Netzfundstück: Interview mit Rolf van Raden

Im Blog Ruhrbarone interviewte Chantal Stauder den DISS-Mitarbeiter Rolf van Raden zur Ausstellung „Freedom of Speech“.

Gibt es etwas, dass du selbst im Zuge des „Freedom of Speech“-Projekts dazugelernt hast?

Klar, eine ganze Menge. Am Anfang haben wir zum Beispiel versucht, Aussagen danach zu unterscheiden, ob sie subversiv sind oder nicht. Das kam aus so einem vermeintlich kritischen Selbstverständnis heraus, dass subversive Aussagen in der Lage sind, ungleiche und blockierte Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Bei den Analysen hat sich aber ziemlich schnell herausgestellt: Ob jemand subversiv argumentiert oder nicht, das ist vor allem eine Frage der Diskurstaktik. Das sagt aber noch nichts über die Inhalte aus. Auch Nazis können scheinbare Allgemeingültigkeiten in Frage stellen. Sie tragen dann aber nicht zu einem Abbau von Ausgrenzung bei, sondern wollen herrschende Ausgrenzungspraktiken durch noch viel stärkere ersetzen.

Lässt sich die Frage nach der Ausgrenzung immer so eindeutig beantworten?

Daumen hoch, Daumen runter? Nein, so einfach ist das nicht. Wir haben zum Beispiel das amerikanische Pornomagazin Hustler untersucht. Der Herausgeber Larry Flynt ist mit dem Heft nicht nur steinreich geworden, sondern hat in den USA sogar einige politische Bedeutung erlangen können. Sein Erfolg beruht darauf, dass das Magazin geschickt Ausgrenzung mit der Forderung nach Teilhabe kombiniert. Und zwar so: Hustler richtet sich an weiße, heterosexuelle Männer aus der Arbeiterklasse. Gegenüber dem politischen Establishment fordert das Magazin mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung ein. Es legt sich auch regelmäßig mit der religiösen Rechten an. Deswegen wurde das Pornomagazin häufig sogar der politischen Linken zugeordnet. Die andere Seite der Medaille ist aber: Hustler verteidigt die Privilegierung von weißen heterosexuellen Männern mit einer Radikalität gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, die auf dem Zeitungsmarkt seinesgleichen sucht. Das reicht von der Reproduktion sexistischer und rassistischer Vorurteile bis zur offenen Glorifizierung von sexualisierter Gewalt. Diese Kombination macht den Erfolg von Hustler aus: In Bezug auf Gruppen, die gegenüber der eigenen Zielgruppe privilegiert sind, werden mehr Rechte gefordert. Gegenüber Frauen und alternativen Männlichkeitsmodellen wird die eigene Position durch Diffamierung und Ausgrenzung abgesichert.

Das komplette Interview finden Sie unter:
http://www.ruhrbarone.de/freedom-of-speech/

Netzfundstück: Die Grenzen des Sagbaren

In der taz vom 6.1.2011 erschien ein Beitrag von Petra Schellen zur Ausstellung „Freedom of Speech“ (Kunstverein Hamburg, 18. Dezember 2010 – 27. März 2011).

[…] Und dann steht man vor diesem Bus, einem Lufthansa-Shuttlebus, und denkt: Ja, das ist eine nette Intervention, diesen Bus, mit dem sonst Geschäftsleute zum Flieger rollen, „Deportation Class“ zu nennen. Andererseits: solche künstlerischen Interventionen hat es schon öfter gegeben. Hat sich also der Hamburger Kunstverein eigens die Mühe gemacht, Silke Wagners Bus extra ins Obergeschoss zu bugsieren – nur, damit wir uns erinnern?

Aber die Kuratoren der Ausstellung „Freedom of Speech“ präsentieren die Arbeit nicht pur, so wenig wie alle anderen: Man hat sie vielmehr vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) auf Bedeutung und Rezeption analysieren lassen, und so findet sich auch zu dem Lufthansa-Bus ein erhellender Text: Lufthansa nämlich hatte die Künstlerin verklagt. Die Bezeichnung „Deportation Class“ verbitte man sich, wolle nicht in die Nähe des NS-Regimes gerückt werden – das sei Missbrauch des Labels. Später habe sich dann gezeigt, sagt Kunstvereins-Chef Florian Waldvogel, „dass die Lufthansa Abschiebe-Häftlinge intern selbst ,deportees‘ nennt.“ […]

Am Ende ihres Artikels kommt Petra Schellen zu folgendem Fazit:

[…] Man wird an Grenzen geführt in dieser Ausstellung, zu echter, mühevoller Selbstreflexion getrieben. Antworten bekommt man keine: „Freedom of Speech“ beansprucht keine Definitionshoheit bezüglich des Sagbaren und Zulässigen. Sie stellt sie lästige Fragen. Man kann in ihnen hängen bleiben wie in einem Loop – dem Loop gewohnter Argumentationsmuster. Kein Zweifel: Dieser Parcours ist ein erfreulich anstrengender Selbstversuch.

