Radio Corax Halle: Talk über Fluchtstudie des DISS

Im deutschen Diskurs sind Geflüchtete keine Subjekte

Wie die Kriminalisierung von Seenotrettung im Fall von Carola Rackete und der Brand im September 2020 im Geflüchtetenlager Moria medial aufgegriffen wurden, ist Gegenstand des Buchs „Deutsche Rettung? Eine kritische Diskursanalyse des Fluchtdiskurses um Carola Rackete und Moria“. Darin wird genau das Sprechen über die beiden Ereignisse untersucht und gezeigt wie über Geflüchtete und Flucht gesprochen wird. Radio Corax sprach mit Milan und Anna, die an dem Buch mitgeschrieben haben, über ihre Ergebnisse und welche Rolle diese auch für die weitere Solidaritätsarbeit mit Geflüchteten spielen kann.

Das Buch „Deutsche Rettung? Eine kritische Diskursanalyse des Fluchtdiskurses um Carola Rackete und Moria“ ist vergangenen Februar im Unrast Verlag erschienen.

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Flüchtlingshilfe von unten

Spendenaufruf Medico International
Flucht aus der Ukraine

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Jetzt gilt es, die Netzwerke der Solidarität zu unterstützen und zu ermöglichen, dass Menschen an- und weiterkommen.

Wir wissen nicht, was in den nächsten Tagen noch passieren wird. Es ist Krieg in der Ukraine und er betrifft Millionen Menschen. Sie bringen sich vor den russischen Angriffen in Sicherheit und fliehen aus Angst vor dem, was noch kommen mag, in die Nachbarländer, in die Europäische Union. In Polen werden zurzeit bis zu 3 Millionen Menschen erwartet, über 300.000 sind bereits angekommen. Dazu wird es Millionen Binnenvertriebene und Flüchtlinge in anderen angrenzenden Ländern geben.

Auf Hilfe von außen hat niemand gewartet. Innerhalb von Stunden sind Netzwerke der Solidarität entstanden, die wichtige Telefonnummern, Tipps zu Grenzübergängen, Asylfragen und andere nützliche Informationen teilen. Willkommenskomitees geben an den Grenzen warme Getränke aus. Inzwischen sind Hilfsorganisationen vor Ort und es gibt staatliche Unterstützung für die Flüchtenden. Ukrainischen Flüchtenden stehen die Grenzen offen, es gibt Zusagen der EU für Aufnahme. Das ist gut so. Es gibt jedoch tausende Menschen, für die dies nicht gilt. Menschen aus afrikanischen und arabischen Ländern, die sich in der Ukraine aufhalten müssen an der Grenze oft stundenlang warten. Haben sie es dennoch nach Polen geschafft erreicht sie keine gleichberechtigte Hilfe.

Jetzt gilt es, die Netzwerke der Solidarität zu unterstützen und zu ermöglichen, dass alle Menschen an- und weiterkommen. Auch in Deutschland gibt es erste Aufrufe in die Netzwerke der Willkommensstrukturen. Vieles erinnert an 2015 und profitiert von dem, was damals entstanden ist.

Die medico-Partner:innen der polnischen Grupa Granica sind an der ukrainischen Grenze aktiv. Sie bauen ihre Hilfsnetzwerke aus – auch in der Ukraine – teilen Informationen und leisten praktische Hilfe für die Flüchtenden aus der Ukraine. Sie unterstützen besonders diejenigen, die ohne ukrainischen Pass an der Grenze ankommen und organisieren Schlafplätze und juristische Beihilfe für die Flüchtenden. Grupa Granica ist ein Netzwerk aus verschiedenen Initiativen, die medico seit letztem Winter unterstützt. Das Netzwerk kümmert sich bis heute um Geflüchtete, die an der polnisch-belarussischen Grenze aufgehalten und zurückgedrängt werden. Auch sie dürfen jetzt nicht vergessen werden.

Mit einer Spende unter dem Stichwort „Flucht und Migration“ können Sie die Arbeit des medico-Partners Grupa Grancia in Polen unterstützen.

-> Wir bitten um Spenden unter dem Stichwort „Flucht und Migration“

-> Hintergrund: Wie konnte es soweit kommen?

DISS Neuerscheinung zum Fluchtdiskurs

Ab sofort lieferbar ist der Band 47 der Edition DISS im Unrast-Verlag:

Judith Friede, Louis Kalchschmidt, Fabian Marx, Anna-Maria Mayer, Benno Nothardt, Milan Slat, Christian Sydow

Deutsche Rettung?
Eine Kritische Diskursanalyse des Fluchtdiskurses um Carola Rackete und Moria

Das Buch ist erhältlich im guten Buchhandel oder direkt beim Unrast-Verlag.

ISBN 978-3-89771-776-3
Münster: Unrast-Verlag, 2022
310  Seiten, 24 €

 

Inhalt

Als im Juni 2019 die Kapitänin Carola Rackete dem Verbot trotzte, mit dem Seenotrettungsboot »Sea-Watch 3« im Hafen von Lampedusa anzulegen und daraufhin festgenommen wurde, brach sich eine mediale Welle der Solidarität Bahn.

Während die ZEIT noch 2018 in einem viel diskutierten Beitrag gefragt hatte, ob Seenotrettung von Geflüchteten nicht besser zu lassen sei, wurde nach der Verhaftung Racketes die Kriminalisierung humanitärer Rettungsmaßnahmen im medialen Diskurs Deutschlands unsagbar. Stattdessen rückte das Leid von Geflüchteten ins Scheinwerferlicht und Seenotretter*innen wurden als Held*innen gefeiert.

