20 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen

 

 

Vom 22.-26.8.1992 kam es im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen zu einem tagelangen Pogrom von Neonazis gegen dort lebende MigrantInnen.

Von Michael Lausberg

Extreme Rechte schleuderten unter dem Beifall von ZuschauerInnen Benzinbomben in mehrere von MigrantInnen bewohnte Häuser und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. In der Nacht des 24. August warfen unter „Ausländer raus“-Rufen der umstehenden Schaulustigen Neonazis Molotowcocktails unter Rufen „Wir kriegen Euch alle, jetzt werdet ihr geröstet“ in das Gebäude der in die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST). Wie durch ein Wunder gab es keine „20 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen“ weiterlesen

Neue Ausgabe des DISS-Journals

Die 23. Ausgabe unserer Zeitschrift DISS-Journal ist erschienen. Sie können sie kostenlos als PDF-Datei herunterladen.


 

Deutungskämpfe um den rechten Terror

Neue Köpfe an der Spitze der Geheimdienst- und Polizeibehörden: Um der Debatte über die Abschaffung des Verfassungsschutzes zu entgehen, setzt die Politik auf neues Personal in Führungspositionen der (Un)sicherheitsbehörden. Medien sprechen häufig über „Versäumnisse“, „Ermittlungspannen“ und „organisatorische Defizite“ beim Verfassungsschutz. Die aktive Rolle, die der deutsche Inlandsgeheimdienst nicht zuletzt durch Finanzierung von V-Leuten und weitere Kontakte in die rechte Szene spielt, wird dagegen weniger intensiv thematisiert.

Nicht nur das Bild des Verfassungsschutzes ist in den Medien umkämpft. Das DISS-Journal untersucht im Schwerpunkt dieser Ausgabe den Diskurs um Frauen im Rechtsextremismus am Beispiel der NSU-Berichterstattung in der Bild. Wir analysieren, wie die Neonazi-Szene selbst über den NSU spricht, und welche Auswirkungen die Enthüllungen auf die Debatte über ein mögliches NPD-Verbot haben. Wir rezensieren Literatur zum Thema und werfen außerdem einen Blick auf andere rechte Szenen in Europa. Außerdem in diesem Heft: Artikel zu den Themen soziale Gerechtigkeit, Demokratie sowie zum institutionellen Rassismus in der deutschen Flüchtlingspolitik.

 

Inhalt DISS-Journal 23 (2012)

