Kameraden im Osten

Gastbeitrag von Anton Maegerle

Die NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) hat im März
gleichgesinnte Gruppierungen in Osteuropa besucht.

Vom 13. bis zum 15. März hielt sich eine achtköpfige Delegation der
Jungen Nationaldemokraten in der Slowakei und Tschechien auf. Eingeladen
in die Slowakei wurde der NPD-Nachwuchs von „Slovenská Pospolitost“
(Slowakische Gemeinschaft) und deren parteipolitischen Arm „Ludova
strana Nase Slovensko“ (Volkspartei – unsere Slowakei). Die
Neonazi-Gespräche in dem mitteleuropäischen Binnenstadt fanden in den
Städten Bratislava und Nitra statt. Die slowakischen Neonazis wollen die
„Tradition des Slawentums“ verteidigen. Regelmäßig marschieren sie gegen
„Zigeunerkriminalität“ auf. Sie bekennen sich zum Vermächtnis des
klerikal-faschistischen Tiso-Staates. Der katholische Priester Jozef
Tiso hatte 1939 einen Marionetten-Staat von Hitlers Gnaden gegründet.
Bei Teilen der slowakischen Landbevölkerung gilt der 1947 hingerichtete
Tiso bis zum heutigen Tag als Märtyrer. Führer der nicht im Parlament
vertretenen „Volkspartei – unsere Slowakei“ ist  Marian Kotleba (Jg.
1977). Der Roma-Hasser hetzt seit den neunziger Jahren gegen
„Zigeunerparasiten“, gegen Linke, Homosexuelle und Israel. Der Neonazi
wurde im November 2013 überraschend zum Regionalpräsidenten des
Landesbezirks Banská Bystrica gewählt. Das Amt ist vergleichbar mit dem
eines deutschen Ministerpräsidenten, jedoch mit wesentlich weniger
Kompetenzen. Kotlebas Wahlsieg schockierte das Land.
Neben den Treffen mit Gleichgesinnten in der Slowakei besuchten die JN
auch „einige Aktivisten“ der tschechischen „De(lnická mládež“ (DM;
Arbeiterjugend) in Brno, dem einstigen Brünn. DM ist die
Jugendorganisation der Neonazi-Partei „De(lnická strana sociální
spravedlnosti“ (DSSS; Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit). DM und
DSSS pflegen bereits seit Jahren intensive Kontakte zu
nationaldemokratischen Kreisen.
Einig sind sich deutsche, slowakische und tschechische Neonazis im Kampf
gegen das „eurokratische Zwangskorsett“, den Würgegriff der Eurokrake
und der internationalen Hochfinanz“ gegen Kapitalismus und für
Nationalismus.

Unverbesserlicher Rechtsextremist

Gastbeitrag von Anton Maegerle

Vor 50 Jahren, am 31. März 1965, fand in der österreichischen Landeshauptstadt Wien eine Demonstration gegen den antisemitischen Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz statt. Im Verlauf der Demonstration versetzte der Neonazi Günther Kümel dem Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger (Jg. 1898) einen Faustschlag. Das Opfer starb kurz darauf an den Folgen.

Ex-NSDAP-Mitglied Borodajkewycz hatte in seinen Vorlesungen Rosa Luxemburg als „jüdische Massenaufpeitscherin“ denunziert, deutsche Freikorps verherrlicht und Hitlers Heldenplatz-Rede zu seinem glücklichsten Tag gekürt. Ein Wiener Geschworenengericht verurteilte Kümel, Mitglied rechtsextremer Studentenzirkel um den Ring Freiheitlicher Studenten (RFS),  am 25. Oktober 1965 wegen Vergehens gegen die Sicherheit des Landes zu einer 10-monatigen Haftstrafe. Nach fünf Monaten Gefängnisaufenthalt wurde Kümel vorzeitig entlassen. Kümel, früher Mitglied des in Österreich verbotenen „Bundes Heimattreuer Jugend“ (BHJ), versicherte vor Gericht, er habe in Notwehr gehandelt. Der deutsche BHJ berichtete über den Vorgang: „Ein angetrunkener Kommunist und ehemaliger KZ-Häftling wurde bei einem Handgemenge so unglücklich durch die Abwehrmaßnahmen des Studenten Kümel getroffen, daß er kurz darauf verstarb.“ Kirchweger war das erste politische Todesopfer der Zweiten Republik.