Den vollständigen Artikel finden Sie hier: http://www.taz.de/1/nord/kultur/artikel/?dig=2011%2F01%2F06%2Fa0030&cHash=af1e206f06

18. Dezember 2010 – 27. März 2011

DJ20: Ausstellung Freedom of Speech

Ausstellungen in Hamburg und Berlin
Freedom of Speech: Grenzen der Redefreiheit

Autor: Rolf van Raden

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ – mit diesem Satz verbrieft das deutsche Grundgesetz die sogenannte Meinungsfreiheit. Und doch können längst nicht alle alles sagen. Es ist ein inhärenter Teil von bürgerlich-demokratischen Verfassungen, die freie Meinungsäußerung nicht nur zu gewähren, sondern sie sogleich mit weiteren Bestimmungen einzuschränken. Darüber hinaus ist das, was faktisch sagbar ist, von weit umfangreicheren diskursiv-sozialen Macht- und Regelsystemen bestimmt als nur durch Gesetze.

Barbara Kruger, Untitled (questions), 1991, Center of the Study for Political Graphics, Los Angeles

In Zusammenarbeit mit dem DISS hinterfragen und analysieren der Hamburger Kunstverein und der Neue Berliner Kunstverein das Konzept der Redefreiheit. Dazu wurde eine Doppelausstellung konzipiert, die im Dezember 2010 sowohl in Hamburg als auch in Berlin ihre Pforten öffnet. Insgesamt geht es dabei um die ideologische Rolle, die Freedom of Speech in den westlichen Demokratien spielt: Als identitär-kollektiver Wert, als ständig bedrohtes Grundrecht, als uneingelöstes Versprechen und als zweischneidiges Schwert. Denn auf die Meinungsfreiheit können sich schließlich auch all jene berufen, die etwa rassistische Ausgrenzungsdiskurse forcieren wollen.

Anhand von Exponaten aus den Bereichen Medien, Geschichte und vor allem der Kunst macht die Doppelausstellung ganz unterschiedliche Strategien sichtbar, die das Feld des Sagbaren erweitern. Gezeigt werden vor allem künstlerische, politische und publizistische Grenzüberschreitungen, von denen viele vor Gericht landeten oder anderen empfindlichen Angriffen ausgesetzt waren. Das Spektrum der Ausstellungsstücke reicht dabei von progressiver und antirassistischer Kunst über gut gemeinte, aber doch gescheiterte Projekte bis hin zur Pornografie des Hustler- Magazins und den islamfeindlichen Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten. Die von Mitarbeiterinnen des DISS erstellten Analysen setzen sich jeweils kritisch mit den Exponaten, ihrem jeweiligen diskursiven Kontext und ihren Wirkungen auseinander. „Uns geht es vor allem auch darum, die Unterschiede klar herauszuarbeiten“, erklärt Regina Wamper, die an dem Projekt mitarbeitete. „Welche angeblichen oder tatsächlichen Tabubrüche wirken als Selbstermächtigung und untergraben Ausgrenzungsdiskurse? Und wo wird andererseits Free Speech zur Hate Speech, die selbst massiv ausgrenzt?“ Letztendlich steht die Frage im Raum, wie eine Gesellschaft ohne Einschränkungen von Redefreiheit, aber ebenso ohne Rassismus und andere Ausgrenzungsdiskurse denkbar ist.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage haben DISS-Mitarbeiterinnen in einem umfangreichen Essay ausgearbeitet.

Der Text erscheint im Januar in der Begleitpublikation zu der Doppelausstellung. Neben diesem theoretischen Beitrag werden in dem Buch außerdem Analysen zu insgesamt 18 Kunstwerken und publizistischen Äußerungen veröffentlicht, die vom DISS erstellt worden sind. Ebenfalls im Januar findet in Berlin und Hamburg ein Symposium statt, auf dem die Fragen noch einmal gründlich diskutiert werden können. Als Vortragende sind unter anderem Astrid Deuber-Mankowsky, Siegfried Jäger, Gabriel Kuhn und Jürgen Link eingeladen.

Freedom of Speech – Termine:

Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein: 11.12.2010-30.01.2011

Ausstellung im Hamburger Kunstverein: 18.12.2010-13.03.2011

Eröffnungsveranstaltung Berlin: Freitag, 10.12.2010, 19 Uhr

Symposium: 21.01.2011 (Berlin) und 22.01.2011 (Hamburg)

Eine umfangreiche Buchpublikation unter anderem mit dem Analysen des DISS erscheint im Januar 2011 im Verlag der Buchhandlung Walther König.

Der Kunstverein, seit 1817 (Hamburg)
http://www.kunstverein.de/ausstellungen/vorschau/20101218-freedomofspeech.php

Neuer Berliner Kunstverein
http://www.nbk.org/ausstellungen/freedom_of_speech.html

Die­ser Arti­kel stammt aus der Aus­gabe 20 des DISS-Journal, die im November 2010 erschien. Hier fin­den Sie das kom­plette DISS-Journal 20 als PDF-Datei.