  • Billigen – verschleiern – dichthalten. Rechte Verschwörungskonstruktionen: Wie die Szene über den NSU spricht. 2-5
    Von Martin Dietzsch
  • Beate Zschäpe in der Bild-Zeitung: Zwischen Nazi-Braut und Nazi-Killer. Der Diskurs um Frauen im Rechtsextremismus am Beispiel der NSU. 6-10
    Von Anna Oelhaf 
  • Die NPD-Verbotsdebatte. Perspektiven auf ein Parteiverbot in der Wissenschaft. 11-13
    Von Robin Heun 
  • Rezension: Markus Bernhardt, Das braune Netz. Naziterror – Hintergründe, Verharmloser, Förderer. 14-15
    Von Michael Lausberg 
  • Spontane Aufmärsche oder Großdemonstrationen. Zu einer Debatte innerhalb der extremen Rechten. 16-17
    Von Leroy Böthel 
  • Der „Wahre Finnen-Rechtspopulismus‘. 18-20
    Von Michael Lausberg 
  • Rezension: Die kultuRRevolution nördlich und südlich des Mittelmeers. Zum Themenheft der kultuRRevolution Nr. 61/62 2012. 21-23
    Von Jobst Paul 
  • Der Aufstand der ‚social non-movements’ und der gesellschaftlichen Linken gegen die Sparpolitik: Erste Bemerkungen zu den griechischen Wahlen im Jahr 2012. 24-25
    Von Vassilis S. Tsianos, Dimitris Parsanoglou & Pavlos Hatzopoulos 
  • Demokratie als Baustelle. Jungkonservative und neoliberale Visionen von einem plebiszitären Präsidialsystem. 26-28
    Von Helmut Kellershohn
  • Multiple Krisen im Kapitalismus. Rezension zu Alex Demirovic, Julia Dück, Florian Becker, Pauline Bader (Hrsg.): VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Hamburg : VSA 2011. 29-30
    Von Jens Zimmermann 
  • Krise des Kapitalismus und Suche nach Alternativen. Tagungsbericht. 31-32
    Von Wolfgang Kastrup
  • „Eine Theorie des kapitalistischen Staates muss die Metamorphosen ihres Gegenstandes kennen.“ Helmut Kellershohn erklärt, warum es sich lohnt, Poulantzas zu lesen. 33-34
    Von Helmut Kellershohn 
  • Sprung nach links? Zu den jüngsten Wendungen im FAZ-Feuilleton. 35-37
    Von Sebastian Friedrich
  • ,Recht auf die Stadt‘: Mehr Bewegung in der festgefahrenen Entwicklung Duisburgs? 38-43
    Von Niels Jansen und Björn Ochs 
  • Die Antisemitismusforschung kritisiert Initiativen – steht aber selbst mit leeren Händen da. ,Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft“ Tagung Berlin 26/27. Oktober 2011. 44-45
    Von Jobst Paul 
  • Anregungen und Gegenstrategien. Neue Publikationen des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA). 46-47
    Von Leroy Böthel 
  • Institutioneller Rassismus. Der Fall einer Hildesheimer Familie ist zum traurigen Symbol insbesondere der niedersächsischen Flüchtlingspolitik geworden. 48
  • Zum Umgang mit Flüchtlingskindern als Form eines Institutionellen Rassismus. Statement vom 23. Mai 2012. 49-51
    Von Heiko Kauffmann 
  • Schreiben vom 25. Januar 2012 an den Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen Herrn David McAllister, zum Fall der Hildesheimer Familie Ahmed Siala/Gazale Salame. 51
    Von Siegfried Jäger, Margarete Jäger und Jobst Paul 
  • Stellungnahme zur Einrichtung einer unabhängigen Expertinnenkommission Institutioneller Rassismus. 52-53
    Siegfried Jäger, Margarete Jäger, Jobst Paul 
  • Das Entwürdigende in Worte fassen. Zur kulturellen Dimension des Institutionellen Rassismus – am Beispiel des Unworts des Jahres 2011. 54-56
    Von Jobst Paul 
  • Erklärung der Jury der Aktion Unwort des Jahres vom 17. Januar 2012. 54
  • Diskurse in Bewegung(en). Rezension – Britta Baumgarten, / Peter Ullrich: Discourse, Power and Governmentality. Sodal Movement Research with and beyond Foucault, Discussion Paper SP-IV 2012-401, Social Science Research Center Berlin 2012. 57-58
    Von Jens Zimmermann
  • Gezeichneter Geist. Rezension: Ansgar Lorenz; Reiner Ruffing, Michel Foucault. Philosophie für Einsteiger. München : Fink 2012. 59-60
    Von Torsten Bewernitz
  • Konstruktionen für den Krieg? Rezension: Torsten Bewernitz, Konstruktionen für den Krieg. Die Darstellung von Nation und Geschlecht während des Kosovo-Konflikts 1999 in deutschen Printmedien. Münster: Westfälisches Dampfboot 2010. 61-62
    Von Andrea Nachtigall 
  • Kriegsdenkmäler als Lernorte friedenspädagogischer Arbeit. Projektbericht. 63
    Von Martin Dietzsch 
  • Wir haben noch viel vor! Ein Vierteljahrhundert Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. 64

 

„Eklat“ im niedersächsischen Landtag

Autor: Martin Dietzsch

„… und es gibt auch Wissenschaftler, die bezeichnen das als ‚Institutionellen Rassismus‘ was wir hier erleben…“

Am Mittwoch (20.6.2012) nahm SPD-Fraktionschef Stefan Schostok in seiner Rede im niedersäschsischen Landtag das böse Wort „Institutioneller Rassismus“ in dem Mund und löste damit tumultartige Szenen bei Abgeordneten und Ministern der CDU aus.