Ein Jahr später geriet die Abschottungspolitik der EU in den Fokus der medialen Öffentlichkeit, als im September 2020 das Geflüchtetenlager Moria fast komplett abbrannte. Die katastrophalen Zustände im Lager wurden scharf kritisiert; sie seien, so der Vorwurf, von Griechenland gewollt, dienten zur Abschreckung und würden von den anderen EU-Staaten insgeheim gebilligt.
Die vorliegende kritische Diskursanalyse der medialen Debatte über diese beiden Ereignisse untersucht Struktur und Verschiebungen des Sagbarkeitsfeldes, widmet sich Kollektivsymbolik und Held*innenkonstruktionen und sucht Antwort auf eine Reihe von Fragen: Inwieweit bietet der Diskurs Anschlussstellen für humane Positionen? Wo lauern Gefahren? Wird auch mit Geflüchteten diskutiert oder nur über sie? Und wird in diesem Fluchtdiskurs womöglich eine moralische deutsche Rettung inszeniert, die die Mitschuld am Sterben im Mittelmeer verdecken soll? Die Struktur- und Feinanalysen zu einzelnen Zeitungen sowie zur Held*innenkonstruktion, die auch einzeln gut lesbar sind, ermöglichen einen Einblick in transportiertes Wissen und Vermittlungsweisen, die auf den ersten Blick gar nicht auffallen. So wird nicht nur deutlich, was besser nicht gesagt würde, sondern auch, welche Themen und Aussagen im Sagbarkeitsfeld fehlen.

-> Leseprobe: Einleitung

-> Inhaltsverzeichnis

 

Dank

Wir danken ganz herzlich der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ein Projekt des DISS zur Konzeption von Workshops zum Flucht- und Migrationsdiskurs in deutschen Medien unterstützte, in dessen Kontext auch diese Studie entstanden ist.

 

Workshops / Vorträge

Bei Interesse an der Wiederholung eines Workshops wenden Sie sich gerne an das DISS.

 

 

 

 

 

 

 

 

DISS-Journal 42 erschienen

Die neue Ausgabe unserer Institutszeitschrift DISS-Journal ist erschienen und kostenlos als PDF-Datei abrufbar.

 

Vorwort

Der 9. November ist sicherlich ein schwieriger Tag der Erinnerung an die deutsche Geschichte. Anton Maegerle schreibt in einem aktuellen Beitrag für den DISSkursiv-Blog, der 9. November markiere „den Beginn der ersten deutschen Republik [1918], den Versuch eines rechtsextremen Umsturzes [1923], das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung [1938] und den Fall der Berliner Mauer [1989]“. Und: „Weitgehend in Vergessenheit ist geraten, dass – auch an einem 9. November – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde: Robert Blum.“ Es wäre absolut unangemessen, diese Erinnerungsdaten miteinander zu verrechnen, eine Art Plus-Minus-Rechnung aufzumachen. Etwas anderes gilt: Die Verhinderung (1848) bzw. die Zerstörung der Weimarer Demokratie waren die Voraussetzung für die Etablierung einer halbabsolutistischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. und das Vernichtungswerk des Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1918 und 1989 wiederum stehen für eine andere Problemstellung: Während Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die „deutsche Republik“ ausrief, proklamierte Karl Liebknecht etwas später am selben Tag die „freie sozialistische Republik“ – freilich ohne nachhaltige Wirkung. Die hier offenbar werdenden Gegensätze in der Arbeiterbewegung, von denen der Faschismus profitierte, verhinderten einen historischen Kompromiss zwischen Demokratie und Sozialismus, den auch unter anderen Vorzeichen die DDR nicht zu realisieren vermochte. Der 9. November 1989 war die ‚logische‘ Konsequenz.

Die Erinnerung an den 9. November als dem ‚Schicksalstag‘ der deutschen Geschichte wird immer verbunden sein mit der Frage nach der Zukunft der Nation. Wird sie aufgehen in den „Vereinigten Staaten von Europa“, die von Ernest Renan in seiner berühmten Rede über das Prinzip „Nation“ als „wahrscheinlich“ prognostiziert wurden? Wird es möglich sein, die Verbindung von Demokratie und Sozialismus unter den Bedingungen der „Klima-Krise“ auf die Tagesordnung der politischen Agenda zu setzen? Andeutungsweise, aber mit Optimismus hat die jüngste Abgeordnete im Bundestag, die 23-jährige Emilia Fester von den Grünen, auf der offiziellen Gedenkveranstaltung im Schloss Bellevue diese Problemstellung angesprochen. „Sie betonte in ihrer Ansprache, die derzeitigen Probleme wie die Klimakrise und die ungleiche Verteilung von Reichtum seien lösbar. Ein ‚Weiter-So‘ gehe aber nicht. Auch daran erinnere der 9. November 1918.“

Das vorliegende Heft des DISS-Journals ist kein Gedenkheft zum 9. November. Gleichwohl ist dieser Tag, um es mit dem Bundespräsidenten zu formulieren, auch für uns „ein Tag zum Nachdenken über unser Land“. Es kommt aber darauf an, über welche Fragen und wie nachgedacht werden muss. Über Beiträge aus dem Kreis der Leserschaft des DISS-Journals würden wir uns freuen.

Helmut Kellershohn

 

Inhalt

Ökotechnokratie
‚SMARTE ÖKOLOGIE‘
Von Guido Arnold

Der Reset der Großen Transformation
Von Andrea Becker

Ein- und Ausschließungsmuster in der Bevölkerung
Von Peter Höhmann

Etwas mehr Diversität im Bundestag
ABER DER FLÜCHTLING TAREQ ALAOWS MUSS SEINE KANDIDATUR ZURÜCKZIEHEN

Stolpersteine für schwule Männer
AUCH IN DUISBURG NICHT LÄNGER VERSCHWIEGEN
Von Jürgen Wenke

Gleichstellung oder Ökonomie
DIVERSITÄTSKONZEPTE INTERNATIONALER UNTERNEHMEN IM VERGLEICH
Von Sarah Bungard

Tragische Einzelfälle?
WIE MEDIEN ÜBER GEWALT GEGEN FRAUEN BERICHTEN.
Christine E. Meltzer: Tragische Einzelfälle?
Rezension von Louisa Brand

Moria. System. Zeugen.
EIN BILDBAND ÜBER DAS FLÜCHTLINGSLAGER MORIA
Martin Gerner: Moria. System. Zeugen.
Rezension von Benno Nothardt

