Bernd Lucke und der Kampf um die Meinungshoheit

Ein Professor ohne Verantwortung?

Von Paul Bey1

Im Oktober 2019 nahm der AfD-Mitbegründer Bernd Lucke seine Lehrtätigkeit als Professor für Makroökonomik an der Universität Hamburg wieder auf. Seine erste größere Vorlesung wurde von vehementen Protesten begleitet. Im Nachgang entwickelte sich diesbezüglich eine veritable Debatte um den Stand der „Meinungsfreiheit“ in Deutschland.

1. Kontexte

Diese Debatte wurde durch verschiedene Geschehnisse weiter angetrieben. So wurde auch seine anschließende Vorlesung am 23.10.2019 von Protesten begleitet und abgebrochen.2 Zwischenzeitlich konnte Lucke wenngleich ein Seminar abhalten, ohne dass es zu Störungen kam.3 Weiterhin kam hinzu, dass die Universität Hamburg dem Bundesvorsitzenden der FDP, Christian Lindner, untersagte, auf einer Veranstaltung an der Universität zu sprechen. Zudem verhinderten am 21.10.2019 Proteste eine Lesung des ehemaligen Bundesministers für Inneres Thomas de Maiziére in Göttingen.

Auch wenn sich ein Zusammenhang aufdrängt, waren diese Fälle verschieden gelagert. Der Protest gegen de Maizière fand im Kontext von Kampagnen gegen den Einmarsch türkischer Truppen (mit von Deutschland gelieferten Waffen) in Nordostsyrien statt.4 Im Falle Christian Lindner, welcher nicht müde wurde, sich medienwirksam über eine vermeintlich um sich greifende Einschränkung der Meinungsfreiheit zu beschweren, lag zunächst ein Verwaltungsakt vor. Die Proteste gegen Lucke dagegen zielten auf seine Rolle beim Aufbau der AfD. So kritisierte der „Allgemeine Studierendenausschuss“ (AStA) der Universität Hamburg in einem Text vom 8.10.2019,5 dass die AfD in Hamburg bereits zur Zeit von Luckes Bundesvorsitz die (zeitweise) Mitgliedschaft von Personen aus antimuslimischen und extrem-rechten Formationen zugelassen habe. Neben seiner Verantwortung für Aufstieg und Entwicklung der AfD wurden zudem die gegenwärtigen gesellschaftspolitischen und wirtschaftswissenschaftlichen Positionen Luckes problematisiert. Er propagiere den Abbau der Sozialsysteme und weitreichende Marktfreiheit. Seit Jahren setze er sich politisch für geringere Löhne, längere Arbeitszeiten und weniger Urlaub für Arbeitnehmende ein, so der AStA. Damit verfolge Lucke eine marktwirtschaftliche Ideologie, die nicht zur Lösung sozialer Konflikte beitrage. Der Professor, so fasste es eine mit Ökonomie befasste Hochschulgruppe, nehme für sich „wissenschaftliche Neutralität“ in Anspruch, propagiere und lehre jedoch Egoismus und Konkurrenz, ohne dabei gesellschaftliche Machtverhältnisse wie Bildungszugang, Diskriminierung oder Einkommen zu berücksichtigen.6

2. Die politischen und medialen Reaktionen

Die oben geschilderten Geschehnisse schlugen politisch und medial hohe Wellen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sprach im „Spiegel“ von „Studentengruppen“, welche sich als „Meinungszensoren“ aufspielten, und warnte vor einer „Verengung des politischen Kurses“.7 Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm Stellung und positionierte sich gegen „aggressive Gesprächsverhinderungen, Einschüchterung und Angriffe“.8

In der medialen Berichterstattung zeichneten einige Kommentator*innen ein dunkles Bild: So interpretierte der FAZ-Journalist Reinhard Müller die Proteste als Gefahr für die Demokratie in Deutschland und setzte die Protestierenden mit Nazis und faschistischen Gruppierungen gleich.9 Möller schrieb: „Ein ‚Antifaschismus‘, der gewählte Politiker demokratischer Parteien am Reden hindert oder ordentliche Professoren in ihren Vorlesungen bedroht, sollte das ‚Anti‘ streichen.“ Der Autor attestiert eine neue Art von Studierendenprotesten, gekennzeichnet von „selbstproklamierter Weltoffenheit“ und „Hypermoral“, verknüpft mit „militanter Intoleranz gegenüber Andersdenkenden“. Meinungsäußerungen und Diskussionen würden „durch Zwang und Gewalt“ erstickt. Ein Redakteur der „Bild-Zeitung“ betitelte einen Artikel mit der Überschrift: „Die Antifa gefährdet unsere Freiheit“.10 Während es sich bei Lucke um eine Person handele, der ihre Partei in den „rechtsnationalen Sumpf entglitten“ sei11, stehe auf der anderen Seite ein „linksextremer Angriff auf die Meinungsfreiheit“. Der Reporter führt aus, dass die Kritik des AStA an Luckes wirtschaftsliberalen Positionen zum Ziel habe, die Lehre „ideologisch auf Kurs [zu] bringen“. Die Protestierenden würden in diesem Unterfangen von der „Mitte der Gesellschaft“ unterstützt (ebd.).

