Anmerkungen zum »Staatspolitischen Handbuch« des »Instituts für Staatspolitik«
Autor: Helmut Kellershohn
Nach dem im November 2009 veröffentlichten ersten Band »Leitbegriffe« der dreiteiligen Reihe »Staatspolitisches Handbuch« erschien nun das Folgewerk. Die Herausgeber präsentieren sich damit als Gralshüter eines »wahren« Konservatismus.
Das »Staatspolitische Handbuch« des »neu-rechten« »Instituts für Staatspolitik« (IfS) befasst sich in dem im Februar 2011 veröffentlichten zweiten Teil mit den Schlüsselwerken konservativer Weltanschauung und handelt auf etwa 250 Seiten 164 Werke von 133 Autoren ab, von Solons Eunomia-Gedicht bis hin zu – man höre und staune – Sarrazins Pamphlet über die angebliche Selbstabschaffung Deutschlands, dem die Herausgeber offensichtlich den Status eines konservativen Meisterwerks zuweisen. Dabei behauptet doch Sarrazin von sich im Brustton der Überzeugung, altgedienter Sozialdemokrat zu sein. Nun, auf das Problem der Auswahl wird noch zu kommen sein. Zunächst jedoch einige Anmerkungen zum Anspruch, den die Herausgeber im Vorwort dem Leser gegenüber erheben.
Anspruch
Zu den rhetorischen Mitteln, derer zu bedienen die Herausgeber sich nicht schämen, gehört die ins Grandiose gesteigerte Selbsteinschätzung ihres Handbuchs, die von vornherein demjenigen imponieren will, der sich derart geschmeichelt fühlt zum Kreis der Eingeweihten zu gehören, dass er sich das zu Herzen nimmt, was hier vermittelt werden soll. Das politische Denken der anderen Unglückseligen unterliege, so Weißmann & Co., seit den 1960er Jahren einer unglaublichen »Verwahrlosung«, die damals nur »mit einem marxistischen System und einem entsprechenden Kanon« überdeckt worden sei, heute aber offen zutage trete: »Es gibt«, so die Klage, »kein Maß [Kanon, Anm. d. A.], nach dem sich gerichtet, keine Idee, an der sich orientiert werden könnte, und keine Tradition, an die sich anknüpfen ließe.« Kurzum, mit Weißmanns Lieblingsvokabel gesprochen, es herrscht die Dekadenz.
Nur gut, dass es das »Institut für Staatspolitik« gibt, das selbstverständlich über »Maß, Idee und Tradition« verfügt, die Welt hat es bislang nur noch nicht gemerkt. Jetzt aber, »in Zeiten, in denen die bloße Existenz von Bücherschränken und Bibliotheken nicht mehr auf Qualität schließen läßt« (!), liegt das Buch der Bücher vor und vermittelt das entsprechende »geistige Rüstzeug«. Um Zu-Rüstung geht es den Herausgebern in der Tat, nicht um den Erwerb antiquarischen Wissens, denn um »im alltäglichen Kampf der Weltanschauungen« bestehen zu können, bedarf es eines geistigen Fundus, eines geistigen »Schlüssels«, auf den der Konservative praktischerweise zurückgreifen kann. Lautete das maoistische Kriterium der »Wahrheit«, mit dem die K-Gruppen in den 1970er Jahren ihrer politischen Praxis den Anschein einer theoretischen Begründbarkeit verliehen, Politik müsse »dem Volke dienen«, so verpflichten die Herausgeber nun den Kampf mit dem Feind auf eine höhere Abstraktion: »Die Schlüsselwerke haben […] einen anderen Anspruch: Der Band will, ganz im Sinne Nietzsches [mit drei Werken vertreten, Anm. d. A.], dem Leben dienen.«
Neben solch krudem Instrumentalismus darf das den Alltag des Weltanschauungskampfes Überschreitende nicht zu kurz kommen. Selbstverständlich führten die ausgewählten Bücher auch »zu den ewigen Fragen, die jede neue Generation neu beantworten müsse«. Doch halt, hier sei Vorsicht geboten. Die Herausgeber sorgen sich um das Wohl des Lesers, er oder sie könne auf der Suche nach Antworten »im Ungefähren beginnen« und »Überblick und Richtung« verlieren. So verfolgen die Schlüsselwerke auch den pädagogischen Zweck der »Anleitung« – man spürt deutlich die schulmeisterliche Attitüde des Gymnasiallehrers Weißmann. Der »Sitz im Leben« des Handbuchs ist eben, wie schon früher bei der Besprechung des ersten Bandes des »Staatspolitischen Handbuches« festgestellt wurde (s. DRR Nr. 123), die Ausbildung des Elitenachwuchses (»Curriculum dextrum«) zum gleichsam diplomierten konservativen Weltanschauungskämpfer.
Aufbau
Die Autoren des Handbuchs haben fast alle schon für die »Sezession«, die Zeitschrift des IfS, oder für die »Junge Freiheit« zur Feder gegriffen. Etwas mehr als die Hälfte der Beiträge stammen von sechs Autoren: Karlheinz Weißmann (31 Beiträge), Erik Lehnert (16), Till Kinzel (11), Wiggo Mann (10), Harald Seubert, Studienzentrum Weikersheim (10), Götz Kubitschek (8). Unter den insgesamt 34 Autoren findet sich nur eine Frau, Ellen Kositza mit einem Beitrag.
