DISS Neuerscheinung zu TV und Antiziganismus

Ab sofort lieferbar ist der Band 46 der Edition DISS im Unrast-Verlag:

Katharina Peters
Das deutsche Fernsehen und der Fall ›Rassismus‹
Mediale Inszenierungen von Sinti und Roma im Tatort und in politischen Talkshows

Das Buch ist erhältlich im guten Buchhandel oder direkt beim Unrast-Verlag.
ISBN 978-3-89771-775-6
164 Seiten, 18 EUR

 

Das vermeintliche Wissen, das über Sinti*ze und Rom*nija kursiert, ist geprägt von negativen Stereotypen bei kaum vorhandenen Kontakterfahrungen mit Angehörigen der Minderheit. Die dominierenden Bilder werden durch die Medien verbreitet und als Wahrheiten ausgegeben und rezipiert. Sie beschränken sich außerdem nicht auf Mitglieder der Minderheit, sondern werden ohne Widerspruch auf Menschen aus Bulgarien und Rumänien übertragen. Neben der emanzipatorischen Arbeit einer zunehmenden Zahl an Selbstorganisationen, ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die medialen Inszenierungen, deren Schauplätze und Akteur*innen, sowie die dahintersteckenden Wirkmechanismen und Strukturen aufzudecken.

Katharina Peters untersucht am Beispiel der medialen Inszenierung von ›Sinti und Roma‹ im deutschen Fernsehen, wie Rassismen adaptiert und verbreitet werden. Die mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien ausgezeichnete Analyse entlarvt die als Realitäten ausgegebenen Bilder in ihrer Konstruiertheit und schafft so Raum für andere Wirklichkeitsentwürfe, die ein vielfältigeres Bild zulassen und Stereotype negieren. Der diskurs- und medienwissenschaftliche Ansatz leistet einen Beitrag, Erscheinungsformen des Rassismus in Zeiten eines weltweit erstarkenden Nationalismus am Beispiel von Antiziganismus im deutschen Fernsehen detailliert zu beschreiben. Mit dem Ziel, die Sensibilität für eine diskriminierungsfreie mediale Darstellung zu schärfen und das Bewusstsein für die Realität Deutschlands als eine Einwanderungsgesellschaft zu stärken.

Katharina Peters

Katharina Peters (*1987) studierte Germanistik, Anglistik, Literatur- und Kulturwissenschaften und lebt im Ruhrgebiet. Als Mitarbeiterin am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und als Lehrbeauftragte arbeitet sie zu den Themen Rassismus, Antiziganismus und Gender Studies – insbesondere in den Medien.

Sie ist Verfasserin der Expertise Diskursivierung von ›Sinti und Roma‹ und ›Antiziganismus‹ in Bundestagsdebatten 2010 – 2019 im Auftrag der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus, in der sie die politischen Positionen der einzelnen Fraktionen und deren Argumentationsstrategien untersucht. Die Ergebnisse der Studie werden 2021 veröffentlicht.

2020 erschien der von ihr und Stefan Vennmann herausgegebene Sammelband Nichts gelernt?! Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus. Weitere Infos dazu unterwww.diss-duisburg.de.

Für die vorliegende Arbeit wurde sie mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien 2020 ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Vorspann – Die Verwischung der Grenzen im Interdiskurs Fernsehen

Drehbuch – Korpus und Struktur der Analyse
Im Visier – Sint*ezza und Rom*nja als Objekte medialer Inszenierung
Wiederholung – Die Rolle des Fernsehens
Immer wieder sonntags – Der Tatort
Modus operandi – Zur Methode

‚Sinti und Roma‘ im mediopolitischen Diskurs – Eine Spurensuche

Die Bürde der kollektiven Schuld – Armer Nanosh (1989)
Musikalität und Leidenschaft – Die schlafende Schöne (2005)
Kriminalität und Elend
Klau-Kids: aus ‚Osteuropa‘ – Brandmal (2008) und Kleine Diebe (2000)
‚Menschenhandel‘, ‚Prostitutoon‘, ‚Arbeiterstrich‘, ‚Bettel-Clans‘ und ,Müll’ – Mein Revier (2012), Angezählt (2013), Mi sanjetz da, wo’s weh tut (2016), Klingelingeling (2016)

Auflösung oder offenes Ende? Résumé und Ausblick

Literatur
Verzeichnis Filme und Fernsehsendungen
Anhang
Übersicht Tatort-Folgen
Übersicht Polit-Talkshows
Übersicht (diskursauslösende) Ereignisse und mediale Bearbeitungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Antiziganismus im Fernsehen. Analyse von Katharina Peters in der DISS Online-Bibliothek

Die WDR-Talkshow „Die letzte Instanz“ vereinte in geballter Form, was im deutschen Fernsehen schief läuft, wenn es um „kontroverse“ Themen wie Diskriminierung, Migration, Gleichberechtigung geht. Den geladenen Gästen fehlt es an Expertise, die immer-gleichen (rechts-)konservativen Positionen werden wiedergekäut und die lautesten gewinnen die meiste Redezeit. Komplexe Inhalte werden darauf runtergebrochen, „was man ja wohl noch sagen darf“ – und überhaupt, „die sollen sich nicht so anstellen“, die von Rassismus Betroffenen. „Und wer sagt denn, dass die das als Problem empfinden?“ Schließlich „kennt man einen, der einen kennt, der das überhaupt nicht schlimm findet, wenn man ihn mit der rassistischen Fremdbezeichnung anspricht“…

Die Sendung des WDR steht zu Recht unter scharfer Kritik. Allerdings ist sie nur die kondensierte Form dessen, was in deutschen Debatten-Shows gang und gebe ist. Wir nehmen die Diskussion um „Die letzte Instanz“ zum Anlass, die generellen Defizite des Formats Talkshow und das mangelnde Diversitätsbewusstsein vieler Redaktionen in den Fokus zu rücken.

In unserem Sammelband NICHTS GELERNT?! Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus erschien der Beitrag von Katharina Peters „Sind wir zu intolerant?“ Die mediale Inszenierung von ‚Sinti und Roma‘ in Polit-Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Aus aktuellem Anlass stellen wir diesen Text in der DISS Online-Bibliothek kostenlos zur Verfügung. (Hier abrufbar)

Bitte erwerben Sie dieses Buch über den Buchhandel oder direkt beim Verlag Situationspresse bestellungen@buchhandlung-weltbuehne.de
NICHTS GELERNT?!
Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus
Katharina Peters / Stefan Vennmann (Hg.)
Situationspresse (Duisburg) 2019
ISBN 978-3-935673-46-4
211 Seiten, 18 Euro

 

DISS-Journal Sonderausgabe AfD-Entwicklungspolitik

Die neue Sonderausgabe unserer Institus-Zeitschrift DISS-Journal ist kostenlos als PDF abrufbar.