Günther Kümel verschwand nach seiner Haftentlassung aus Österreich. Seit ca. 2000 ist der im hessischen wohnhafte Virologe als Gunther Kümel in einschlägigen Foren aktiv und greift für Szene-Publikationen zur Feder. Schriftverkehr mit dem Holocaust-Leugner Horst Mahler („Lieber Herr Mahler!“) pflegte Kümel vor Jahren mit dem Gruß „Für unser Volk und unser Recht!“ zu beenden. In einem Schreiben an Mahler vom 5. Mai 2003 schwadronierte Kümel über „opferbereite Revolutionäre, die Deutschland, die das Volk, die das Heilige Deutsche Reich brauchen.“ Nach dem Unfalltod des sächsischen NPD-Landtagsabgeordneten Uwe Leichsenring 2006 orakelte Kümel in der NS-apologetischen Postille „Recht und Wahrheit“ über ein „Attentat“ („ob der Mossad mal wieder ein Zeichen setzen wollte“). 2010 bezog Kümel im antisemitischen Blatt „Phoenix“ (Österreich) Stellung zum „’Ketzer‘-Prozess“ gegen den Holocaust-Leugner Gerd Honsik. In jüngster Zeit tummelt sich Kümel, der Eigenbekunden zufolge in seiner Familie „seit vielen Jahren“ das Fernsehen abgeschafft hat, „da die Berichterstattung langweilig und ideologiebelastet ist“, als Schreiber in verschwörungstheoretischen Kreisen wie „Elsässers Blog“.

NPD-Verbot: staatsfundamentalistische Verfahrenshindernisse

Von Martin Dietzsch

Nach längerer Pause rückt das Verbotsverfahren gegen die NPD wieder einmal in die öffentliche Aufmerksamkeit. Seit dem Antrag des Bundesrats vom Dezember 2013 hatte man kaum noch etwas zum Thema gehört. Nun meldete sich das Bundesverfassungsgericht zu Wort mit einem „Hinweisbeschluss im NPD-Verbotsverfahren“ vom 19.3.2015.

Es geht wieder einmal um die unsägliche V-Leute-Praxis der Geheimdienste. Das Gericht gibt sich nicht zufrieden mit den Testaten der Innenminister, in den Führungsgremien der NPD befänden sich keine V-Leute mehr. Schon diese Testate waren 2013 nur mit Mühe zusammengetragen worden. Jetzt fordert das Gericht – wenn ich die Ausführungen richtige verstehe – die vollständige Offenlegung der V-Leute-Praxis. Das Schreiben schließt mit der Forderung, der Antragsteller solle „insbesondere zur Frage der Quellenfreiheit des Parteiprogramms Stellung nehmen“. Es fordert also Beweise dafür, dass das NPD-Parteiprogramm nicht von V-Leuten verfasst oder beeinflusst wurde.

Diese Forderungen wären nur zu erfüllen, wenn man die Geheimdienste dazu zwingt, sich in die Karten schauen zu lassen. Doch selbst die zahlreichen Enthüllungen im Zusammenhang mit dem NSU-Skandal haben nicht zu einem Umdenken geführt.

Titelseite der DISS Studie V-Leute bei der NPD
DISS Studie „V-Leute bei der NPD“ (2002)

In Deutschland existiert eine Form des Fundamentalismus, die nicht in das Schema einer Extremismustheorie passt. So wie beim religiösen Fundamentalismus die jeweiligen heiligen Bücher über den weltlichen Gesetzen stehen, vertritt diese weitverbreitete weltliche Form des Fundamentalismus das Axiom: Die Nationale Sicherheit steht über der Politik und über dem Grundgesetz. Bei der Debatte über V-Leute geht es nicht um Quellenschutz, sondern um Verteidigung und Ausbau der Privilegien und der Sonderstellung der Geheimdienste.

Eine neue legale und unverbietbare NSDAP ist im Lichte dieser Form des Fundamentalismus weniger schlimm als eine wirksame demokratische Kontrolle der Sicherheitsapparate.