Von „America First“ zu „America Second?“
DIE USA, CHINA UND DER WELTMARKT
Christoph Scherrer: America Second?
Rezension von Wolfgang Kastrup

Arbeiter*innen und ihre Sympathien für die radikale Rechte
„IN DER WARTESCHLANGE“
Klaus Dörre: In der Warteschlange.
Rezension von Wolfgang Kastrup

„Mythos Mitte“ und die Klassenfrage
Ulf Kadritzke: Jenseits von „Mitte und Maß“.
Rezension von Wolfgang Kastrup

Thomas Biebricher: Die politische Theorie des Neoliberalismus
Rezension von Helmut Kellershohn

Liberale Traditionen und Faschismus
EIN ISRAELISCHER HISTORIKER THEMATISIERT EINEN BRISANTEN ZUSAMMENHANG
Ishay Landa: Der Lehrling und sein Meister.
Rezension von Helmut Kellershohn

Philosophische Aufarbeitung:
Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus
Werner Konitzer u.a. (Hg.): Vermeintliche Gründe.
Rezension von Stefan Vennmann

Neues aus dem Institut

DISS-Kolloquium
„DIE CORONA-KRISE – DER WEG IN EINE NEUE NORMALITÄT?“

 

9. November. Trauer- und Freudentag

9. November. Trauer- und Freudentag

von Anton Maegerle

Der 9. November gilt als „Schicksalstag“ in der deutschen Geschichte. Er markiert den Beginn der ersten deutschen Republik, den Versuch eines rechtsextremen Umsturzes, das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung und den Fall der Berliner Mauer. Weitgehend in Vergessenheit ist geraten, dass – auch an einem 9. November (1848) – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde: Robert Blum.

Am 7. November 1938 verübte der in Deutschland aufgewachsene Hershel Grynszpan, ein siebzehnjähriger Jude polnischer Nationalität, in den Räumen der deutschen Botschaft in Paris ein Attentat auf den Legationssekretär Ernst von Rath. Der deutsche Diplomat, seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SA, erlag seinen Schußverletzungen am 9. November 1938. Vorangegangen war dem Anschlag die gewaltsame Abschiebung von mehr als 12.000 polnischen Juden aus dem Reichsgebiet an die deutsch-polnische Grenze. Die NS-Machthaber nahmen das Attentat zum Anlass, ein als „Sühneakt“ getarntes Pogrom gegen die angebliche „Verschwörung des Weltjudentums“ zu inszenieren.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ließ verkünden: „Der Jude Grynszpan war Vertreter des Judentums, der Deutsche von Rath war Vertreter des deutschen Volkes. Das Judentum hat also in Paris auf das deutsche Volk geschossen.“ Goebbels rief am Abend des 9. November 1938 im Alten Münchner Rathaussaal vor „Alten Kämpfern“ der NSDAP, die sich zum alljährlichen Gedenken an Hitlers gescheiterten Putsch am 8. und 9. November 1923 versammelt hatten, zu „Vergeltungsmaßnahmen“ und „Aktionen gegen die Juden“ auf. Der Auftakt zu Plünderung und Mord an Juden im ganzen Deutschen Reich war getan.

In einem Fernschreiben teilte die Berliner Gestapo „allen Stapo-Stellen und Stapo-Leitstellen“ mit: „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen, stattfinden. Sie sind nicht zu stören.“ SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich fügte in einem Fernschreiben am Folgetag hinzu: „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist).“ Dem organisierten Wüten von SA, SS, HJ und anderen NSDAP-Angehörigen fielen – unter offener Duldung der Polizei – insgesamt etwa 100 Juden zum Opfer. Ca. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslagern interniert. Rund 9.000 jüdische Einrichtungen wurden zerstört. Schlägertrupps zündeten in vielen deutschen Städten Hunderte Synagogen an.

Abgefackelt wurde auch die Synagoge im badischen Bretten, der Geburtsstadt des bekannten Humanisten Philipp Melanchthon. Der Nachwelt erhalten blieb die Rechnung der lokalen Tankstelle an die Gemeinde Bretten über die Benzinkosten für den Synagogenbrand. 50 Liter Benzin (Shell) hatte die Brettener Freiwillige Feuerwehr zum Brand der Synagoge benötigt. Kosten: 19,50 Reichsmark. Die Synagoge ging, so ein Schreiben des örtlichen SS-Führers an die 62. SS-Standarte vom 11. November 1938, in Flammen auf. Zuvor wurden 29 Juden verhaftet. Noch in der Nacht zum 10. November wurden diese in einen Extra-Zug verfrachtet, welcher bereits von der Universitätsstadt Freiburg kam und nur badische und württembergische Juden ins Konzentrationslager Dachau brachte. Ab Juli 1938 waren die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen darauf vorbereitet worden, eine noch größere Zahl von Juden aufzunehmen.

Die Reichspogromnacht war das größte Pogrom der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter, der erste Schritt zur „Endlösung“, doch der Protest in der deutschen Öffentlichkeit richtete sich nur noch gegen die „Form des Kampfes gegen das Judentum“, wie die Kölner Gestapo notierte. Im Vordergrund der Kritik stand die mutwillige Zerstörung von Sachwerten, weniger die Sympathie mit den Juden. „Insgesamt gesehen“, so das Fazit des ausgewiesenen NS- und Holocaust-Forschers Peter Longerich, „konnte das Regime die weitgehend passive Haltung, in der die meisten Deutschen während der Ausschreitungen verharrten, jedoch als Erfolg bewerten.“ Noch am 1. April 1933, als die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, kam es vor Läden zu Diskussionen und sogar Schlägereien, weil viele Nichtjuden sich empörten. In der Zeit zwischen 1933 und 1938 hatte die NS-Propaganda unablässig Juden als „Untermenschen“ und Gefahr für die „Volksgemeinschaft stigmatisiert. Sie mussten Sportvereine verlassen und riskierten Gefängnisstrafen, wenn sie mit Nichtjuden schliefen; sie hatten den Staatsdienst zu verlassen, und es war ihnen verboten, die deutsche Flagge zu hissen. Weitere antijüdische Rechtsvorschriften verboten Juden, als Ärzte zu praktizieren und befahlen jüdischen Männern, den Namen Israel, und jüdischen Frauen, den Namen Sara anzunehmen. Pässe wurden mit einem großen J gekennzeichnet.