„Niemand dürfe sich im Parlament dazu hinreißen lassen, der Regierung Rassismus vorzuwerfen.“

So fasst die WELT die heftigen Reaktionen höflich zusammen.

Einen drastischeren Eindruck vermittelt ein TV-Beitrag des NDR:
Eklat im Landtag, NDR 20.6.2012, 19.30 Uhr (Diesen Beitrag findet man inzwischen auch bei youtube)

Bildschirmfoto NDR 20.6.2012

Stefan Schostock zitierte eine kurze Passage aus einer Stellungnahme des DISS, die in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung  erwähnt worden war (Umstrit­tene Abschie­bung in Nie­der­sach­sen — In Stur­heit gefangen, vergl. auch DISSkursiv vom 18.6.2012).

Wir veröffentlichen hier den „Stein des Anstoßes“, auf den „„Eklat“ im niedersächsischen Landtag“ weiterlesen

Netzfundstücke: Rostock-Lichtenhagen nach 20 Jahren

In seinem Beitrag Rassismus, Mob und Flächenbrand für publikative.org erinnert der Journalist Kai Budler an die pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren und spannt den Bogen bis in die Gegenwart. Er wirft dabei auch einen kritischen Blick auf „Lichterketten“ und auf den späteren „Aufstand der Anständigen“. Der Autor fordert, den institutionellen Rassismus und den Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft stärker zu thematisieren.

Er bezieht sich u.a. auch auf einen Artikel von Siegfried Jäger im DISS-Journal, den Sie hier im Original nachlesen können:
Nur ein Sommerlochtraum. Die Kampagne gegen Rechts in Medien und Politik. Von Siegfried Jäger, erschienen in DISS-Journal 7 (2001)

Netzfundstück: SZ über umstrittene Abschiebung

Die Süddeutsche Zeitung berichtet in ihrer Ausgabe vom 18. Juni 2012 über einen besonders drastischen Fall von Abschiebung in Niedersachsen. Neben Pro Asyl und einigen hochrangigen Politikern hat auch das DISS versucht, im konkreten Fall zu intervenieren. Bisher waren alle Bemühungen vergeblich. Die SZ berichtet, dass Pro Asyl gegen den Verstoß gegen die  Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen protestiert und die Einsetzung einer unabhängigen Institution zum institutionellen Rassismus fordert. Weiter heißt es in dem Artikel:

Hinter die Forderung gestellt hat sich auch der Flüchtlingsrat Niedersachsen sowie das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. In einem Brief des Instituts an Ministerpräsident McAllister heißt es, die Abschiebung und die Verweigerung einer Zusammenführung der Familie Siala/Salame müsse als „besonders eklatanter Fall von institutionellem Rassismus bewertet werden“.

Lesen Sie bitte den vollständigen Artikel hier:
Umstrittene Abschiebung in Niedersachsen – In Sturheit gefangen

 

Rezensionen

Auf zwei neue Rezensionen von DISS-Publikationen möchten wir hinweisen: Auf dem PW-Portal (Portal für Politikwissenschaften) erschien eine Rezension von Christoph Busch zum Buch Rechte Diskurspiraterien.

Diese Diskurspiraterie wurde bereits in mehreren Aufsätzen an einzelnen Beispielen analysiert, allerdings gelingt es hier erstmals, das Thema hinsichtlich mehrerer Dimensionen in einem größeren Kontext zu bearbeiten. Aufschlussreich sind unter anderem die Artikel zu den Themenfeldern Antikapitalismus, Feminismus und Pazifismus. Sie verdeutlichen, wie die radikale Rechte diese aufgreift, völkisch-nationalistisch umdeutet und damit Anschlüsse an die Diskurse der „Mitte“ sucht. Interessant ist insbesondere der Beitrag von Lenard Suermann zu den Autonomen Nationalisten. Er arbeitet überzeugend am Material „ein vielschichtiges Bild des Phänomens ‚AN‘“ (188) heraus, das eben auch die Widersprüche und Spannungsfelder akzentuiert und in den Kontext der gesamten Neonaziszene setzt. Dabei wird auch deutlich, dass die AN keine Entwicklung nach einem Masterplan nehmen, sondern dass es sich vielmehr um eine tentative Suchbewegung handelt, die vor allem jugendkulturelle Praxen erfolgreich integrieren konnte.

