Die Rede von der gesunden deutschen Nation

Eine kritische, diskursanalytische Skizze zu einer Rede von Joachim Gauck.

Von Sebastian Reinfeldt

„Man vergisst nicht, wenn man vergessen will…“ (Friedrich Nietzsche)

Diese kritische, diskursanalytische ((Zur kritischen Diskursanalyse siehe: Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Duisburg/Münster 2004; Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 2006; Sebastian Reinfeldt, Nicht-Wir und Die-da, Wien 2000)) Skizze entsteht im Februar 2012, in einer Situation, in der klar ist, dass es einen Kandidaten der politischen Mehrheit für das Amt des deutschen Bundespräsidenten geben wird – den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, der bereits zur Wahl angetreten, aber damals gegen den späteren Bundespräsidenten Wulff unterlegen war. Eigentlich ein Ereignis, das auf eine zwischenzeitliche Verschiebung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse in Deutschland hinzudeuten scheint, und der bedeuten kann, dass die regierende politische Konstellation die Führung verloren haben könnte.

Unerwartet und spontan war diese gemeinsame Nominierung des eigentlichen (SPD und Grünen-) Oppositionskandidaten, und zwar deshalb, weil sie nur dadurch möglich wurde, dass der regierende Block auseinander bricht und der von ihr gewählte Bundespräsident an seinen Ungeschicklichkeiten scheitert.

Machtpolitisch sieht es daher wie ein Sieg der Opposition aus, und auch die medial erzeugte Zustimmung zu dem Kandidaten (den die Kanzlerin Angela Merkel zuerst nicht gewollt hatte) scheint anzuzeigen, dass hier etwas im politische Gefüge passiert ist, von dem der zu wählende Person nur ein Symptom darstellt.

Nur ein Symptom? Vielleicht. Aber auch dieses Symptom zu verstehen scheint nicht so leicht zu sein. Ist ein neuer politischer Krisen-Block aus CDU+CSU+SPD+Grüne+FDP entstanden, der in Zukunft „harte Entscheidungen“, die in Zeiten der Krise notwendig gemacht werden, gemeinsam abstimmt und der sich den Kandidaten Gauck als „Mittler“ gesucht hat?

Die Aufregung über dessen Nominierung in den Medien und im Internet könnte bedeuten, dass sich hier eine hegemoniale Verschiebung ereignet hat, die nachhaltig wirken und den politischen Diskurs formen wird. Immerhin wird dies ein Präsident einer deutlichen Mehrheit der Bundesversammlung sein, und man erwartet, dass „er“ „etwas mit Substanz“ zu sagen habe.

Deshalb scheint es lohnend, den Diskurs dieses Präsidenten der parlamentarischen Mehrheit zu analysieren, und zwar anhand einer Rede, die einen Kern des Selbstverständnisses Deutschlands betrifft: den Umgang mit der Vergangenheit. Der Bezug ist eine Rede, die Joachim Gauck 2006 bei der Robert Bosch Stiftung gehalten hat. „Die Rede von der gesunden deutschen Nation“ weiterlesen

DJ20: Fatale Antworten auf Herrn S.

Ökonomie und Minderheiten-bashing zum 20. Jahrestag der Einheit

Autor: Jobst Paul

In seiner Ansprache zum 3. Oktober 2010 ließ Bundespräsident Wulff den rassistisch-biologistischen Tenor der Sarrazin-Debatte unkommentiert und übernahm stattdessen deren ‚ordnungspolitischen’ Reduktionismus. So, als habe die Einwanderung in die BRD gerade erst begonnen und als seien nicht bereits ganze Generationen von Einwanderern deutsche Staatsbürger, forderte Wulff die Beachtung von deutschem „Recht und Gesetz“, von „unsrere(n) gemeinsamen Regeln“ und das Akzeptieren von „unsere(r) Art zu leben“. In einem polemischen Schwenk gegen „multikulturelle Illusionen“ setzte er hinzu, diese hätten bei Einwanderern stets zum „Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung“ geführt.

Bereits tags zuvor hatte der ehemalige rotgrüne Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck im Berliner Abgeordnetenhaus – aus ‚christlicher Fürsorge’, wie er andeutete – die Gruppe der ‚integrationsunwilligen Ausländer’ mit Forderungen und Drohungen bedacht. Überrascht meldete daher die Neue Zürcher Zeitung aus Berlin „eine ganz neue Tonlage“ (4. Oktober 2010, Titel) und die Wiederaufnahme der deutschen ‚Leitkultur’-Rhetorik, nun als Haltung aller politischer Lager: Wulff und Gauck hätten „an diesem historischen Tag“ eine Tonlage aufgenommen, „die ziemlich genau zwei Wochen nach der ersten Welle der Empörung über Sarrazin aufkam und sich derzeit immer deutlicher in nahezu allen Lagern durchsetzt.“

Auch wenn die NZZ Wulffs Wendung „deutsch lernen“ als „deutsch leben“ missverstand (ein seltener Lapsus des Blatts), „DJ20: Fatale Antworten auf Herrn S.“ weiterlesen