DISS-Journal Sonderausgabe 3 (Dezember 2020)

Die Entwicklungspolitik der AfD
Ein Überblick über Programmatik, Praxis und Personal des Politikfeldes

Von Andrea Becker und Helmut Kellershohn

Die vorliegende Recherche untersucht die Positionierung der AfD und der parteinahen Desiderius-Erasmus-Stiftung auf den Gebieten der Entwicklungspolitik und der humanitären Hilfe. Dabei schlägt sie einen Bogen von den programmatischen Grundlagen (Policy) über die parlamentarische Praxis (Politics) und die organisatorische Verfasstheit (Polity) bis zu den handelnden Akteuren (Personal). Diese Ebenen sind inhaltlich nicht deckungsgleich, nicht alles, was programmatisch festgelegt ist, findet einen Niederschlag in der politischen Praxis. Das gilt auch umgekehrt: Gerade auch im Zuge der beständig fortschreitenden Radikalisierung und der parteiinternen Spannungslinien der AfD sind Aktivitäten und Diskurse der handelnden Akteure nicht zwingend aus den niedergeschriebenen Programmatiken ableitbar. Umso wichtiger ist darum die Gesamtbetrachtung aller Ebenen. Zu diesem Zweck wurden eine Vielzahl von themenrelevanten Quellen und Literatur ausgewertet: Parteiprogrammatische Quellen (Teil 1), thematisch einschlägige Anträge aus dem Bundestag (Teil 2), öffentlich verfügbare Informationen zur DES (Teil 3), sowie Internetauftritte, Pressemitteilungen, Facebook-Profile, YouTube-Kanäle und einschlägige rechtsalternative Medien aber auch Bundestagsreden und -anfragen (Teil 4). Diese Quellenarbeit wurde ergänzt durch die Berücksichtigung diverser investigativer journalistischer Recherchen und weiterführender Sekundärliteratur.

Dabei ist, wie für jede Auseinandersetzung mit Positionen und Inhalten der AfD, die Kenntnis neurechter und populistische Strategien der Kommunikation und der Öffentlichkeitsarbeit von grundlegender Bedeutung. Solche Kommunikationsstrategien sind asymmetrisch, d.h. sie wollen nicht in einen Dialog treten, keine Standpunkte austauschen, sondern Meinungen, Einstellungen, Werte oder Emotionen in einem bestimmten Sinne beeinflussen (vgl. hierzu Becker 2020, i.E.). Sie nutzen aggressive Stilmittel, Inszenierungen und Verschwörungsmythen mit dem Ziel einer größtmöglichen öffentlichen Resonanz. In der Praxis heißt das im Falle der AfD auch im hier speziell interessierenden Themenfeld, dass sich der forschende Blick auf die milieutypischen Kommunikationskanäle richten muss. Offene und substantielle Aussagen über Standpunkte und Diskurse der Partei und ihrer Akteure finden sich in affirmativ berichtenden rechtsalternativen Medien und YouTube-Kanälen. In Facebook-Feeds und Twitter-Accounts aller Parteiebenen und aller Funktionäre und Mandatsträger werden mit zum Teil großer öffentlicher Resonanz Themen gesetzt, Inhalte verbreitet und provokativ Aufmerksamkeit generiert. Zentraler Baustein sind Legionen von YouTube-Kanälen, die mit ungefiltertem, von kritischer Nachfrage und Einordnung ungestörtem Content – insbesondere aus den oft eigens dafür konzipierten konfrontativen parlamentarischen Auftritten – gefüllt und verbreitet werden.

INHALT

Einleitung
Teil 1: „Entwicklungspolitik nach deutschem Interesse“
I. Grundsatzprogramm 2016
II. Bundestagswahlprogramm 2017
III. Entwicklungspolitische ‚Gedankenspiele‘ im Bundestagswahlkampf 2017
IV. Europawahlprogramm 2019
V. Zwischenergebnis
Teil 2: Entschließungsanträge der AfD im Bundestag
I. Entwicklungspolitik und der Kulturkampf von rechts (hier: Christenverfolgung)
II. Die Durchsetzung von Abschiebungen
III. Kein Beitritt zum Global Compact for Migration
IV. Weltmarktkonkurrenz und Entwicklungszusammenarbeit – Die „Schwellenländer“
V. Ablehnung der Agenda 2030
VI. Entschließungsantrag zum Haushalt des BMZ 2020
VII. Rohstoffe, Entwicklungspolitik und die Zivilgesellschaft
VIII. Zwischenergebnis
Teil 3: Die Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES)
Teil 4: Politische Praxis, Personenporträts und Auslandskontakte
I. Parteiebene/Bundesfachausschuss 1
II. Politische Praxis – Politics und Personal
AK17 – Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Aktivitäten des AK17
AK 19 – Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Weitere themenrelevante Akteure
Zwischenergebnis
III. AfD im Nahen Osten
IV. Kulturkampf I: Nichtregierungsorganisationen
V. Kulturkampf II: Kolonialismus-Debatte
VI. Die Instrumentalisierung von Corona
Quellen
Literatur

Edward Curtis – The North American Indian (Interview mit Jobst Paul)

Die Bildsprache in Curtis‘ Fotografien und ihre Wirkung

Die Ausstellung „The North American Indian“ im Kultur- und Stadthistorischen Museum in Duisburg zeigt Fotos von Native Americans im frühen 20. Jahrhundert. Der Fotograf Edward Curtis wollte indigene Kultur wissenschaftlich dokumentieren. Zugleich sind seine Bilder Kunstwerke, die eine romantisch-verklärende Perspektive auf das Vergangene und Fremde offenbaren. Jobst Paul (DISS) unterzieht ausgewählte Werke einer Bildanalyse, wie sie in der Visual History üblich ist. Dabei dekonstruiert er Curtis Bildsprache und zeigt auf, wie Bilder unsere Vorstellung von der Realität beeinflussen.