Den vollständigen Beitrag lesen Sie bitte hier: Rezension Christoph Busch

Michael Lausberg beschäftigt sich in TABULA RASA – Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur mit dem DISS-Titel zu den Anschlägen in Norwegen Das hat doch nichts mit uns zu tun.

Als Untersuchungsergebnis wurde festgehalten, dass alle untersuchten Medien eine Externalisierungen des Täters und der Tat betrieben: „Während zu Recht konstatiert wird, dass Breivik sich in rechten Milieus bewegt hat und offenkundig deren Ideologien vertritt, wird eine Auseinandersetzung mit zentralen Aussagen Breiviks Ideologie im je eigenen Spektrum abgewehrt.“
Die Morde Breiviks wurden vor allem in rechten Medien als Reaktion auf „islamistischen Terror“ gewertet, auf diese Weise wurde eine Schuldumkehr betrieben. Bei der Berichterstattung über die Anschläge in Norwegen kam es selbst zu rassistischen Argumentationsmustern; die Ursachen für (antimuslimischen) Rassismus wurden oft in der Migration selbst und bei den Migranten gesucht. Das Denken und Handeln Breiviks wurde in den Bereich des Pathologischen verschoben. Die These des „Einzeltäters“ wurde gebetsmühlenartig wiederholt. Diese Argumentationsmuster dienten auch der Abwehr der eigenen Verantwortung für die entsprechenden Diskurse.
Es wurde festgestellt, dass „rassistische Implikationen in Islam- und Migrationsdiskursen so fest verankert sind, dass dieses Ereignis nicht bewirkte, diese grundlegend zu hinterfragen.“ Eine Selbstreflexion über eigene Schuld und Mitverantwortung fand in den seltensten Fällen statt. Viele bürgerliche Medien betonten eine Mitschuld der extremen Rechten, die – gemäß der Extremismustheorie – am Rand der Gesellschaft verortet werden. Der alltägliche Rassismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spielte eine bei der Berichterstattung nur eine marginale Rolle, Verweise auf die so genannte Sarrazindebatte gab es kaum. Margarete Jäger konstatierte: „Dabei hätte die mediale Verarbeitung der Anschläge in Norwegen den Journalistinnen die Augen öffnen können. Sie hätten ein Lehrstück darüber werden können, was die Diskurse mit uns machen und wie stark wir in diese verstrickt sind. Dazu wäre allerdings eine kritische Hinterfragung der jeweiligen Perspektiven notwendig gewesen. Diese hat jedoch nur zaghaft stattgefunden und betraf auch nur die Notwendigkeit der anderen Kontextualisierung. (…) Aber vielleicht sind die Ereignisse in Norwegen ja dazu geeignet, die Diskurse in Deutschland auf mittlere Sicht durcheinander zu wirbeln und die reflexartige Reaktion der Medien zu korrigieren.“

Den vollständigen Artikel von Michael Lausberg lesen Sie hier: Tabula Rasa No 74 (4/2012)

 

DISS Online-Text zur christlichen Judenfeindschaft

In der DISS Online-Bibliothek können Sie ab sofort einen Aufsatz von Jobst Paul abrufen, der bereits 2001 entstand. Thematisiert werden verschiedene Varianten christlicher, insbesondere calvinistisch-reformierter und angelsächsischer Judenfeindschaft, u.a. die Legenden, die an die Existenz des Chasaren-Reiches im 8. Jahrhundert anknüpfen.