Den Opfern der Reichspogromnacht wurde die sofortige Beseitigung der Schäden, insbesondere der zerschlagenen Schaufenster jüdischer Läden, auf die sich die sarkastische zeitgenössische Formulierung von der „Reichskristallnacht“ bezog, auf eigene Kosten auferlegt, während der Staat nicht nur die entsprechende Versicherungssumme kassierte, sondern der Gesamtheit der Juden auch noch eine angebliche „Sühne“-Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegte. Vater dieser am 12. November 1938 erlassenen Verordnungen war Hermann Göring, Beauftragter für den Vierjahresplan. Die Reichspogromnacht beschleunigte die Vernichtung der ökonomischen Existenz der Juden. In dem Fernschreiben von Heydrich hieß es: In „allen Bezirken“ sind „so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den Hafträumen untergebracht werden können.“

Der von den NS-Machthabern seit Jahren vorangetriebene Prozess der Vertreibung der Juden aus der Wirtschaft und Gesellschaft wurde durch den inszenierten Pogrom zum Abschluss gebracht. Zusammen mit der Einführung des Gelben Sterns im Herbst 1941 wurde schließlich ein totales Kontaktverbot zu jüdischen BürgerInnen verhängt.

„Wir sind wieder da!“

Der 9. November ist der Schicksalstag der Deutschen.

1918 wurde an diesem Tag in Berlin die Republik ausgerufen. In rechtsextremen Kreisen gilt dieser Tag als „Verrat an einer ungeschlagenen Armee“, da angeblich das Kaiserreich durch einen „Dolchstoß“ von innen gefallen war.

1923 fand der so genannte Hitler-Putsch in München statt. Hitlers „Marsch zur Feldherrnhalle“ wird in rechtsextremen Kreisen zu einer Tat „junger deutscher Idealisten“ verklärt, „welche, von flammendem Gerechtigkeitsempfinden und Liebe zu ihrem Volk beseelt, die Ehre ihres Vaterlandes wiederherzustellen trachteten.“

Am 9. November 1925 wurde die SS gegründet. Ein Tag, der heute selbst in rechtsextremen Kreisen in Vergessenheit geraten ist.

Die Reichspogromnacht 1938 fand, so die Propaganda rechtsextremer Kreise, für „die Reichsführung völlig überraschend“ statt: „Niemand konnte – trotz der allgemeinen Unbeliebtheit der Juden im Deutschen Volk – zu jenem Zeitpunkt weniger Interesse an einem solchen Ausbruch des Volkszorns gegen diejenigen haben, aus deren Reihen bereits am 24. März 1933 eine haßerfüllte Kriegserklärung an Deutschland erging, als die politische Führung des Deutschen Reiches. Wieder wurde Deutschland Opfer einer Intrige, deren Hintermänner der Erkenntnislage nach offensichtlich in eben den Kreisen zu suchen sind, welche schon für besagte Kriegserklärung vom 24. März 1933 verantwortlich zeichneten.“

Am 9. November 1989 schließlich fiel die Mauer. Dieses Datum gilt heute in rechtsextremen Kreisen als Tag der Gründung der „Groß-BRD: noch immer ohne Friedensvertrag (den ohnehin nur das Deutsche Reich schließen kann) unter Aufrechterhaltung der Feindstaatenklauseln und unter andauernder Kuratel USraels mit erheblichem jüdischen Einfluß auf die als Marionettenregierung eingesetzten Vasallen der Siegermächte.“ (Zitate: Gerd Ittner, selbsternannter Reichsbürger, Hitler-Verehrer, Ex-Mitglied der DVU und der NPD)

Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass – auch an einem 9. November – ein Vorkämpfer der Demokratie ermordet wurde. Im Morgengrauen des 9. November 1848 wurde Robert Blum (Jg. 1807), Demokrat und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung, in der Brigittenau (20. Gemeindebezirk) in Wien von Soldaten des kaiserlichen Militärs standrechtlich erschossen. Zuvor hatte sich der Revolutionär im Herbst 1848 entschieden, in Wien auf die Barrikaden zu gehen, um mit der Waffe Widerstand gegen Willkür und Unterdrückung zu leisten. Seit November 2021 wird Robert Blum mit einer neuen Briefmarke geehrt. Bei der Präsentation der Robert-Blum-Briefmarke charakterisierte Bundespräsident Steinmeier Blum als Person, die „wie kaum ein anderer für den politischen Aufbruch im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 steht“.

In rechtsextremen Kreisen ist der 9. November ein wichtiger Jahres- und Gedenktag. Einerseits wird von Rechtsextremisten bei konspirativ durchgeführten Veranstaltungen der „Gefallenen der Bewegung“ des Jahres 1923 gedacht. Andererseits wird von Rechtsextremisten dem staatlichen und zivilgesellschaftlichen Erinnern an die Reichspogromnacht in vielfältiger Form aktionistisch begegnet. So rufen Rechtsextremisten um Rüdiger Hoffmann, Ex-NPD-Kader und Kopf hinter der Reichsbürger-Gruppierung „staatenlos.info“, auch in diesem Jahr zu einer Demonstration vor dem Berliner Reichstag auf. Jahres- und Gedenktage wie der 9. November sind sowohl politische Symbole als auch Gegenstand symbolischer Politik: ein Ausdruck der Bedeutung eines bestimmten Geschichtsbewußtseins ebenso wie ein Handlungsfeld für aktualisierende historische Rückgriffe.