In den exemplarisch zitierten Texten zeigt sich die Annahme einer umfassenden gesellschaftlichen Stimmung zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Zudem fällt auf, dass die Kritik an Luckes wirtschaftswissenschaftlichen Positionen abgewiesen und kaum behandelt wird.

 

3. Die Reaktion Luckes

Am 20. Oktober 2019 veröffentlichte Bernd Lucke einen längeren Text mit dem Titel „An dieser Feigheit krankt das Land“12 in der „Welt am Sonntag“. In diesem Artikel verwendet er rechtspopulistische Narrative und Kommunikationsmuster – Viktimisierung, den impliziten Verweis auf „political correctness“, die Konstruktion des „mutigen Sprechers“ der „Unsagbares“ ausspricht, Verschwörungserzählungen und Extremismustheorie.

So beginnt Lucke seine Ausführungen mit einem Vergleich: 2015 sei er auf dem AfD-Parteitag in Essen niedergeschrien und hasserfüllt beschimpft worden. Ähnliches sei ihm nun in Hamburg widerfahren. In beiden Fällen, so Lucke, hätten Gruppierungen um politische Meinungsherrschaft gekämpft: „Sie wollen darüber entscheiden, was richtig und was falsch ist.“ In diesem Zusammenhang delegitimiert Lucke die Kritik an seinen Lehrinhalten, indem er sie als Versuch bezeichnet, die Erkenntnisse der Wissenschaft politisch zu bestimmen. Und, er schlägt einen Bogen von den Protesten zu einem vermeintlich gesamtgesellschaftlich-wirkmächtigen „Mechanismus“ der organisierten Meinungsbeschränkung, mit dessen Hilfe „politische Herrschaftsansprüche“ durchgesetzt würden. Regelmäßig würden „die Positionen von politisch Andersdenkenden“ verzerrt, um die Sprechenden nachhaltig zu diskreditieren. Die Kritik am Euro, an „Greta“, die Ablehnung von Abtreibungen, Forderungen nach einem Kopftuchverbot oder die Mitgliedschaft in der AfD würden unmittelbar mit diskreditierenden Zuschreibungen verbunden. Auffällig: Lucke spricht an dieser Stelle unter Zuhilfenahme von Reizwörtern wie „Greta“13 zentrale Themen der politischen Rechten an, in diesem Fall die Opposition zur Vorstellung eines menschengemachten Klimawandels. Zugleich setzt er den Mechanismus der Diskreditierung als Normalzustand in Deutschland. Die tatsächlich ja umfassende Kritik an den Protesten erklärt er im Folgenden damit, dass der geschilderte Mechanismus überdehnt worden sei. Denn, so Lucke, nahezu alle Beobachtenden wüssten, dass er nichts mehr mit der AfD zu tun habe und die Titulierung „Nazischwein“ ihm gegenüber absurd sei.14 Die Kritik an seinen Lehrinhalten lässt Lucke somit unter den Tisch fallen und ist stattdessen versucht, seine Distanz zur AfD herauszustellen und seine Verantwortung an ihrer Entwicklung zu reduzieren. Denn, so Lucke weiter, die von ihm geführte AfD sei „politisch ganz anders verortet“ gewesen. Lucke führt aus, dass die „Verunglimpfung des politisch Andersdenkenden“, in Deutschland durch eine hegemoniale Gruppe von Anhänger*innen einer „Mehrheitsmeinung“ offensiv betrieben würde. Bereits bei leichten Abweichungen vom „allgemein akzeptierten Meinungskorridor“ würde diese Gruppe „hässliche Begriffe hervorholen“ um ihre „Meinungsherrschaft“ und ihre politische Macht zu verteidigen. Lucke verweist auf eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zur Meinungsfreiheit in Deutschland, die er dahingehend interpretiert, dass viele Menschen Angst vor sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung hätten.15 Bereits ein „kleiner Fehler“ oder eine „steile These“, würde von der genannten Gruppe (beschrieben als „Medien und politischen Gegner*innen“) herausgegriffen, und kontextlos zum Zwecke der nachhaltigen Delegitimierung der Gesamtperson verwendet. Absichtlich und mit einer gewissen Freude würden die Äußerungen anderer nach „falschen Meinungen“ untersucht. Somit entstünde ein Klima, in dem sich manche nicht mehr trauen würden, ihre „Meinung“ zu sagen. Lucke zufolge bestimme der geschilderte „Mechanismus“ auch die Parteipolitik. Führende Politiker*innen würden unangreifbare, „rund“ und „glatt“ formulierte „Floskeln und Phrasen“ verwenden, und als Vertretende der „herrschenden Meinung“ zugleich „dissentierende Stimmen“ ins Abseits schieben. Es sei kein Wunder, dass sich daher immer mehr Menschen Parteien mit „unkonventionellen Meinungen“ zuwenden würden. Diese Entwicklung, so endet sein Text, sei nur dann abzuwenden, wenn die „Feigheit“, „andere Positionen“ zu hören, abgelegt werde.