The North American Indian – Die Bildsprache in Curtis‘ Fotografien und ihre Wirkung

Brexitannia – Großbritanniens Weg aus der EU

Illustratotion des WDR (eingebunden)

 

Radiofeature von Robert Tonks und Zakaria Rahmani (Regie)

Frühjahr 2020: Die ganze Welt spricht über Corona. Die ganze Welt? Nicht ganz: Im Auftrag des WDR reist der Deutsch-Brite Robert Tonks zusammen mit Zakaria Rahmani (Regie) und Iris Tonks durch Großbritannien. Sie interviewen Brexit-Wähler und Gegner, Expertinnen und Zeitzeuginnen, Heldinnen und Verlierer – und einen Professor, der als Erfinder des Brexits gilt. In vier halbstündigen Radiofeatures rekonstruieren sie die politische und ökonomische Vorgeschichte des Brexits. Einfache Erklärungen und entsubjektivierende Darstellungen vermeintlich irrer Brexiteers findet man hier nicht. Dafür erfährt man en passant dann doch, warum COVID-19 die Britten so hart treffen konnte.

Immer sonntags auf WDR 5: 8.04 – 8.35 Uhr (Wiederholung 22.30 – 23.00 Uhr).
6.12.2020: Teil 1: Der Feind im Inneren – 6. Dezember 2020
13.12.2020: Teil 2: Auf der Suche nach Middle England – 13. Dezember
20.12.2020: Teil 3: God Save the NHS – 20. Dezember
27.12.2020: Teil 4: Rule Britannia! – 27. Dezember

Oder ganz bequem und jetzt schon komplett in der
-> WDR-Audiothek

 

Mehr zum Brexit beim DISS:

It is not all English what shines

 

Kommentar zum AfD-„Sozialparteitag“

 

Der Leitantrag der Bundesprogrammkommission zum „Sozialparteitag“ der AfD. Ein Kommentar

Helmut Kellershohn

 

1. Die Sozialpolitik der AfD ist, wie bereits am Grundsatzprogramm zu erkennen, im Kern Familienpolitik. Diese wiederum steht unter dem Primat der Steigerung der Geburtenrate als Antwort auf die sogenannte demografische Krise. Sozial- bzw. Familienpolitik mit einer solchen bevölkerungspolitischen Funktion soll laut AfD dazu dienen, die Sozialsysteme zu erhalten, die „deutsche Kultur“ zu bewahren und den „Fortbestand des deutschen Volkes“ zu garantieren.

2. Familienpolitik ist ein verbindendes Element zwischen den ideologischen Strömungen der AfD: die Ordoliberalen sehen die Familie als gemeinschaftsstiftenden „Gegenhalt“ gegen die kalten Mechanismen der Marktwirtschaft; die Christlich-Konservativen betrachten die Familie als biblisch oder zivilreligiös begründete Institution; und für die Völkischen ist die Familie Garant des Ethnos als Abstammungs- und Zeugungsgemeinschaft.

3. Die Familie ist darüber hinaus der Kontrapunkt gegen die von der AfD ausgemachten Feinde und Feindbilder:

  • Gender Mainstreaming und Feminismus (‚untergräbt‘ die heteronormative bürgerliche Kernfamilie)
  • (unerwünschte) Zuwanderung (bedroht die ethnokulturelle Identität)
  • Kulturmarxismus und liberale Dekadenz

4. Im vorliegenden Leitantrag der Bundesprogrammkommission wird auch die Rentenpolitik zentral mit einer pronatalistischen Familienpolitik in Verbindung gebracht. Die Gegensätze zwischen der Position des „solidarischen Patriotismus“ (AfD Thüringen), die die umlagefinanzierte Rente auf Kosten der privaten Vorsorge ausbauen will, und der neoliberalen Position, die eine hauptsächlich kapitalgedeckte Finanzierung der Rente anstrebt, sollen in dem Leitantrag durch einen gesichtswahrenden Kompromiss, der den Fokus auf die Familienpolitik legt, abgeflacht werden.1 Das impliziert, dass die angestrebte „Reform der Rentenversicherung“ in wichtigen Punkten vage bzw. offen bleibt (z.B. Renten-Regelalter, Rentenniveau, steuerfinanzierte Grundrente, Beitragsbemessungsgrenze).

Hervorzuheben sind vier Punkte:

a) Die bisherige gemischte Finanzierung des Rentensystems (Umlage und private Vorsorge) wird beibehalten.

b) Die Schaffung von Arbeitsanreizen (unter dem Vorwand der Bekämpfung der Altersarmut) durch eine Abstandsregelung zwischen Arbeitnehmern mit geringem Einkommen und vorwiegend Arbeitslosen beim Rentenbezug.

c) Die Verbreiterung der Renten-Beitragsbasis durch die Einbeziehung von Beamten mit nicht-hoheitlichen Aufgaben, Selbstständigen (soweit sie nicht eine private Altersvorsorge nachweisen) und Politikern.

d) Die finanzielle Förderung und Stabilisierung der Familie zu Ungunsten von Kinderlosen durch eine steuerfinanzierte Beitragserstattung zur Rentenversicherung pro Kind (sog. Lastengerechtigkeit), ergänzt um eine völkische Komponente bei der privaten Vorsorge (Anlegung von staatlich finanzierten Spardepots pro Kind nur für deutsche Staatsbürger bis zum 18. Lebensjahr).

5. Neben der Propagierung einer pronatalistischen Familienpolitik wird in einem eingeschobenen Kapitel des Leitantrages die „Bedeutung von Kultur, Bildung und Forschung für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme“ (9f.) hervorgehoben. Beklagt wird zum einen das „Abschmelzen deutscher Tugenden“, die zum Kern des deutschen Kulturerbes gerechnet werden, und – mit Blick auf das hohe Produktivitätsniveau der „großen Industriekonzerne und vielen Klein- und mittelständischen Unternehmen“ – die Defizite der Bildungspolitik v.a. in den rot-grün regierten Ländern in Westdeutschland. Die ostdeutsche Bildungslandschaft wird dagegen lobend hervorgehoben, was darauf zurückgeführt wird, dass die ostdeutschen Länder nicht „durch die Zuwanderung von wenig gebildeten und gering qualifizierten Migranten seit den 60er Jahren“ betroffen gewesen seien. „Der überwiegende Teil dieser Migranten [der folgenden Generation] wird im Bildungssystem scheitern, keine qualifizierten Tätigkeiten übernehmen können und dauerhaft auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein. Deren Kosten, die von der ‚schon länger hier lebenden‘ Bevölkerung getragen werden sollen, sind eine Hypothek für die gesamte staatliche Entwicklung als Bildungs- und Technologiestandort.“

Die Defizite der Bildungspolitik, ablesbar an „internationalen Leistungsvergleichen“, beträfen auch den Hochschul- und Forschungsbereich, der „dringend auf hochqualifiziertes Personal angewiesen, das nur zu einem kleinen Teil aus dem Ausland angeworben werden“ könne.