Von Anglo-Israelismus zu Christian Identity
Entwicklungslinien calvinistisch-reformierter und angelsächsischer Judenfeindschaft
Autor: Jobst Paul

Lutherische und katholische Regionen entwickelten oft militant-abweisende Formen der Judenfeindschaft. Dagegen bildeten die calvinistisch-reformierten Regionen Europas, vor allem England und die Niederlande, in der Folge auch die amerikanischen Staaten und der Staat der Voortrekkers, der burischen Pioniere Südafrikas, paternalistische Formen der Judenfeindschaft aus. Insbesondere das Bewusstsein, die Juden als herrschendes Geschlecht bereits abgelöst und von ihnen die jüdisch-alttestamentarische Identität übernommen zu haben, beherrschte bereits die Millennialisten im Gefolge Cromwells, aber auch die niederländischen Eliten des 17. Jahrhunderts. Hinzu kam der reformierte Glaube an eine Wiederkunft des Messias in Jerusalem, wenn sich dort die inzwischen zerstreuten Juden zur Bekehrung zum Christentum versammelten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbanden sich damit sektiererische Theorien, die sich – meist von Großbritannien ausgehend – in den USA unter kontinental-europäischem Einfluss zu rechtsextrem-antisemitischen Lehren radikalisierten und seitdem nach Europa zurückwirken.

Lesen Sie den Text von Jobst Paul in der DISS-Online-Bibliothek. Sie können ihn hier als PDF-Datei abrufen (57 Seiten):
Jobst Paul: Von Anglo-Israelismus zu Christian Identity

Netzfundstück: „In seiner Dringlichkeit kaum zu überbieten“

Auf der Plattform „Kritisch Lesen“ erschien eine ausführliche Rezension unseres Buches zur Rezeption der Anschläge in Norwegen.

Jorane Anders schreibt, der Band sei „in seiner Dringlichkeit kaum zu überbieten“:

Kaum einmal ein halbes Jahr ist vergangen, seit im Anschluss an eine Bombenexplosion in Oslo und einen „Amoklauf“ auf der Insel Utøya die Welt der diskursiven Selbstverständlichkeiten über das Thema Terrorismus und Co ein kleines bisschen zu wanken begann, nur um sich fast im gleichen Augenblick neu zu erfinden. Der Band „,Das hat doch nichts mit uns zu tun!‘ Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien“ liefert in beeindruckender Aktualität politische Analysen und Kontextualisierungen der Diskurse rund um die Anschläge vom 22. Juli 2011. Die Beiträge durchzieht eine Offenlegung der spezifischen Sagbarkeitsräume, die die Verschiebung von einer Interpretation der Ereignisse als „Machwerk des internationalen islamistischen Terrorismus“ hin zur entpolitisierten Tat des extrem rechten und/oder geistig verwirrten Einzeltäters Anders Behring Breivik bedingen.

Die vollständige Rezension lesen Sie bitte hier: http://www.kritisch-lesen.de/2012/03/gegen-entpolitisierung-und-extremismustheorie/

Das Buch erhalten Sie in jeder guten Buchhandlung:
Regina Wamper / Ekaterina Jadtschenko / Marc Jacobsen 2011: „Das hat doch nichts mit uns zu tun!”. Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien. Unrast Verlag, Münster. ISBN: 978-3-89771-759-6. 184 Seiten. 18 Euro.

 

 

Die Rede von der gesunden deutschen Nation

Eine kritische, diskursanalytische Skizze zu einer Rede von Joachim Gauck.

Von Sebastian Reinfeldt

„Man vergisst nicht, wenn man vergessen will…“ (Friedrich Nietzsche)

Diese kritische, diskursanalytische ((Zur kritischen Diskursanalyse siehe: Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Duisburg/Münster 2004; Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 2006; Sebastian Reinfeldt, Nicht-Wir und Die-da, Wien 2000)) Skizze entsteht im Februar 2012, in einer Situation, in der klar ist, dass es einen Kandidaten der politischen Mehrheit für das Amt des deutschen Bundespräsidenten geben wird – den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, der bereits zur Wahl angetreten, aber damals gegen den späteren Bundespräsidenten Wulff unterlegen war. Eigentlich ein Ereignis, das auf eine zwischenzeitliche Verschiebung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse in Deutschland hinzudeuten scheint, und der bedeuten kann, dass die regierende politische Konstellation die Führung verloren haben könnte.