Aber das schreibe ich ja nicht zum ersten mal. „NPD-Verbot: staatsfundamentalistische Verfahrenshindernisse“ weiterlesen

Neue DISS-Broschüre: Stimmungsmache

In unserer Reihe kostenloser Online-Broschüren erschien der dritte Band:

stimmungsmache-titel-kleinAK Antiziganismus im DISS (Hg.)
Stimmungsmache
Extreme Rechte und antiziganistische Stimmungsmache
Analyse und Gefahreneinschätzung am Beispiel Duisburg

Autor_innen: Martin Dietzsch, Anissa Finzi, Alexandra Graevskaia, Ismail Küpeli, Zakaria Rahmani, Stefan Vennmann

Diese Broschüre untersucht exemplarisch am Beispiel der Stadt Duisburg, wie die extreme Rechte das Thema Antiziganismus aufgriff. Sie agierte dabei nicht isoliert im luftleeren Raum. Vielmehr besteht ein Zusammenhang zwischen Alltagsrassismus, etablierten Medien, Kommunalpolitik, und den Erfolgschancen der extremen Rechten. Dieses komplizierte Wechselspiel ist Gegenstand dieser Broschüre.

Die Broschüre steht als kostenlose PDF zum Download bereit.

 

Zum Thema Antiziganismus sind auch folgende Broschüren abrufbar:

Martin Dietzsch, Bente Giesselmann und Iris Tonks
Spurensuche
zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Duisburg

Eine Handreichung für die politische Bildung
Veröffentlicht als kostenlose Online-Broschüre im Juni 2014

Anhand des exemplarischen Beispiels der Stadt Duisburg wird aufgezeigt, welche Spuren des Völkermords an Sinti und Roma auch heute noch auffindbar sind und Anregungen dazu gegeben, wie man das Geschehen im Rahmen der politischen Bildung mit Jugendlichen thematisieren kann.

 

Bente Gießelmann
Differenzproduktion und Rassismus
Diskursive Muster und narrative Strategien in Alltagsdiskursen um Zuwanderung am Beispiel Duisburg-Hochfeld
Bachelorarbeit
Veröffentlicht im August 2013

 

Lesetipp: Neuerscheinung IDA-Reader Antiziganismus

Beim Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) erschien der Reader

Antiziganismus – Rassistische Stereotype und Diskriminierung von Sinti und Roma. Grundlagen für eine Bildungsarbeit gegen Antiziganismus.

Der Band enthält u.a. auch die Texte Diskurse über Sinti und Roma in den Medien von Alexandra Graevskaia und Vorwurf der Kriminalität von Michael Lausberg, die beide im DISS mitarbeiten.

Sinti und Roma sind in besonderem Maße rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt. Nicht nur aktuell aus Osteuropa migrierte Roma sind von Rassismus betroffen; antiziganistische Feindbilder richten sich gegen alle Sinti und Roma, die in Deutschland leben – in einer jahrhundertelangen Kontinuität, die selten betrachtet und herausgestellt wird.
Der Reader klärt über Ursachen und Auswirkungen von Antiziganismus auf und nimmt drei Ebenen von Antiziganismus in den Blick: Der erste Teil geht auf strukturelle Diskriminierung ein, wenn er nach der ausgrenzenden Wirkungsweise von Sprache, nach der aktuellen Mediendebatte über eingewanderte Roma und der Bildungssituation deutscher Sinti und Roma fragt. Weitere Beiträge widmen sich unter anderem der Diskriminierung von Sinti und Roma auf dem Arbeitsmarkt und der Lage von Roma in Ost- und Südosteuropa. Im zweiten Part fokussiert die Broschüre die individuelle Ebene des Antiziganismus. So geht die Publikation auf die Verbreitung antiziganistischer Einstellungen in Deutschland sowie die Herkunft und Wirkung einzelner antiziganistischer Vorurteile ein. Ein dritter Teil beleuchtet die Ebene von (extrem rechter) Agitation und Gewalt gegen Sinti und Roma in Deutschland wie in Mittel- und Osteuropa. Nicht zuletzt weil ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt von IDA e. V. die Unterstützung von und die Kooperation mit Migrant_innenselbstorganisationen ist, schließt die Broschüre mit der Selbstrepräsentation von Organisationen. Es stellen sich die Roma-(und Nicht-Roma-)Jugendorganisationen Amaro Drom e. V., Amaro Foro und TernYpe vor; ferner das AGORA-Netzwerk für Sinti- und Roma-Frauen, die Kampagne „Alle bleiben“ und die Hildegard-Lagrenne-Stiftung.