Schlussfolgerung: „Statt Investitionen in die Asyl- und Migrationsindustrie brauchen wir massive Investititionen in Kultur, Bildung und Forschung, wenn wir die Leistungsfähigkeit unserer Sozialsysteme langfristig erhalten wollen und eine markante kulturelle Schwerpunktsetzung.“

An das Bildungssystem werden folgende Anforderungen („Kernaufgaben“) und Erwartungen gerichtet:

a) „Weitergabe von Wissen, Kompetenz und Kultur in politisch neutraler und äußerlich differenzierter Umgebung“ (s. dreigliedriges Schulsystem)

b) Entpolitisierung der Schulen bedeutet: „Konkret müssen das familienzerstörende Gendermainstreaming, die Frühsexualisierung und Projekte wie ‚Schule mit Courage, Schule gegen Rassismus‘ oder ‚Demokratie leben‘ sofort beendet werden.“

c) Bildungsexperimente sind zu beenden (Einheitsschule, Inklusion), um „junge[n] Mensche[n] zu der für sie besten Bildung“ zu verhelfen.

 

Fazit: Sozialpolitik = Familienpolitik = Bevölkerungspolitik

Die Institution, um die die AfD sich bemüht, ist die Familie im Sinne der klassischen bürgerlichen Kernfamilie. Ihre Sozialpolitik ist um den Erhalt dieser Institution und ihrer Funktionen für die Reproduktion von „Volk und Kultur“ zentriert. Dafür wird eine pronatalistische Familienpolitik als unabdingbar erachtet, nicht zuletzt in Hinblick auf die Rentenpolitik. Über die konkrete Ausgestaltung der Rentenpolitik (Finanzierung etc.) gibt es Differenzen zwischen den Lagern der AfD, die aber im Leitantrag zurückgestellt werden. Konsens ist sicherlich, dass die Familien gefördert, die Geburtenrate gesteigert und Migranten sozialpolitisch diskriminiert bzw. von bestimmten Leistungen ausgeschlossen werden sollen.

Es geht aber nicht nur um die quantitative Erweiterung des „Volkskörpers“ (quantitative Bevölkerungspolitik). Dies wird besonders in dem erwähnten Abschnitt zu „Kultur, Bildung und Forschung“ deutlich. Dort wird nämlich die ‚qualitative‘ Seite angesprochen: Nicht nur mehr Kinder sollen geboren werden, sondern solche, die die „Anforderungen einer modernen Arbeitswelt“ erfüllen können. Sie sollen Leistungsbereitschaft zeigen und leistungsfähig sein sowie das „deutsche Kulturerbe“ fortführen können. Eine bildungspolitische Gegenreform sowie die Einschränkung der Migration (fällt deutlicher aus im Europawahlprogramm, in dem von „Remigration“ die Rede ist) sollen daher die Sozial-/Familienpolitik flankieren.

 

 

 

 

1 In der Jungen Freiheit heißt es dazu: „Das eigentliche Thema des Parteitages […] hat allem Anschein nach sein Aufreger-Potential weitgehend eingebüßt. Das mag auch damit zusammenhängen, daß der Leitantrag, ohnehin ein Kompromiß zwischen der eher sozialstaatlich und der eher wirtschaftsliberal ausgerichteten Strömung, schon eine Weile vorliegt; […] ‚Bei dem Thema ist die Kuh vom Eis, da ist nichts Revolutionäres zu erwarten‘, meint ein erfahrener AfD-Politiker. Soll heißen: Weder in der einen noch der anderen Richtung würden sich maximale Forderungen durchsetzen. Spannender wird indes, wie sich die Delegierten zur Idee eines Staatsbürgergeldes stellen. Diese Form eines bedingten Grundeinkommens, verknüpft mit einer negativen Einkommenssteuer, hatte […] Rene Springer ausgearbeitet.“ (JF 49/2020, S. 4)

Corona-Solutionismus (Teil 1)

SINN UND UNSINN DER CORONA-WARN-APP

Illustration: Ja zum Schutz durch Masken, nein zur Corona Warn-AppGrafik anklicken zum Vergrößern!

Es ist derzeit unklar wann und sogar ob es einen wirksamen Impfstoff gegen das sich verändernde Corona-Virus Sars-CoV-2 geben wird. Nach aktuellem Forschungsstand ist (abhängig von der Schwere des Verlaufs der Krankheit Covid-19) nicht einmal eine andauernde Immunität bereits Infizierter gegeben. Es wurden zahlreiche Fälle von Corona-Infizierten registriert, die sich nach überstandener Krankheit erneut infiziert haben. Die Folgen der Krankheit für Herz, Lunge und Hirn können schwerwiegend sein – selbst bei vermeintlich leichter Erkrankung jüngerer „Nicht-Risiko-Patient*innen“.

Weltweit wird „bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes“ auf PCR- und (neuerdings) Antigen-Tests gesetzt um akute Infektionen zu erkennen. Viele Länder wählen zusätzlich Smartphone-Apps zur Kontaktnachverfolgung um ein individuelles Infektionsrisiko abzuschätzen und Infektionsketten nach Möglichkeit zu unterbrechen. Zusätzlich sollen Antikörpertests eine (zeitlich begrenzte) „Immunität“ als Unbedenklichkeitsnachweis bescheinigen. Dieser Text zeigt auf, wie (absehbar) wenig geeignet die derzeitige Nutzung dieser Techniken zur Bekämpfung der Pandemie ist. Es lässt sich eine Instrumentalisierung der Krise konstatieren – zur Durchsetzung einer umfassenden Herrschafts- und Kontrollstruktur, die über die Corona-Krise hinaus in einem „neuen Normal“ in Anwendung bleiben wird.

Die Corona-Warn-App
Ich verstehe die nun folgende Kritik an der Corona-Warn-App der Bundesregierung als Ergänzung und in Teilen als Aktualisierung zur bereits veröffentlichten Kritik des capulcu-Kollektivs [0].

Das Paradigma einer Kontaktnachverfolgung der (nach Möglichkeit) gesamten Bevölkerung ist unhinterfragt vom Gesundheitsministerium gesetzt worden. Debattiert wurden in der Öffentlichkeit lediglich Fragen des Datenschutzes und technische Details der Umsetzung. Apple und Google rollen mit ihren neuen Betriebssystemupgrades nun ein Fundament aus, welches auch zukünftig und für unbestimmte Anlässe eine Kontaktverfolgung per Smartphone und Bluetooth ermöglicht. Die Menge der Interessent*innen an einer solchen Kontaktverfolgung ist unüberschaubar groß: Gesundheitsämter, Repressionsorgane, aber auch Werbetreibende, Versicherungen, Datingportale und viele weitere. Wo ein Trog ist, da kommen die Schweine.