Rechtsextremisten haben sich ihre eigene Symbolsprache geschaffen. Wenn Rechtsextremisten an Tagen um den 9. November aufmarschieren, führen sie ihren „Kampf der Symbole“. Das Beschmieren oder Zerstören von Gedenkstätten und die Schändung von Jüdischen Friedhöfen am Jahrestag der Reichspogromnacht ist eine Form des militant ausgetragenen Kampfes um Symbole. Eine geschändete Gedenkstätte erinnert nicht mehr an die Opfer des Nationalsozialismus, sondern an die Bedrohung durch den heutigen Rechtsextremismus. Das aufgesprühte Hakenkreuz verschiebt die Zeitkoordinate des Gedenkens. Nicht die Vergangenheit mahnt die Heutigen, sondern die Gegenwart besetzt ein Symbol dieser Vergangenheit. Aus dem „Nie wieder!“ wird ein „Wir sind wieder da!“.

Aktionistisch gegen das Gedenken und Erinnern an die Reichspogromnacht

Im Tagungshaus des antisemitischen und Holocaust leugnenden „Collegium Humanum“ (CH) im nordrhein-westfälischen Vlotho wurde am 9. November 2003 der „Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“ (VRHV) gegründet. Der auf Initiative des notorischen Antisemiten Horst Mahler ins Leben gerufene Verein führte einen „Feldzug gegen die Offenkundigkeit des Holocaust“. Ziel war es, holocaustleugnende Ansichten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und Holocaustleugnern bei allfälligen Strafverfahren oder Verurteilungen rechtlich und finanziell beizustehen. Zu den Gründungsmitgliedern zählen international bekannte Rechtsextremisten wie Ernst Zündel, Germar Rudolf, Manfred Roeder, Frank Rennicke und Robert Faurisson. Bei der Gründungsversammlung bezeichnete die CH-Leiterin Ursula Haverbeck die Reichspogromnacht als den „Beginn der großen Lüge, die endgültig zu Fall zu bringen Anliegen unseres Vereins sein wird: Die Auschwitz-Lüge“. Haverbeck, wegen Volksverhetzung vorbestraft, war die Ehefrau des 1999 verstorbenen Werner Georg Haverbeck, der 1933 den „Reichsbund Volkstum und Heimat“ begründete. Im April 2008 wurde das gemeinnützige (!!) „Collegium Humanum“ und dessen Ableger, der „Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“, vom Bundesinnenminister Schäuble verboten.

Ebenfalls am 9. November 2003 hätte in Anwesenheit von Bundespräsident Johannes Rau, Ministerpräsident Edmund Stoiber und dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel bei der feierlichen Grundsteinlegung des Jüdischen Gemeindezentrums in München eine Bombe explodieren sollen. Neonazis der „Schutzgruppe“ der „Kameradschaft Süd“ um ihren Führer Martin Wiese wollten einen Anschlag verüben, der jedoch frühzeitig von den Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurde. Wiese erhielt im Mai 2005 als Rädelsführer sowie unter anderem wegen Verstoßes gegen das Waffen- und das Sprengstoffgesetz eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Vom Knast aus meldete sich Wiese immer wieder in den „Nachrichten“ der erst 2012 rechtskräftig verbotenen Neonazi-Truppe „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG), der damals mitgliederstärksten Neonazi-Vereinigung in der Bundesrepublik, zu Wort.

Mit Datum vom 9. November 1999 verfasste das zeitweilige NPD-Mitglied Horst Mahler einen Offenen Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder. In dem Schreiben an den „Lieben Gerhard Schröder“ behauptete Mahler, dass dieser eine „Vasallenregierung“ führe, die „den Befehlen der US-Regierung zu gehorchen“ habe. Schröder müsse deshalb „das Lügengespinst, mit dem die Feinde Deutschlands unser Volk niederhalten und aussaugen“, zerreisen. Mahler rief den Bundeskanzler dazu auf: „Tritt zurück und mache deutlich, dass DU nicht länger bereit bist, der Diener fremder Mächte zu sein! Gehe ins Exil und organisiere von dort aus den Aufstand des Deutschen Volkes gegen die Fremdherrschaft“. Mahler beendete den mehrseitigen Offenen Brief an den Bundeskanzler mit den Worten „Ich schließe in Sorge um unser Volk und in wehmütigen Gedanken an einen Freund. Dein Horst Mahler.“ Nachgedruckt wurde der Offene Brief unter anderem in der damals zweimonatlich erscheinenden Postille „Euro-Kurier“ aus dem Hause des NS-apologetischen Tübinger Grabert-Verlages. Gemeinsam mit dem Rechtsextremisten Reinhold Oberlercher, zeitweise „Wirtschaftsexperte“ der NPD, führte Mahler am 9. November 1999 in der sächsischen Stadt Leipzig eine konspirativ organisierte „Reichsproklamation“ durch. Diskutiert wurden vor Ort so genannte „Reichsverfassungsentwürfe“. Mahler verkündete in seinem dort vorgetragenen Grundsatzpapier „Thesen zur Reichsstatthalterschaft“: „Das Deutsche Reich besteht. Es ist aber handlungsunfähig“. Sobald das „Deutsche Reich“ wieder handlungsfähig sei, müsse es die Bundesrepublik „abwickeln“.

Rechtsextreme Standardwerke zur Reichspogromnacht sind die Bücher „’Reichskristallnacht‘ 9. November 1938. Hintermänner und Hintergründe“ und „Feuerzeichen – Die Reichskristallnacht. Anstifter und Brandstifter – Opfer und Nutzniesser“. Als ein „Forschungsbericht“, der mit „zahlreichen historischen Legenden“ aufräumen und zeigen will, „wie es wirklich war“, wurde das 1988 im rechtsextremen Türmer-Verlag erschienene Buch „’Reichskristallnacht‘ 9. November 1938. Hintermänner und Hintergründe“ von Nikolaus von Preradovich (1917 – 2004) deklariert. Preradovich, von 1972 bis 1974 Chef der Geschichtsredaktion des Schroedel-Schulbuch-Verlages, beharrt darauf, dass sich an der Reichspogromnacht „Teile des deutschen Volkes ’spontan‘ an den ihnen bekannten Juden vergriffen haben und die Führung der NSDAP sei sodann gewissermaßen als Trittbrettfahrer auf den bereits in Bewegung befindlichen Zug gesprungen“. 1999 wurde Preradovich, langjähriger Mitarbeiter des DVU-Sprachrohrs „National-Zeitung“ und Unterzeichner des Holocaust leugnenden „Appells der 100“, mit der „Ulrich-von-Hutten-Medaille“ der „Gesellschaft für freie Publizistik“ (GFP) ausgezeichnet. Die von SS-Offizieren und NSDAP-Funktionären 1960 in Frankfurt gegründete GFP ist die größte rechtsextreme kulturpolitische Vereinigung in der Bundesrepublik.