Unerwartet und spontan war diese gemeinsame Nominierung des eigentlichen (SPD und Grünen-) Oppositionskandidaten, und zwar deshalb, weil sie nur dadurch möglich wurde, dass der regierende Block auseinander bricht und der von ihr gewählte Bundespräsident an seinen Ungeschicklichkeiten scheitert.

Machtpolitisch sieht es daher wie ein Sieg der Opposition aus, und auch die medial erzeugte Zustimmung zu dem Kandidaten (den die Kanzlerin Angela Merkel zuerst nicht gewollt hatte) scheint anzuzeigen, dass hier etwas im politische Gefüge passiert ist, von dem der zu wählende Person nur ein Symptom darstellt.

Nur ein Symptom? Vielleicht. Aber auch dieses Symptom zu verstehen scheint nicht so leicht zu sein. Ist ein neuer politischer Krisen-Block aus CDU+CSU+SPD+Grüne+FDP entstanden, der in Zukunft „harte Entscheidungen“, die in Zeiten der Krise notwendig gemacht werden, gemeinsam abstimmt und der sich den Kandidaten Gauck als „Mittler“ gesucht hat?

Die Aufregung über dessen Nominierung in den Medien und im Internet könnte bedeuten, dass sich hier eine hegemoniale Verschiebung ereignet hat, die nachhaltig wirken und den politischen Diskurs formen wird. Immerhin wird dies ein Präsident einer deutlichen Mehrheit der Bundesversammlung sein, und man erwartet, dass „er“ „etwas mit Substanz“ zu sagen habe.

Deshalb scheint es lohnend, den Diskurs dieses Präsidenten der parlamentarischen Mehrheit zu analysieren, und zwar anhand einer Rede, die einen Kern des Selbstverständnisses Deutschlands betrifft: den Umgang mit der Vergangenheit. Der Bezug ist eine Rede, die Joachim Gauck 2006 bei der Robert Bosch Stiftung gehalten hat. „Die Rede von der gesunden deutschen Nation“ weiterlesen

ArNo: Kandidat Gauck

ArchivNotizen von Martin Dietzsch

Majestätsbeleidigung

Am vergangenen Wochenende wurde von einer ganz großen Koalition der Wunschkandidat der BILD-Zeitung Joachim Gauck zum Nachfolger des bei der BILD-Zeitung in Ungnade gefallenen Christian Wulff erwählt. Der parteilose Kandidat steht politisch eher rechts. Er scheint auf einer Wellenlänge mit CDU-Rechtsaußen Vera Lengsfeld zu funken. Freiheit statt Gleichheit ist sein schlichtes Credo.

Die Wahl des Bundespräsidenten war in der Vergangenheit schon mehrfach ein Signal für sich anbahnende Veränderungen in der Bundespolitik. Das lässt Böses ahnen. Gauck ist ja zuerst ausgerechnet von der Opposition auf den Schild gehoben worden. Soll man das als Omen nehmen, dass uns mit einem Regierungswechsel nach Rot-Grün ein ähnliches Desaster droht wie unter Gerhard Schröder? Da kommt schon fast der ketzerische Gedanke auf, ob nicht Angela Merkel das kleinere Übel darstellt. Immerhin zögerte sie bei der Kandidatenkür, allerdings vermutlich aus rein machtpolitischem Kalkül.

Die ganz große Koalition und fast alle Mainstream-Medien sind jedenfalls begeistert von ihrem Kandidaten und rufen ihn jetzt schon zum „Präsidenten der Herzen“ aus. Nur in Teilen der Blogosphäre und bei sozialen Basisbewegungen regt sich Kritik, denn sie befürchten einen „Präsidenten der steinernen Herzen“. Diese Kritik wird vom Mainstream als Majestätsbeleidigung aufgefasst.

