht.)

Schreibe einen Kommentar