Ingrid Weckert ist Autorin des 1981 beim Grabert-Verlag erschienenen Buches „Feuerzeichen – Die Reichskristallnacht. Anstifter und Brandstifter – Opfer und Nutzniesser“, das von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurde. Weckert schreibt in ihrem Machwerk, dass die Reichspogromnacht von jüdischer Seite angestiftet worden sei, um die Auswanderung der Juden nach Palästina zu fördern. Die Juden, so Weckert, „waren so wenig Opfer eines geplanten Genocids wie andere Völker.“ Ein Vorwort dazu steuerte Wilfred von Oven, letzter persönlicher Pressereferent (1943 – 1945) von NS-Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, bei. Oven, der Zeit seines Lebens Goebbels als „faszinierendste Persönlichkeit der NS-Führung“ verehrte, sprach Weckert „für diesen Mut zur historischen Wahrheit“ seinen „ganz besonderen persönlichen Dank“ aus. Die Holocaustleugnerin Weckert (alias Hugo Rauschke) war einst Gefolgsfrau des 1991 an Aids verstorbenen Neonaziführers Michael Kühnen.

Seine Sicht zur Reichspogromnacht schilderte Willi Krämer in dem Buch „Vom Stab Heß zu Dr. Goebbels“, das 1979 im Holocaust leugnenden Verlag für Volkstum und Zeitgeschichtsforschung (Vlotho, Nordrhein-Westfalen) des NPD-Gründungsmitglieds Udo Walendy erschien. Krämer, ehemaliger Angehöriger des „Stabes Heß“ und der NS-Reichspropagandaleitung, ortet als Ursächer der Reichspogromnacht „Rabauken niederer Chargen“ der NSDAP, die den Nationalsozialismus bekämpfen wollten. Goebbels, so Krämer dagegen, sei unschuldig: „Da Dr. Goebbels an jenem Abend weder seinen Nachrichtenapparat im Propagandaministerium noch sonst einer Dienststelle eine Brandanweisung gegeben hat oder hätte geben können, gibt es nicht einmal einen Indizienbeweis, der ihn belasten könnte.“ Nach 1945 war Krämer Funktionär der Sozialistischen Reichspartei (SRP) und der Deutschen Reichspartei (DRP). In den 80er Jahren galt Krämer in rechtsextremen Kreisen als „Freund und Förderer“ von Kühnen. Kühnen ernannte Krämer zum Ehrenmitglied seiner „Aktionsfront Nationale Sozialisten/Nationale Aktivisten“ (ANS/NA).

Weißwäscherei konnte Fritz Hippler, vormals NS-Filmintendant, einer der Organisatoren der „Verbrennung undeutschen Schrifttums“ und verantwortlich für die Gestaltung des antisemitischen Hetzwerkes „Der ewige Jude“, in der ARD-Sendung „Die Reichskristallnacht“ vom November 1988 betreiben. Hippler gab Poesie zum besten. Er zeigte sich entrüstet darüber, dass die Tür zu einer Wohnung eingetreten wurde und dahinter eine jüdische Großfamilie eng zusammengekauert vor Angst zitterte. Er habe seinen SS-Ausweis gezeigt und nach der Polizei gesucht.

Im voluminösen „Volkslexikon Drittes Reich“, 1994 beim Grabert-Verlag erschienen, werden die antisemitischen Übergriffe bei der Reichpogromnacht als „teilweise noch ungeklärte, angeordnete und gesteuerte, teilweise spontan eingeleitete Maßnahmen“ beschrieben, die „das Ansehen Deutschlands in jenen Jahren zweifellos beträchtlich“ schädigten. Das Buch deutet auf 950 Seiten Episoden und Figuren „jener zwölf Jahre“ (Vorwort, gemeint ist die Hitler-Zeit) um. Ausführlich werden einzelne militärische Personen und Operationen behandelt, dazu NS-Filme und untergegangene Schiffe, Dienstgrade und Abkürzungen, Aufmarschstellungen und Landser-Jargon. Unter dem Stichwort „Auschwitz“, das nur wenig länger ausfällt als die benachbarten „Ausbürgerung“ und „Auslandsdeutsche“, ist von 74.000 Häftlingen die Rede, die dort zu Tode kamen, und nicht einmal alles Juden. Die Absicht ist klar: Die Zahl der vom NS-Regime industriell ermordeter Juden soll runtergerechnet werden.

Berühmt-berüchtigt in Neonazi-Kreisen war die 1996 gegründete und 2002 aufgelöste französische NS-Black-Metal-Band (NSBM) „Kristallnacht“ aus Toulon. „Kristallnacht ist voll Antisemitismus, deswegen ist das der richtige Name für meine Band“, erläuterte der Bandleader Laurent Franchet die Stoßrichtung. Schlagzeuger von „Kristallnacht“ war der Friedhofsschänder Cyril Dieupart. Eine CD dieser Band wurde am 20. April (!) 1999 von dem Erfurter Plattenlabel Darker Than Black (DTB) der Gebrüder Hendrik und Ronald Möbus verlegt. Das Coverbild der CD, das eine halbzerstörte Kirche zeigt, ist eine Zeichnung Hitlers, die dieser während des Ersten Weltkrieges anfertigte. Hendrik Möbus genießt in Teilen der Neonazi-Szene Kultstatus. Mit zwei Komplizen beging Möbus am 29. April 1993 einen satanistisch motivierten Mord an einem 15-jährigen Mitschüler.

Es ist den Rechtsextremisten nur innerhalb ihrer eigenen Szene gelungen, das Symbol „9. November“ mit ihren eigenen Inhalten zu besetzen. Aber jeder, der heute dieses Datums gedenkt, sollte sich dessen Ambivalenz bewusst sein, denn es ist nicht zu leugnen: Auch für Hitler war es ein Gedenktag.