In einem Gastbeitrag beim Blog Ruhrbarone kritisiert Rolf von Raden die Kritik an der Kritik.

Nach dem Shitstorm kommt der Gegensturm: Was wird der „Netzgemeinde“ nicht alles vorgeworfen, nachdem sie auf die große Gauck-Koalition damit reagierte, die Kritik an dem Bundespräsidenten in spe erneut pointiert vorzutragen.

[…] Und jetzt kommen wir zum Knackpunkt. In ihren angeblich aufklärerischen Artikeln weisen die selbsternannten Kritiker der Netzgemeinde nach, dass Joachim Gauck – welch Wunder – doch kein lupenreiner „Antidemokrat“ ist, und wohl auch kein „ausgemachter Rassist“. Letztere Formulierung habe ich bisher übrigens einzig in dem Blogpost gefunden, der die Unterstellung widerlegen will, aber in keiner Primärquelle. Der zukünftige Bundespräsident ist also kein „ausgemachter Rassist“ – und während er die selbst formulierte Unterstellung widerlegt, zeigt Patrick Breitenbach in seinem inzwischen vielbeachteten Blogpost unfreiwillig, was trotzdem so hochproblematisch an Gaucks Sarrazin-Thesen ist. Sie öffnen nämlich sehr wohl ein Feld, an das altbekannte rechte Diskurse über angeblich notwendigen Tabubruch und Political Correctness anschlussfähig sind.

Den vollständigen Text lesen Sie hier…
Kein Grund zur Aufregung: Die Gauck-Debatte in den sozialen Netzwerken

 

Die extreme Rechte und der Kandidat

Wie positioniert sich aber die extreme Rechte gegenüber dem Kandidaten? Hier ein erster kurzer Überblick.

Das Hass-Blog PI ist vom Kandidaten Joachim Gauck begeistert.

Ob Sarrazin-Lob, Kritik an der Anti-Atomhysterie, das Bloßstellen von populistischem Banken-Bashing oder seine Befürwortung von Stuttgart 21 – Joachim Gauck könnte durchaus auch für PI antreten.  ((PI, 19.2.2012, Gauck soll neuer Bundespräsident werden!))

Doch ein kleines Tröpfchen Essig schüttet PI dann doch noch sein Bier. Was glaubt man bei PI Verwerfliches in den Äußerungen von Joachim Gauck gefunden zu haben? Ausgerechnet das:

Lobhudelei für Kommunisten  ((ebenda))

Auch Dieter Stein von der Jungen Freiheit sieht Jürgen Gauck als seinen Wunschkandidaten. Er hofft auf einen erzkonservativen Antipoden zur verhassten Pragmatikerin Angela Merkel, der dazu beiträgt, der JF und dem Spektrum rechts von der Union das Schmuddelimage zu nehmen. Vielleicht wird es dann ja doch mal was mit der lange ersehnten neuen Rechtspartei.

Mit Joachim Gauck erwächst der Bundeskanzlerin ein ernstzunehmender Gegenspieler […] Wir werden mit ihm positive Überraschungen erleben!  ((JF, 19.2.2012, Joachim Gauck wird ein guter Bundespräsident))

Der neue NPD-Vorsitzende Holger Apfel hat ein Problem. 2010 hatten die Vertreter der NPD in der Bundesversammlung im dritten Wahlgang für Gauck gestimmt. Nun produziert sich Apfel noch fundamentaloppositioneller als sein Vorgänger Udo Voigt. Der Dissens zu Gauck wird allerdings nicht mit dessen Positionen begründet, sondern wirkt an den Haaren herbeigezogen.