Die Besprechung der »Schlüsselwerke« folgt einem bestimmten Muster: Jeder Text »orientiert über den Entstehungskontext des Werkes, beschreibt die wichtigsten Gedankengänge und dessen Aufbau und gibt Hinweise auf die Rezeption des Werkes«. Der Schwerpunkt liegt dabei zweifellos auf dem zweiten Kriterium. Die »Hinweise« sind meist wirklich nicht mehr als kurze Anmerkungen, und um den Leser nicht zu verstören (»Anleitung«!), handelt es sich zumeist nicht um Hinweise, die Gegenstandpunkte zu Wort kommen lassen. Dem entspricht, dass die Literaturhinweise äußerst knapp gehalten sind, was fast schon ans Peinliche grenzt. Wenn beispielsweise Wiggo Mann den Schmitt-Klassiker »Begriff des Politischen« ganz leidlich referiert, so verknappt er die Hinweise auf wenige Zeilen. Kritiker von Carl Schmitt wie Karl Löwith, Herbert Marcuse oder Helmut Kuhn werden natürlich nicht erwähnt, und die Literaturangaben begnügen sich mit zwei Autoren, die über den entsprechenden Stallgeruch verfügen (Helmut Quaritsch, Thor von Waldstein).
Auswahl
Die Auswahl der Werke unterliegt einem kleinen Problem, auf das bei aller Lobhudelei bereits Felix Dirsch in der »Sezession« und Jost Bauch in der »JF«, hingewiesen haben. Letzterer wirft die Frage auf, »ob in diesem Werklexikon nur Werke von ausgewiesenen ‚bekennenden‘ konservativen Autoren besprochen werden sollen oder ob auch Werke Berücksichtigung finden, die […] für das konservative Denken unabhängig von der politischen Präferenz des Autors von Relevanz sind«. Die Herausgeber umgehen das Problem, indem sie den Begriff des Konservatismus nicht näher umreißen und die Grenzen des Begriffs weder ideen- noch sozialgeschichtlich bestimmen, was zugegebenermaßen keine leichte Übung wäre. So darf denn Felix Dirsch dies im Gegenteil als besonderen Vorzug des Handbuches ausweisen, insofern nämlich »der Konservatismus-Begriff weit gefaßt ist und daher Texte aufgenommen wurden, die man auch als Kenner der Problematik kaum als konservativ vermutet«.
Was aber soll man von einem Handbuch halten, das Kants »Zum ewigen Frieden« besprechen lässt (von Steffen Dietzsch) und dies kommentarlos neben die Schriften eines Carl Schmitt stellt, in denen dieser die Einheitlichkeit und Universalität des Völkerrechts, bei Kant basierend auf einem Föderalismus republikanisch verfasster freier Staaten, aufgelöst wissen will zu Gunsten eines geregelten Nebeneinanders von Großräumen (getragen von Reichen) mit jeweils unterschiedlichen Völkerrechten? Oder was soll man davon halten, dass ein von deutschnational und völkisch gesonnenen Studenten mit Hass verfolgter Theodor Lessing mit seinem geschichtsphilosophischen Werk »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« aufgenommen wird, und dies nur deshalb, weil sich Bezüge zu Oswald Spengler oder Ludwig Klages herstellen lassen? Derartige Verschränkungen zwischen rechten und linken Intellektuellendiskursen lassen sich an vielen Beispielen in der Weimarer Republik aufzeigen. Nach dieser Logik könnte man auch Herbert Marcuses »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« von 1932 in das Handbuch aufnehmen, weil er Heideggers Existenzphilosophie für eine Interpretation der Pariser Manuskripte von Marx fruchtbar zu machen versuchte.
Man könnte diese Einwände an weiteren Beispielen (z. B. Hannah Arendt, Helmuth Plessner) aufzeigen. Selbst Jost Bauch fällt auf, dass »Werke von Kant, Jaspers, Lessing oder Hegel […] nicht durchgängig dem konservativen Lager« zugesprochen werden können. Der einflussreichste »Hegelianer« war übrigens Marx. Ohne Hegel keine Kritik der politischen Ökonomie. Der Eindruck entsteht, dass hier nach der Hühnerhof-Methode verfahren wird. Man pickt sich die Brosamen heraus, die in ein vorgefasstes (und nicht offengelegtes) Verständnis von Konservatismus hineinpassen. Der Leser muss also schon Armin Mohlers »Konservative Revolution« (von Weißmann selbst besprochen) oder einiges von Weißmann gelesen haben, um zu wissen, warum ein gestandener linker Historiker wie Zeev Sternhell (»Faschistische Ideologie«) »verwertet« wird.