 

 

 

Literatur

Döscher, Hans-Jürgen: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938 im Spiegel ausgewählter Quellen. Bonn 1988

Jäckel, Eberhard / Longerich, Peter / Schoeps, Julius (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. München – Zürich. 1993

Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 – 1945. Bonn 2006

NSU. Thesen zum Polizistenmord in Heilbronn

Heute jährt sich zum zehnten mal die Selbstenttarnung des NSU. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Gastbeitrag unseres Autoren Anton Maegerle.

Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn ist nach wie vor nicht wirklich aufgeklärt, und es ranken sich zahlreiche Spekulationen und Verschwörungsmythen um diese Tat.

Anton Maegerle beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem NSU-Komplex und hat als Journalist und Experte für die extreme Rechte das untergetauchte Trio und die damit verbundenen rechtsterroristischen Strukturen schon lange vor dem Auffliegen des NSU thematisiert.

In seinem Artikel präsentiert er eine mögliche Deutung des Mordes in Heilbronn, die in vielerlei Hinsicht plausibel erscheint, sie ist aber selbstverständlich nicht das letzte Wort zu diesem Komplex.

 

 

NSU. Thesen zum Polizistenmord in Heilbronn

von Anton Maegerle

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) war am 4. November 2011 aufgeflogen, mit dem Tod der Terroristen Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos. Auf das Konto der Neonazis gehen auch der Mord an der Polizeivollzugsbeamtin Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen Martin A. am 25. April 2007 auf der Theresienwiese im baden-württembergischen Heilbronn.

TATORT THERESIENWIESE

Mit dem Tatort Theresienweise knüpft der NSU symbolisch an den bislang folgenschwersten Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik an: das Attentat auf das Münchener Oktoberfest auf der Theresienweise am 26. September 1980. Bei dem Attentat gab es dreizehn Tote und 211 zum Teil Schwerverletzte. Unter den Toten war auch der mutmaßliche Attentäter Gundolf Köhler aus dem Umfeld der rechtsterroristischen WSG Hoffmann und der Wiking-Jugend (WJ). Wolfram Nahrath, Ex-„Bundesführer“ der 1994 wegen Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus vom BMI verbotenen WJ, war einer der drei Pflichtverteidiger von Ralf Wohlleben, dem wichtigsten NSU-Unterstützer und Ceska-Mordwaffe-Beschaffer. Heilbronn war für den NSU ausschließlich aufgrund der Symbolik Theresienweise interessant und war den Tätern aufgrund ihrer Kontakte zu Gleichgesinnten in Baden-Württemberg bekannt.

TATTAG

Gedenktage (z.B. Geburtstag) sind sowohl politische Symbole als auch Gegenstand symbolischer Politik: ein Ausdruck der Bedeutung eines bestimmten Geschichtsbewußtseins ebenso wie ein Handlungsfeld für aktualisierende historische Rückgriffe. KIesewetter und ihr Kollege haben um 13:45h das Polizeirevier Heilbronn verlassen. Um 13:58h fielen die tödlichen Schüsse. Ihnen folgte nachweislich kein PKW. Der NSU war vor den Polizeibeamten vor Ort und kundschaftete die Gegend aus. Als die beiden Polizisten auf der Theresienweise eintrafen, erschien dem NSU die Gelegenheit günstig für die Tatausführung. Genau um 13:58h waren keine Zeugen in mittelbarer Nähe des Streifenwagens. Der Mordanschlag auf x-beliebige Polizeibeamte selbst war erst für den Folgetag, den Geburtstag von Rudolf Heß (Jg. 1894), gedacht. Aber bereits am 25.04./13:58h war die Gelegenheit zur Tatausführung perfekt und wurde deshalb ausgeübt. Führer-Stellvertreter Heß avancierte nach seinem Freitod im alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau am 17. August 1987 zur Kult- und Identifikationsfigur der Neonazi-Szene. Der „Hitler-Ersatz“ wurde nach Auffassung der Neonazi-Szene von einem britischen Geheimdienst ermordet. Heß war nachweislich auch für den NSU „das Idol“. So fand am 17. August 1996 im rheinland-pfälzischen Worms ein illegales Heß-Gedenken statt. Unter den Aufmarschierenden waren Mundlos, Zschäpe und Wohlleben.

POLIZEI

Die Bundesrepublik, dem ewiggestrigen Mief der Adenauer-Zeit entwachsen, wird in rechtsextremen Kreisen einhellig als Polizei- oder Überwachungsstaat diffamiert, den es zu bekämpfen gilt. Seit den frühen 1990er-Jahren existiert in der rechtsextremen Szene das „Feindbild Polizei“ („brd-Polizisten“). Polizisten gelten als „Büttel des Systems“ und „Handlanger der Besatzer“. Mordaufrufe gegen Polizisten finden sich in der Neonazi-Musik. Neben Kiesewetter erschossen Neonazis seit 1997 vier weitere Polizeibeamte.

ZUFALLSOPFER KIESEWETTER / A.

Eine Woche vor dem Tattag fuhren die Polizisten D. W. und Kiesewetter (Beifahrerin) erstmals bei ihrer gemeinsamen Streifenfahrt auf die Theresienwiese, da Kiesewetter – der Streifenwagen befand sich zum Zeitpunkt ihres Wunsches in der Nähe des Bahnhofs – in Ruhe telefonieren wollte. W. war nicht bekannt, dass das Gelände als Pausenplatz genutzt wird.