Wir werden einem Konsenskandidaten von Merkel bis Özdemir auf keinen Fall die Stimme geben, denn ein solcher Präsident wird wieder mal nichts anderes sein, als eine Knetfigur des Establishments, ein willfähriges Ausführungsorgan des Kartells der Deutschland-Abschaffer.  ((NPD Bundesverband, 20.2.2012, Gauck wird sich als ein willfähriges Ausführungsorgan des Kartells der Deutschland-Abschaffer entpuppen))

Es läuft also wieder auf einen eigenen NPD-Bewerber hinaus. Scherzbolde haben bereits das Gerücht in die Welt gesetzt, die NPD wolle nach Frank Rennicke diesesmal Beate Zschäpe als Kandidatin aufstellen.

Auch aus der NPD Mecklenburg-Vorpommern unter Udo Pastörs kommt keine wirkliche Kritik an Gauck.

Dabei wird Joachim Gauck als Person geradezu missbraucht, um einer korrupten Politiklandschaft als Alibi zu dienen.  ((MUPINFO, 20.2.2012, Joachim Gauck als letztes Aufgebot einer korrupten Politiklandschaft))

Einzig das der NPD Saarland unter Frank Franz nahestehende Blog Deutschlandecho setzt etwas andere Akzente. Dem Autoren geht es ausschließlich darum, möglichst viel Medienaufmerksamkeit für die NPD zu erzeugen.

[…] wäre es ratsamer, ohne eigenen Kandidaten für Gauck zu stimmen und so wenigstens eventuell durch von dessen pro-Sarrazin-Äußerungen aufgeschreckte Linksmedien ein paar wütende Erwähnungen zu ergattern, als mit drei Stimmen für irgend einen Wald- und Wiesen-Kandidaten diejenigen zu verärgern, die trotz einiger sicherlich gegebener Mängel Gauck im Vergleich zu seinen Vorgängern als regelrechten Lichtblick sehen.  ((Deutschlandecho, 20.2.2012, Kommentar: Warum die NPD nur bei Schlagzeilengarantie nicht für Joachim Gauck stimmen sollte))

Das Deutschlandecho hat sich durch diese seriöse Äußerung immerhin eine Erwähnung in einem der führenden Linksmedien, den ArchivNotizen, ergattert.

Das den Piusbrüdern nahesstehende rechtsradikale Krawall-Blog Kreuz-net lehnt Gauck dagegen tatsächlich scharf ab. Die Erzkatholiken haben herausgefunden, dass er evangelisch ist, und es kommt noch schlimmer: Er ist mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet!

Gestern wurde der Ehebrecher und Ex-Prediger Joachim Gauck (72) von den deutschen Systemparteien zum Kandidaten für das Amt des nächsten Bundespräsidenten gekürt.  ((Kreuz-net, 20.2.2012, Jetzt wird der nächste Gaukler deutscher ‘Bild’-Bundespräsident))

Kreuz-net zitiert ausführlich und zustimmend den Beitrag eines anderen politesoterischen Blogs, in dem Gauck und Merkel als ehemalige privilegierte DDR-Funktionäre angeprangert werden. Der Beitrag versteigt sich dann aber sogar zu der  Behauptung, die Verurteilung von Gaucks Vater durch ein sowjetisches Tribunal 1951 sei zu Recht erfolgt.

Die ehemalige Tagesschau-Vorleserin Eva Herman argumentiert auf der Seite des Kopp-Verlags ganz ähnlich:

Sie raunt über

[…] die mögliche Stasi-Vergangenheit sowohl Gaucks als auch Merkels […]

Nun sind 2 IMs – IM Erika und IM Larve – an der Spitze – DDR2.0

Und natürlich sind die wahre Ursache für Wulffs Sturz wieder einmal die Machenschaften der Bilderberger. Wie langweilig!

Bilderbergerin Merkel dürfte ordentlich aufgeschreckt gewesen sein, als sich der Wulff im Schafspelz letztes Frühjahr zum ersten Mal offenbarte und von einem Tag auf den anderen – für alle überraschend – zum erbitterten Widersacher des ESM –Vertrags geworden war.  ((Kopp-Verlag, 20.2.2012, Joachim Gauck: Präsident der Herzen oder Kandidat der Finanzindustrie?))