Inkonsequenzen
Man sieht, dass es sich die Autoren des IfS etwas einfach machen. Aber auch in anderer Hinsicht sind Fragezeichen angebracht. Der Aufbau des Handbuchs ist reichlich inkonsequent. Ideengeschichtlich holt es bis zu den alten Griechen weit aus, um dann das römische (Cicero) und christliche Staatsdenken in Spätantike und Mittelalter (Augustinus, Thomas von Aquin) zu vernachlässigen. Für das protestantische Staatsdenken wäre Martin Luther unverzichtbar, ebenso wie Jean Bodin für die Rechtfertigung des Absolutismus. Die gegenrevolutionäre Literatur ist mit Edmund Burke und Donoso Cortes vertreten, nicht aber mit der politischen Romantik in Deutschland, wenn man vielleicht von Fichtes »Reden an die deutsche Nation« absieht. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Breiter vertreten ist der romanische Faschismus, auf den sich Mohler immer berief: natürlich als Vordenker Georges Sorel, dann Emil Cioran, Drieu La Rochelle und Julius Evola. Aus dem US-amerikanischen Bereich werden besprochen: für die libertär-marktradikale Richtung der Journalist Henry Louis Mencken, Friedrich A. v. Hayek und der Anarchokapitalist Hans-Hermann Hoppe, für die Traditionalisten die Deutsch-Amerikaner Leo Strauss und Eric Voegelin sowie Kirk Russell. Die britische Szene ist vertreten durch christlich-konservative Denker wie Gilbert Keith Chesterton, T. S. Eliot, C. S. Lewis sowie den Philosophen Michael Oakeshott.
Schwerpunkt
Der Schwerpunkt des Handbuches liegt aber zweifellos auf den Autoren, die laut Armin Mohler der »Konservativen Revolution«, ihrem Umfeld und ihren Folgewirkungen bis heute zugerechnet werden können: erstens auf den »herausragenden, kategoriensprengenden Autoren« wie Spengler, den vorrepublikanischen Thomas Mann, Carl Schmitt, Hans Blüher, die Gebrüder Jünger; zweitens speziell auf den wichtigsten Jungkonservativen (der »TAT«-Kreis fehlt allerdings), während von den Nationalrevolutionären nur noch Ernst von Salomon, allerdings mit zwei Nachkriegsschriften, gewürdigt wird. Drittens finden sich Artikel zu Autoren, die Stefan Breuer mit dem Etikett »ästhetischer Fundamentalismus« versehen hat: Ludwig Klages, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und als aktuelleres Beispiel Botho Strauß. Dieser Traditionslinie könnte man auch Hans Sedlmayr, Martin Mosebach und Hans-Jürgen Syberberg zuordnen. Wichtig sind viertens die Brückenbauer, die aus der Zwischenkriegszeit in die Entstehungsgeschichte der jungkonservativen »Neuen Rechten« in der Bundesrepublik hineinragen, wie Ernst Forsthoff, Hans Freyer, Helmut Schelsky und Arnold Gehlen (einerseits »Der Mensch« von 1940, anderseits »Moral und Hypermoral« von 1969, eine Kampfschrift gegen die 68er). Fünftens: Die jüngere, in der Nachkriegszeit studierende Generation ist vertreten durch die Münsteraner Ritter-Schule, den Kreis von Schülern um Joachim Ritter; natürlich nicht die sozialdemokratischen »Abweichler« wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, auch Hermann Lübbe fehlt; wohl aber Odo Marquard, Robert Spaemann, Günter Rohrmoser und Bernard Willms. Mit Arnold Gehlen und Günter Rohrmoser ist dann sechstens der Bogen gespannt zum Kreis um die Zeitschrift »Criticón« (Schrenck-Notzing, Mohler) und zur jungkonservativen »Neuen Rechten«: zu dem Reichstheologen und zwischen Philo- und Antisemitismus schwankenden Hans-Dietrich Sander (mit seinem Werk »Die Auflösung der Dinge«), zu dem Schmittianer Günter Maschke und natürlich zu Weißmann himself, der sich damit ganz unbescheiden als staatspolitischer Klassiker in sein Handbuch einträgt. Erwähnenswert auch noch der jüngst verstorbene Gerd-Klaus Kaltenbrunner (siehe aktuelle Ausgabe des DRR).
Themen
Neben diesem genealogischen Strang muss abschließend noch auf einige thematische Stränge verwiesen werden: Revisionistische Fragestellungen (Nationalsozialismus, II. Weltkrieg, Vertreibung) klingen an mit Ernst Nolte, Rainer Zitelmann, Alfred M. de Zayas, Stefan Scheil und Jörg Friedrich; zum Thema Elite und Massen findet man Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca, Robert Michels, Gustave Le Bon, Ortega y Gasset und Elias Canetti; zur Militärtheorie Carl von Clausewitz und Martin van Creveld; zur Ökologie Herbert Gruhl und Edward Goldsmith (beide vorgestellt von dem Neuheiden Reinhard Falter); zu Verhaltensforschung, Anthropologie und »Völkerbiologie« Ilse Schwidetzky, Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt und der bereits erwähnte Arnold Gehlen; zu Demografie und Bevölkerungspolitik Robert Hepp, Gunnar Heinsohn und – Sarrazin.
Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Der Rechte Rand (Nr. 130, Mai/Juni 2011)