 

4. Fazit

Bernd Lucke beschwört in seinem, im Übrigen in einer auflagenstarken Zeitung an prominenter Stelle erschienenen Artikel ein Klima der Denunziation in Deutschland, welches von Angst die eigene Meinung zu sagen geprägt sei, und in dem eine hegemoniale Gruppe bestimme, was sagbar ist. Er stellt die Kritik an seinen gegenwärtigen wirtschaftswissenschaftlichen Positionen somit als ideologisch motiviert dar, immunisiert sich gegen Kritik und entzieht sich einer Auseinandersetzung über diese Positionen. Auch seine Funktion im Aufbau der AfD verharmlost er. Er nimmt stattdessen eine Form der „Täter/Opfer-Umkehr“ vor, indem er sich als Opfer „extremer“ Positionen von „links“ und „rechts“ stilisiert. Mit der Konstruktion eines von breiten Schichten (u.a. Medien und Politik) getragenen Mechanismus der Ausgrenzung aller „Dissidenten“ bedient er ein von der politischen Rechten vielfach betontes Narrativ – das der stetigen Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die Tatsache ignorierend, dass diesen Behauptungen wiederholend hohe mediale Aufmerksamkeit zuteil wird, führen vor allem die AfD und Teile der CDU diesen Kampf um die Köpfe aufs Schärfste. Zumeist nutzt sie dabei den Vorwurf der „political correctness“. Es ist wichtig herauszustellen, dass diese Argumente Teil eines rechten Kulturkampfs sind, der einen fundamentalen Wandel des Denkens in der Gesellschaft und der politischen Kultur anstrebt. Einen Wandel, welcher ihren Positionen Geltung verschaffen, und andere Positionen verstummen lassen soll. Bernd Lucke ist in dieser Entwicklung kein so bedeutender Akteur wie eine Alice Weidel, ein Jörg Meuthen oder ein Alexander Gauland. Doch verfolgt er politische Ziele und bedient dabei rechte Narrative.

1 Stand dieses Artikels ist der 29.10.2019

6 Ebd.

10 In Anbetracht der rechtsterroristischen Anschläge, welche die Republik 2019 erlebte, in Anbetracht der Bedeutung außerparlamentarischen antifaschistischen Engagements in der Aufklärung der NSU-Morde, eine gewagte Schlussfolgerung.

12 Nachzulesen auf der Homepage der Partei „Liberal-Konservative Reformer“: https://lkr.de/a-pressemitteilungen/bernd-lucke-dieser-feigheit-krankt-das-land/#

13 Gemeint ist die aktuell massiver „Hate-Speech“ ausgesetzte schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg.

14 Bernd Lucke ist sicherlich kein „Neonazi“. Auch verfolgt er keine völkisch-nationalistische Agenda. Allerdings kooperierte er bereits im Vorfeld der AfD-Gründung mit christlich-fundamentalistischen Gruppierungen wie der „Zivilen Koalition“ und arbeitete mit Personen wie Beatrix von Storch und Alexander Gauland zusammen, die ein umfassendes rechtes Projekt verfolgten. Auch ist ihm anzulasten, dass er nach dem Scheitern bei der Bundestagswahl 2013 die AfD für rechtspopulistische Kreise und Mitglieder islamfeindlicher Parteien öffnete. Auf lange Sicht bestärkte Lucke die völkischen Strömungen in der Partei, die ihn 2015 ausbooteten.

15 Andere Stimmen kritisierten die im Mai 2019 erschienene Studie dagegen als diffus und politisch nicht objektiv (siehe: https://www.zeit.de/kultur/2019-05/meinungsfreiheit-allensbach-institut-umfrage-deutschland).

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