Fatal erscheint diesbezüglich das viel zu kurz greifende „Unbedenklichkeitsattest“ von „Datenschützern“ des CCC. Es ist zwar richtig, dass ein zentraler Zugriff auf die Kontaktdaten zur Zeit durch das Design der App unmöglich ist. Ein dezentraler Zugriff z.B. nach der Beschlagnahmung eines Smartphone ist in der öffentlichen Debatte kaum diskutiert: Bei derzeitigem Stand hat die App keinen verschlüsselten Container, in dem die Kontaktdaten und die verwendeten Schlüssel hinterlegt sind. Da Repressionsorgane grundsätzlich alle auffindbaren Smartphones beschlagnahmen, wäre es möglich, soziale Kontakte zumindest partiell zu rekonstruieren. Die Welle neuerlich verschärfter Polizeigesetze erlaubt diversen Behörden „Staatstrojaner“ einzusetzen, also Software unter der Kontrolle der jeweiligen Behörde auf dem trojanisierten Smartphone zu installieren und auszuführen. Das könnte die Behörde in die Lage versetzen, kontinuierlich Tagesschlüssel auszulesen zu können und damit einen Großteil der Kryptographie der App, die den Datenschutz sicherstellen soll, unwirksam zu machen. Erbeutet würde somit das was Informatiker*innen soziale Graphen nennen – also wer hat wann miteinander Kontakt gehabt. Diese Information wäre von anderer Qualität als die (bisherige) Erkenntnis, zwei Personen haben sich in der gleichen Funkzelle bzw. an einem Ort (ungefähr) gleicher GPS-Koordinaten aufgehalten.

Unbrauchbare Entfernungsabschätzung

Für die Ermittlung des Infektionsrisikos über die Corona-Warn-App werden Dauer und Nähe eines Kontakts zwischen zwei Smartphones in Bluetooth-Reichweite erfasst. Verschiedene Risiko-Konstellationen führen dazu, dass die beiden Smartphones sich in pseudonomisierten Listen merken, dass sie in Kontakt waren. Z.B. länger als 15 Minuten in weniger als 2 Meter Abstand zueinander. Da Smartphones keine Entfernungen messen können, versuchen die App-Programmierer*innen aus der gemessenen Signalstärke der empfangenen Bluetooth-Funksignale die Distanz zwischen den beiden beteiligten Smartphones zu erahnen. Das ist jedoch unzuverlässig, wie wir im Folgenden sehen werden.

Die Übertragung des Coronavirus im öffentlichen Nahverkehr wurde als eines der wichtigsten Szenarien für die digitale Kontaktverfolgung beworben. Forscher vom Trinity College in Dublin zeigten bereits im Juni 2020 [1], dass die Corona-Warn-App in Bussen und Bahnen nicht wie geplant funktioniert. Das Ergebnis der Studie ist vernichtend: Unter optimalen Bedingungen, in denen alle Passagiere die Corona-Warn-App aktiviert haben, würde kein einziger Kontakt registriert. Gemessen wurde mit fünf Android-Smartphones, die sich über 15 Minuten in einem Radius von weniger als zwei Metern befanden. Das entspricht den Vorgaben der deutschen Tracing-App.

Leith, Inhaber der Lehrstuhls für Computersysteme am Trinity College, bekräftigt: „Basierend auf unseren Messungen, ist die App in Straßenbahnen und Bussen nutzlos.“ Das Ministerium von Gesundheitsminister Jens Spahn stellt die Glaubwürdigkeit der Studie infrage und verweist stattdessen auf die Messungen des Fraunhofer Instituts, in denen „rund 80 Prozent der Begegnungen“ richtig erfasst worden seien. Hierbei verschweigt das Ministerium, dass die Tests am Fraunhofer Institut in einem großen offenen Raum durchgeführt wurden. Das Bahn-Szenario wurde dort lediglich „nachgestellt“. So lassen sich keine Reflexionen der hochfrequenten Bluetooth-Strahlung untersuchen, die gemäß der Studie die Hauptursache ist für die massiv gestörte Entfernungsabschätzung.

Die Studie macht ein grundsätzliches Problem deutlich, auf das zuvor bereits eine umfangreiche wissenschaftliche Untersuchung vom Mai 2020 [2] hinwies: Der theoretisch eindeutige Zusammenhang zwischen gemessener Signalstärke des Bluetooth-Funkchips einerseits und der Distanz der miteinander funkenden Smartphones andererseits unterliegt in der Praxis so starken Schwankungen, dass eine aussagekräftige Entfernungsmessung nicht möglich scheint. Vier voneinander unabhängige Fehlerquellen sorgen in der Summe dafür, dass ein risikoreicher zwei Meter Abstand zwischen zwei Smartphoneträger*innen für die Corona-Warn-App als sichere bis zu 20-Meter-Distanz fehlinterpretiert werden kann.

(1) Eine genaue Abstandsmessung erfordert eine optimale (parallele) Ausrichtung der Bluetooth-Antennen der beiden Smartphones. Abhängig vom Winkel der beiden Smartphones zueinander ist das empfangene Signal schwächer. Die schwächere Signalstärke wird als größere Distanz fehlinterpretiert. Dieser Effekt ist der kleinste der vier.

(2) Nimmt die Strahlung nicht (ausschließlich) den direkten Pfad zwischen Sender und Empfänger (z.B. über Reflexionen an metallischen Oberflächen wie im Fall von Bussen und Bahnen) können sich diese verschiedenen Pfade abschwächend überlagern und ebenfalls zu einer Überschätzung des Abstands führen. Dieser Effekt ist doppelt so groß wie Effekt (1).

(3) Der menschliche Körper dämpft elektromagnetische Strahlung. Befindet sich eine oder beide Smartphoneträger*innen (in der direkten Verbindungsline) zwischen den beteiligten Geräten, schätzt die App die Distanz als zu groß ein. Dieser Effekt ist dreimal so stark wie (1).

(4) Smartphones unterschiedlicher Hersteller haben unterschiedliche Bluetooth-Funkchips (mit unterschiedlicher Sendeleistung) verbaut. Selbst zwei „baugleiche“ Smartphones senden nicht in gleicher Signalstärke, denn die Bluetooth-Technologie nutzt aus Kostengründen keine geeichte Sende- und Empfangselektronik. Diese Ungenauigkeit ist im Vergleich dreimal so stark wie (1).

Fazit: Die Bluetooth-Technologie ist für die Abstandsmessung weder gedacht noch geeignet.

