Unter dem Motto: Freiheit ja! – Gerechtigkeit nein! kommentierte Jobst Paul im DISS-Journal Nr. 22 (18. November 2011) kritisch den vorhersehbaren Sieg kulturkonservativer islamischer Parteien in einigen arabischen Ländern, ihre mögliche Allianz mit der westlichen Großindustrie (Beispiel DESERTEC) und die diesbezügliche Analogie zwischen kulturkonservativen islamischen Parteien und kulturkonservativen christlichen Parteien insbesondere in Deutschland:
„Man wird es dem Mittelstand der arabischen Staaten nicht verdenken dürfen, in die Fußstapfen anderer, z.B. europäisch-kulturkonservativer, hierzulande z.B. christlicher Parteien zu treten, deren Leitidee in der Regel der eigene Wohlstand und damit auch der Pakt mit Großindustrie und Finanzmärkten war. Anders würde sich nicht erschließen, was christliche Parteien hierzulande über Jahrzehnte hinweg an der Atomenergie fanden. Und so scheinen die arabischen Revolutionen ganz in abendländischer Logik auf die Gewährung bürgerlicher Freiheiten, aber auf die Vertagung der gerechten Gesellschaft hinauszulaufen.“
Tatsächlich hat Bundesaußenminister Westerwelle während seiner kürzlichen Arabien-Reise nun einerseits die Bedeutung des DESERTEC-Projekts bestätigt:
„Auch in Algier warb Westerwelle für eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Als herausragendes Beispiel dafür nannte er Desertec, eine Initiative zur Erzeugung von Ökostrom in Wüsten und zur Weiterleitung nach Europa. „Das könnte ein Meilenstein für die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Regionen werden“, sagte der Außenminister.“ (Der Stern, 8.1.2012)
Darüber hinaus machte sich Westerwelle die Gleichung zwischen christlich-konservativen und islamisch-konservativen Parteien zu eigen:
„Europa müsse sich daran gewöhnen, dass es „islamisch-demokratische Parteien gibt, wie es in Europa christdemokratische Parteien gibt“, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) am Montag bei einem Besuch in Tunis. … Die Europäer müssten verstehen, dass „es große Unterschiede gibt auch in den politischen Orientierungen islamischer Parteien“, sagte Westerwelle. Islamisch-demokratische Strömungen hätten das Recht, „von uns als vollständig respektierte Partner angenommen zu werden“ … (Focus, 9.1.2012)
Schon zuvor (20.11.2011) hatte Rachid Ghanouchi, der Chef der siegreichen, tunesischen Partei En-Nahda die Gleichung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aufgegriffen:
„Wir wollen ein demokratisches System einführen, das die Regeln der Demokratie und die islamischen Werte berücksichtigt. Das wird ähnlich aussehen wie bei den christdemokratischen Parteien in Europa.“ (Süddeutsche Zeitung, 20. 11. 2011)
Ghanouchis und Westerwelles Stellungnahmen deuten auf den aktuell offenbar rasanten Brückenbau zwischen christlich-konservativen und islam-konservativen Politikentwürfen in Europa und Arabien zugunsten einer neoliberalen Realpolitik mit völlig neuen Abmessungen. Diese Entwicklung wirft nicht nur die Frage auf, welche Folgen die abrupte Verabschiedung der Gerechtigkeitsfrage, die der eigentlich Ausgangspunkt und Antrieb der Revolutionen war, in den Nationen des arabischen Frühlings haben wird. Es wird auch spannend sein zu beobachten, wie die christlich-konservative Parteienlandschaft in Deutschland (und Europa) mit den Geistern umgehen wird, die sie mit ihrem jahrelangen, populistisch aufgeheizten Anti-Islamismus gerufen und deren Radikalisierung sie damit ermutigt hat.