A. war am Tattag erstmals auf Streife in Heilbronn; ebenso war es die erste gemeinsame Fahrt von Kiesewetter und A.

Der NSU wollte Polizisten töten – aber er wollte keine breite Panzerspur zu sich selbst legen. Kiesewetter und A. waren Zufallsopfer. Mit dem Opfer Kiesewetter legte der NSU unbewusst die Spur auf sich selbst. Kiesewetter stammt aus Oberweißbach und hatte bis zu ihrem Tod ihren Zweitwohnsitz bei den dort lebenden Großeltern. 500 Meter Luftlinie entfernt vom Haus der Großeltern wohnte seit dem 10. April 2007 der zeitweilig als Rechtsextremist aktive David F.. F. betrieb von Ende 2005 bis Anfang 2007 in Lichtenhain, einem Ortsteil ( 1km entfernt) von Oberweißbach, die Kneipe „Zur Bergbahn“. F. ist der Schwager von Ralf Wohlleben, der dem NSU seinen PKW als Fluchtwagen überließ und die Mordwaffe Ceska hat liefern lassen. Wohlleben war zuständig für den Internetauftritt von „Zur Bergbahn“. F. war einst Freund von Böhnhardt und Mundlos und zeitweilig Partner von Zschäpe. In der Pachtzeit fanden in der Gaststätte rechtsextreme Veranstaltungen statt.

Bekannt ist eine Saalveranstaltung des „Nationalen und Sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen“ vom 18.03.2006 (Anmieter: Patrick Wieschke, später NPD-Bundesvorstandsmitglied und NPD-Landesvorsitzender Thüringen). 100 Personen waren vor Ort. Die musikalische Gestaltung machte der lange im schwäbischen Ehningen wohnhafte Neonazi-Liedermacher Frank Rennicke (NPD, WJ). F. kannte die Familie Kiesewetter. So hatte Ralf Kiesewetter, Stiefvater von M.K., selbst Interesse an einer Pacht 1996/97 der Kneipe „Zur Bergbahn“ gehabt. Wohlleben hat F. ca. 4-5 Mal mit Jacqueline Wohlleben (geb. Feiler) und den Kindern in „Zur Bergbahn“ besucht.

Der NSU war nach dem Mord an Kiesewetter entsetzt, dass sie eine Person aus ihrem „mittelbaren“ Umfeld getötet hatten – wobei die Person Kiesewetter an sich nicht betrauert wurde. Aber die Tatsache, dass der Tatkomplex Heilbronn die Spur ins vermeintlich weit entfernte Oberweißbach und damit den Weg zu Wohlleben, dem wichtigsten NSU-Unterstützer weist, der das Trio auch maßgeblich in deren Jugendjahren politisch und ideologisch prägte, hat die Täter verunsichert und letztlich zum Stop der rassistischen Mordserie geführt.

DISS Workshop: Antiziganismus in Medien & Politik

Workshop
Antiziganismus in Medien und Politik –
Mediale Inszenierungen von Sinti und Roma im deutschen Fernsehen

Ort:
Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, Siegstraße 15, 47051 Duisburg.
Der Workshop ist als Präsenzveranstaltung geplant. Es gelten die 3-G-Regeln. Im Falle einer Zuspitzung der Corona-Situation könnte er auch als Zoom-Konferenz stattfinden.

Termin:
Samstag 13. November 2021, 10:30 bis 15:30 Uhr

Anmeldung:
Die Teilnahme ist kostenlos.
Die Anzahl der Plätze ist begrenzt, deshalb ist eine verbindliche Anmeldung erforderlich.
Bitte senden Sie eine Mail mit Titel des Seminars, Name, Anschrift, Telefon, Mailadresse an: info@diss-duisburg.de.

Die Talksendung „Die letzte Instanz“ hat Anfang des Jahres einen Aufschrei durch die Presse und die sozialen Medien gehen lassen. Zu Recht – war sie doch voller antiziganistischer Vorurteile und diskriminierender Äußerungen über vermeintlich ‚Andere‘ der deutschen Gesellschaft.
Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass hier keine neuen, unerhörten Aussagen geäußert wurden, sondern diese seit Jahren so oder ähnlich im deutschen Fernsehen vorhanden sind.
Der Workshop geht deshalb den Fragen nach, was im Fernsehen in den vergangenen Jahren auf welche Weise sagbar war und wo sich hier am Beispiel des Antiziganismus diskriminierende Strukturen erkennen lassen.
Dabei werden wir u.a. mit Hilfe der Kollektivsymbolanalyse der KDA analysieren, welche Bilder von ‚Sinti und Roma‘ entworfen werden und fokussieren uns dabei vor allem auf die Krimireihe ‚Tatort‘ und politische Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender.
Wir werden die mediale Berichterstattung und das eigene „Sehverhalten“ kritisch beleuchten und uns auf die Suche nach Leerstellen und alternativen Perspektiven begeben.

Leitung des Workshops:
Katharina Peters, Benno Nothardt

Förderung:
Dieser Workshop wird gefördert durch die
Rosa Luxemburg Stiftung NRW

Jobst Paul: DAS PHANTASTISCHE IN DER NATUR

Einladung zur Ausstellung im Evangelischen Bildungswerk Duisburg

Die Fotografie hat den Duisburger Künstler Jobst Paul schon immer begleitet. Mit der Digitalisierung entdeckte er neue künstlerische Räume. Ausgangspunkt seiner Arbeiten sind eigene Fotoarbeiten und Serien, die oft Jahre zurück liegen und die ihn bei der Neubegegnung erneut fesseln. Dann setzt ein Prozess des digitalen Malens und Veränderns ein, bei dem er einer Spur folgt. Sie erschließt sich intuitiv, aus ästhetischen Anmutungen oder widersprüchlichen Impulsen, aber auch aus ironischen oder utopischen Assoziationen.

Die Ausstellung im Evangelischen Bildungswerk Duisburg umfasst über 40 Arbeiten, die den Betrachter mit Farben- und Formenreichtum in traumhafte Szenerien entführen und zu einer meditativen Wahrnehmung der Natur einladen.

Die Arbeiten sind zu den Öffnungszeiten (siehe unten) bis Dezember 2021 zu sehen (3G-Regel).

Save the date:
Künstlergespräch zur Ausstellung am Freitag, 29. Oktober 2021, 19 Uhr

Im Haus der Familie
Hinter der Kirche 34
47058 Duisburg

Öffnungszeiten:
Mo – Do: 8.30-13.00 / 14.00-16.00 Uhr
Fr: 8.30-12.00 Uhr