Verbreitung der Corona-Warn-App

Circa 19 Millionen Menschen in Deutschland haben die Corona-Warn-App runtergeladen (Stand Mitte Oktober). Wie viele sie aktiv nutzen, lässt sich nur erahnen. Es wäre sehr überraschend, wenn mehr als 80% derer, die sie in der Welle der „Gemeinsam gegen Corona“-Mobilisierung heruntergeladen haben, die App dauerhaft nutzen (Umzug auf neues Smartphone, Absprung wegen der zahlreichen Funktionsstörungen, wegen der immer noch nicht flächendeckend anonym funktionierenden Infiziert-Meldung, wegen Akku-Problemen, wegen der Notwendigkeit, die Standortermittlung zuzulassen, etc). In der Schweiz wird der Anteil der aktiven Nutzer*innen auf nur 60% der Downloads geschätzt.

Nehmen wir dennoch an, alle 19 Mio. Menschen, also 23 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nutzten die App aktiv, hätten Bluetooth permanent aktiviert und aktualisierten für die korrekte Funktionsweise einmal am Tag ihre Kontaktlisten, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen mit installierter Corona-Warn-App aufeinandertreffen bei gerade mal 5 Prozent aller Begegnungen. Das heißt in 95 Prozent aller Kontakte kann keine nachträgliche Kontaktrekonstruktion stattfinden, schlicht weil nicht beide die App installiert haben. Es drückt eine gewisse Hilflosigkeit der Bundesregierung gegenüber der Pandemie aus, wenn die App als der zentrale Baustein zur Virus-Bekämpfung dargestellt wird, dieser Baustein in 95% aller Fälle aber gar nicht zur Anwendung kommen kann.

Nach anfänglich raschem Anstieg der Download-Zahlen verzeichnet das RKI in letzter Zeit nur noch geringen Zuwachs. In Deutschland haben 57,7 der 83,2 Mio. Einwohner ein Smartphone, 20% von diesen jedoch ein zu altes. Das bedeutet: nur 55 Prozent der Bevölkerung kommt überhaupt für die Corona-Warn-App in Frage. Würden alle, die könnten, die Corona-Warn-App herunterladen, aktivieren und „pflegen“, dann läge die Wahrscheinlichkeit, dass die App ein Kontaktereignis zwischen zwei in Deutschland lebenden Personen nachvollziehbar macht, immer noch lediglich bei 30 Prozent. Das heißt: selbst eine Verpflichtung zur Nutzung der Corona-Warn-App würde weniger als ein Drittel der potenziell infektiösen Kontakte registrieren können. Ein beschämendes Resultat für das RKI, die Politik und eine kritische Öffentlichkeit, die sich technikgläubig an einen bereits (konzeptionell) abgeknickten Strohhalm klammert.

Hat sich die App dennoch bewährt?

Bisher wurden gemäß RKI 10.000 Infiziert-Meldungen über die Corona-Warn-App registriert (Stand Mitte Oktober). Das sind gerade einmal die Anzahl an Neuinfektionen eines Tages(!) in der nun aufkommenden zweiten Welle. Also, eine magere Ausbeute für derzeit vier Monate App-Geschichte. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums würden zudem nur sechs von zehn positiv getesteten Nutzer*innen ihr Ergebnis in der App melden. Das kann an der immer noch nicht überall anonymen (telefonischen) Meldeprozedur liegen. In Österreich fällt das Zwischenurteil mit einer Million Downloads und nur 412 Infektionsmeldungen ähnlich bescheiden aus. Auch in Ländern wie Frankreich und Italien bleibt der Nutzen (erwartungsgemäß) weit hinter den „Erwartungen „ zurück.

So ist es verständlich, wenn Mitarbeiter*innen der Gesundheitsämter mitteilen, dass sich ihre Arbeit „durch die App in keiner Weise vereinfacht hat“. Der Beitrag der App zur Bewältigung des Infektionsgeschehens ist nicht messbar. Hier wird (bewusst) eine Überwachungsstruktur mit massivem Missbrauch-Potenzial ausgerollt ohne auch nur die Aussicht auf einen positiven Beitrag zu haben. In einer Meta-Studie werteten Braithwaite et. al über 100 Studien zur Effizienz verschiedener Corona-Warn-Apps weltweit aus: „Es wurden keine empirischen Belege für die Wirksamkeit der automatisierten Ermittlung von Kontaktpersonen (in Bezug auf die ermittelten Kontakte oder die Reduzierung der Übertragung) gefunden.“ [4]

Fazit: Die Corona-Warn-App ist kein geeignetes Instrument, die manuelle Kontaktrekonstruktion der Gesundheitsämter zu automatisieren bzw. spürbar zu erleichtern.

Zweifelhaftes Vertrauen in Google und Apple

Die Bundesregierung versuchte eine zentrale Lösung durchzusetzen, scheiterte aber zum einen an der öffentlichen Debatte und zum anderen an den Smartphone-Betriebssystemherstellern Apple und Google. Letztere hatten eine dezentrale Lösung erzwungen, die ihnen allein (exklusiven) Zugriff auf die Tracing-Daten ermöglicht: Gesundheitsämter und Ermittlungsbehörden müssten die Daten bei Apple oder Google anfordern, um einen Kenntnisstand analog einer zentralen Lösung zu erlangen. Mittlerweile ist die Kontaktnachverfolgung als Anwendung ins Betriebssystem der beiden Hersteller gewandert, die der Anwender auf Wunsch bewusst ausschalten muss. Die befürchtete „Normalisierung“ dieser Funktionalität ist also eingetreten – sie wird „nach Corona“ nicht wieder entfernt werden.

Für eine korrekte Funktionsweise der Corona-Warn-App muss bei einem Smartphone mit dem Google-Betriebssystem Android die Standortermittlung aktiviert sein. Das erlaubt anderen Apps auf dem Smartphone die Standortdaten auszuwerten und aufzuzeichnen. Für Android gilt die für das Tracing notwendige Bluetooth-Technologie als Standortdienst, deshalb müssen diese Dienste aktiviert werden; GPS gehört ebenfalls dazu. Die Ortskoordinaten werden zwar nicht von der Corona-Warn-App genutzt, so das Robert-Koch-Institut, aber Google zeichnet die Standortdaten mit Zeitstempel auf. Nutzer*innen bleibt bislang nichts anderes übrig, als Google zu vertrauen. Das hat sich bislang noch nie als gute Idee erwiesen: Eine (per Ausnahmezustand im Infektionsschutzgesetz begründete) Kooperation von Google mit den Gesundheitsämtern könnte aus dem anonymen Tracing nachträglich ein personalisiertes Tracking machen. Die Daten liegen aufgezeichnet vor.

Sicherheitsforscher*innen der Universität Marburg hatten zudem bereits im Juni nachgewiesen, dass ein Angriff auf das Google-Apple-Protokoll der Corona-Warn-App sogar Dritten das Erstellen von Bewegungsprofilen ermöglicht [5].

“Download und Nutzung der App sind vollkommen freiwillig.”

Diese Zusicherung der Bundesregierung war absehbar hohl. Auch wenn niemand per Gesetz zur Installation der Corona-Warn-App gezwungen wird, ist das eingetreten, was ich in einem Gedankenspiel Anfang April befürchtet habe. Privatwirtschaftliche Unternehmen und Dienstleister knüpfen ihre Dienstleistung oder ihr Arbeitsangebot an die Voraussetzung, die Corona-Warn-App installiert und aktiviert zu haben. Gesellschaftliche Teilhabe wird damit faktisch und unfreiwillig beschnitten.

Ich habe Kenntnis darüber erlangt, dass mehrere Arbeitgeber in der Altenpflege und in der Gastronomie von ihren Mitarbeiter*innen verlangen, die App auf dem Smartphone aktiviert zu haben. Ein Campingplatz im Landkreis Aurich lässt nur noch Camper mit Corona-Warn-App aufs Gelände [3]. Auf Nachfrage hat das drei Gründe: zum einen, erhofft sich der Betreiber tatsächlich mehr Sicherheit für sich und seine Mitarbeiter*innen, zum anderen wirbt er mit dieser „Hygiene-Maßnahme“ als besonders verantwortungsbewusst. Der dritte Grund ist bemerkenswert: Durch die Maßnahme will er „in erster Linie verhindern, dass Urlauber auf seinen Campingplatz kommen, die das Thema Corona nicht ernst nehmen oder sogar leugnen.“ Hier wird eine Art Gesinnungsprüfung vorgenommen und die Bandbreite des Diskurses von „Corona fürchten“ bis leugnen auf die Bereitschaft zur Installation der App reduziert.

Solutionismus – Technische Lösung eines Ersatzproblems

In der Technologiekritik kursiert seit einigen Jahren der Begriff des „Solutionismus“. Er beschreibt die selbstbewusste „Lösungsorientierung“ einer technozentrierten Kaste von Ingenieur*innen und Programmierer*innen, die jegliche (auch soziale) Probleme für technisch beschreib- und lösbar hält. Solutionismus sucht nach Lösungen über (neue) Technologien, die vielfach an den Problemen vorbeigehen. Das eigentliche Problem wird wie im Fall der Corona-Warn-App zwar nicht gelöst, aber für lösbar erklärt – wenn nur genügend Leute mitmachen .

Die Solutionist*in löst zu ihrer eigenen Legitimation als „Problemlöser*in“ technologisch fassbare, leichter zu lösende Ersatzprobleme, die sich die Technokrat*in gerne zunutze macht. Gemeinsam suggerieren Solutionist*in und Technokrat*in die Kontrollierbarkeit selbst von (denormalisierenden) Krisenphänomenen wie eine Pandemie oder menschengemachter Klimawandel.

Der Solutionismus steht dabei vielmehr für die Vertauschung von Problem und Lösung: Statt ein Problem mit einer technischen Erfindung zu lösen, preist die Solutionist*in technische Erfindungen als Lösung für Probleme an, von denen man nicht weiß, nicht wissen will, oder verschleiern will, welcher Art und Komplexität sie sind. Der Solutionismus gibt vor, mit seinen „pragmatischen“ Problemlösungsstrategien „post-ideologsch“ zu sein. Tatsächlich ist die Radikalität, mit der Technokrat*innen den Solutionismus zum einzig „denkbaren“ Ansatz für gesellschaftliche Probleme erheben, alles andere als unideologisch. Man muss die konsequente Art, lediglich digitale Pflaster auf die eklatantesten Wunden eines krisenhaften Kapitalismus zu kleben, sehr wohl als Ideologie, – nämlich als Ideologie der „Politik-Vermeidung“ – begreifen. Mit der machtvollen Neusetzung gesellschaftlicher Strukturen im Zuge der Renormalisierung (nach der Pandemie) etablieren Solutionismus und Technokratie eine „neue Normalität“ und machen ihrerseits wirkungsvoll (eine andere) Politik. Die neu geschaffenen digitalen (Lösungs-)Welten sind dabei Orte der Spaltung und Individualisierung, nicht der gegenseitigen Hilfe und Solidarität.

Guido Arnold – Mitarbeiter im DISS
30.10.2020

-> siehe auch: Kritisches Statement zur geplanten Corona-App (capulcu, April 2020)

[0] Die „freiwillige“ Corona-Warn-App in der Broschüre DIVERGE, capulcu 2020
https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2020/06/DIVERGE-small.pdf
[1] https://www.scss.tcd.ie/Doug.Leith/pubs/luas.pdf
[2] https://medium.com/personaldata-io/inferring-distance-from-bluetooth-signal-strength-a-deep-dive-fe7badc2bb6d
[3] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Krummhoern-Campingplatz-macht-Corona-App-zur-Pflicht,coronaapp154.html
[4] https://www.thelancet.com/journals/landig/article/PIIS2589-7500(20)30184-9/
[5] https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/forscher-entdecken-sicherheitsluecke-bei-corona-apps-16812694.html

 

Fluchtdiskurs in deutschen Medien

Fluchtdiskurs in deutschen Medien

Workshop des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS)
> für Student*innen und andere Interessierte <

Es sind noch Plätze frei.

Dank der freundlichen Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung ist die Veranstaltung kostenlos.

Freitag, 4.12.2020, 12:00 – 17:00
in den Räumen des DISS in der Siegstraße 15 in 47057 Duisburg.

Nur mit Anmeldung: siehe Link unten

„Oder soll man es lassen?“, fragt die Wochenzeitung DIE ZEIT am 12. Juli 2018 und lässt dis-kutieren, ob es legitim sei, wenn private Helfer*innen Geflüchtete im Mittelmeer aus Seenot retten. So wird die Alternative ins Spiel gebracht, sie vorsätzlich ertrinken zu lassen. Das schließt an die Diskreditierung von Hilfe für Geflüchtete an, wie wir sie häufiger beobachten können, seit 2015/16 die Willkommenskultur in eine Abschiebekultur umgekippt ist.

Die Antwort gibt Carola Rackete ein Jahr später, …

-> Flyer: Weiterlesen und Anmeldung

     

 

Nachruf in analyse & kritik

Nachruf von Regina Wamper, Sebastian Friedrich, Sara Madjlessi-Roudi und Jens Zimmermann auf Prof. Dr. em. Siegfried Jäger in der Zeitschrift analyse & kritik Nr. 663 vom 15. September 2020 (S. 5).

Gegen den Strich

Der Duisburger Diskursanalytiker Siegfried Jäger ist im Alter von 83 Jahren gestorben

Von Regina Wamper, Sebastian Friedrich, Sara Madjlessi-Roudi und Jens Zimmermann

Eigentlich wird im Besprechungsraum des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung nicht geraucht. Doch das scherte Siegfried Jäger, den wir alle nur Sigi nannten, wenig. Auch ohne die Autorität des Institutsgründers hätte er sich während der Diskussion genüsslich eine Zigarette angezündet. Als er mal aufgefordert wurde, doch bitte die Kippe auszumachen, fluchte er, argumentierte eloquent mit Foucaults Bio-Politik und zog ein weiteres Mal demonstrativ an seiner Zigarette.

Vom französischen Philosophen Michel Foucault, der Sigi wie kein zweiter geprägt hatte, gibt es eine interessante Passage zur Herrschaft im Kapitalismus: »Die Bourgeoisie ist intelligent, scharfsichtig und berechnend. Keine Herrschaftsform war jemals so fruchtbar und damit so gefährlich, so tief eingewurzelt wie die ihrige. Wenn man ihr laute Anklagen entgegenschleudert, wird sie nicht umfallen; sie wird nicht verlöschen wie eine Kerze, die man ausbläst.« Das wusste Sigi nur allzu gut, forschte und publizierte er mit dem DISS hauptsächlich zu den Themen extreme Rechte, Rassismus, Nationalismus, Neoliberalismus, Militarismus und Biopolitik; zu Themen also, die im Laufe seines wissenschaftlichen und politischen Lebens nicht gerade an Relevanz verloren haben – im Gegenteil.

Sigi war seit 1972 Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Duisburg. Bis in die 1970er noch stark vom Marxismus geprägt, widmete er sich ab den 1980er Jahren dann vor allem Foucault. 1987 gründete er mit seiner Frau Margarete Jäger und anderen das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Ein linkes, undogmatisches, unabhängiges Institut. Zentrales Motto: Wissenschaft gegen den Strich. In diesem Sinne wurde dort, federführend von Sigi, die Kritische Diskursanalyse (KDA) entwickelt.

In die gesellschaftliche Debatte intervenieren

Auch durch den Austausch mit seinem Umfeld und seinen Studierenden beschäftigte er sich seit den 1980er Jahren mit der Neuen Rechten. Zentral war dabei, völkisches Denken nicht als etwas zu verstehen, das lediglich exklusiv für einige wenige Splittergruppen ist. Gerade weil der völkische Nationalismus in der »Mitte der Gesellschaft« verankert ist, geht von ihm eine gesamtgesellschaftliche Gefahr aus.

Ähnliches gilt für ein weiteres für Sigi wichtiges Thema: In den frühen 1990er Jahren, in der Zeit der Pogrome und Morde gegen Migrant*innen, Geflüchtete und neuerlich erstarkender rassistischer und nationalistischer Diskurse wandte er sich der Analyse des alltäglichen und institutionalisierten Rassismus zu, in einer Zeit wohlgemerkt, in der ein Großteil der Meinungsmacher*innen noch immer davon ausging, Rassismus aka »Ausländer- « oder »Fremdenfeindlichkeit« seien mit dem Ende des NS von der Bildfläche verschwunden. Mit den Publikationen wie »Brandsätze« intervenierte das DISS in die Erzählung, Rassismus könne wirksam durch eine Beschneidung des Asylrechtes begegnet werden. Dabei hob das Institut die Mitverantwortung von Medien und Politik an den Angriffen hervor.

Für Sigi war immer klar: Wissenschaft muss eingreifend sein. Diese Devise vertrat Sigi auch bei wissenschaftlichen Konferenzen, wo er sich dann eben von so manchen Kolleg*innen anhören musste, das DISS betreibe eher politischen Aktivismus als objektive Wissenschaft.

Sigi wusste mit Foucault, dass Wissensproduktion immer auch Wahrheitsproduktion ist. Wer anderes behauptet, so Sigi, spielt eine machtvolle Karte aus, macht sich und die wissenschaftlichen Wahrheiten unangreifbar. Und diese akademische Unangreifbarkeit, also Wissenschaft, die Konsens erzeugt, war Sigi zutiefst suspekt. So verachtete er die »akademischen Esel, ihre Dumpfheit und Kurzsichtigkeit, die Wissens- und Kritikfeindlichkeit der heutigen Universität insgesamt«, wie er 2007 in einem Nachruf auf Alfred Schobert schrieb.

Dass die Herrschaftsform nicht einfach umfallen wird, rechtfertige eine gewisse Traurigkeit, fährt Foucault in der Passage über die bürgerliche Herrschaft des Kapitalismus fort. »Umso mehr gilt es, in dem Kampf so viel Fröhlichkeit, Helligkeit und Ausdauer wie nur möglich hineinzutragen. Wirklich traurig wäre, sich nicht zu schlagen.« Mit solcher Leidenschaft begab sich auch Sigi in Auseinandersetzungen. Wenn wir abends nach der Diskurswerkstatt länger auf ein paar Gläser Wein zusammen saßen, fragte er meist als erstes, was es Neues aus den politischen Zusammenhängen gebe, in denen wir zu diesem Zeitpunkt jeweils unterwegs waren. Die grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse, die radikale Herrschaftskritik war das, was Sigi immer Orientierung war. Am 16. August · 2020 ist er gestorben.

Regina Wamper, Sebastian Friedrich, Sara Madjlessi-Roudi und Jens Zimmermann haben mit Siegfried Jäger am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) zusammengearbeitet.

Workshop für Journalist*innen: Fluchtdiskurs in deutschen Medien, Freitag, 23.10.

Fluchtdiskurs in deutschen Medien

Workshop des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS)
> für Journalist*innen <

Dank der freundlichen Unterstützung der Rosa Luxemburg Stiftung ist die Veranstaltung kostenlos.

Freitag, 23.10.2020, 13:00 – 17:15
in den Räumen des DISS in der Siegstraße 15 in 47057 Duisburg.

Nur mit Anmeldung: siehe Link unten

Kritischer Journalismus stellt immer wieder vor Herausforderungen. Wie kann man vielfäl-tig und kritisch über Themen wie Flucht, Seenotrettung oder Integration schreiben, ohne in Fallen zu tappen? Welche Bilder und Aussagen können ungewollt Rassismus und autoritäre Vorstellungen bestärken?

-> Flyer: Weiterlesen und Anmeldung