Milena Detzner/Ansgar Drücker/Barbara Manthe (Hg.): Antiziganismus – Rassistische Stereotype und Diskriminierung von Sinti und Roma. Grundlagen für eine Bildungsarbeit gegen Antiziganismus. Herausgegeben im Auftrag des IDA e. V., ISSN 1616-6027, Düsseldorf: Eigenverlag 2014, 80 Seiten.

Den Reader kann man über ein Bestellformular auf der Website von IDA anfordern.

 

 

DISS-Neuerscheinung: Kapitalismus und / oder Demokratie?

In der Reihe Edition DISS im Unrast-Verlag erschien der Band

Wolfgang Kastrup, Helmut Kellershohn (Hg.)
Kapitalismus und / oder Demokratie?
Beiträge zur Kritik „marktkonformer“ Demokratieverhältnisse
ISBN 978-3-89771-765-7
144 S., 18 EUR

cover-kastrup-kapitalismus-In den Institutionen der bürgerlichen Demokratie vollzieht sich gegenwärtig, unter den Bedingungen einer neoliberalen Regierungsweise, eine Entkoppelung von Demokratie und Kapitalismus – unter gleichzeitiger Beibehaltung ihrer formalen Funktionsmechanismen. Der britische Soziologe Colin Crouch hat dafür den Begriff »Postdemokratie« geprägt; andere Autoren reformulieren Nicos Poulantzas’ Theorie des »Autoritären Etatismus«, und der italienische Philosoph Domenico Losurdo bemüht in Abwandlung der Bonapartismustheorie von Marx den Begriff »Soft-Bonapartismus«. Dies sind einige Beispiele dafür, dass die krisenhaften Entwicklungen dazu anregen, das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus/Neoliberalismus theoretisch neu zu fassen und zu kritisieren.
Der vorliegende Band beruht auf Vorträgen, die auf dem Colloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung 2013 gehalten wurden. Er widmet sich den hier nur knapp angerissenen Fragen. Zum einen wird das Verhältnis von Demokratie, Neoliberalismus und Kapitalismus thematisiert; zum anderen wird der Frage einer Fundamental-Demokratisierung von Politik und Gesellschaft nachgegangen, von der Andreas Fisahn postuliert, dass sie »Bedingung […] für die Durchbrechung der Logiken des entfesselten Marktes« sei.

 

Klare Positionen

Ludwig Philippson, Ausgewählte Werke: Die Entwickelung der religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam. Die Religion der Gesellschaft. Zwei Vorlesungsreihen. Herausgegeben von Andreas Brämer. Böhlau 2015

Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Schriften zur jüdischen Sozialethik. Band 2. Herausgegeben von Michael Brocke und Jobst Paul. Böhlau 2015

Zwei neue Bände der Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft sind erschienen.

von Jobst Paul

Mit der Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft schufen das DISS in Duisburg und das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte (Essen) im  Jahr 2010 eine Plattform, auf der sich Schritt für Schritt ein Thema von großer gesellschaftspolitischer Bedeutung entwickeln soll.

Ausgangspunkt ist der Gedanke, wichtigen deutsch-jüdischen Autoren des 19. Jahrhunderts und ihren Werken in der Gegenwart die kulturelle und gesellschaftliche Rezeption zu verschaffen, die ihnen in Deutschland so lange verwehrt war. Gruppiert um die Begriffe Staat, Nation, Gesellschaft skizzierten viele deutsch-jüdische Autoren – als Juden – seit der Aufklärung und während des gesamten 19. Jahrhunderts in beispielloser Breite und Vielfalt die sozialethischen Grundlagen, auf denen ein demokratisches Deutschland erstehen sollte, als Beispiel für Europa und die Welt. Sie bekräftigten damit aber auch das Jahrtausende gewachsene, ethische Erbe des Judentums selbst, das in diesem Deutschland endlich anerkannt und zu neuem Leben erweckt werden sollte, insbesondere die Lehre von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Kern des Judentums.

Dabei hatten sie sich allerdings mit der schillernden, zutiefst unaufrichtigen Haltung der christlichen Kirchen auseinander zu setzen, die diese Lehre nicht nur Juden und dem Judentum aberkannten, sondern sie für sich selbst in Anspruch nahmen. Um dies zu erreichen, schufen sie ein Zerrbild des Judentums, das zur Grundlage für Judenfeindschaft und Antisemitismus wurde.

Die beiden Bände, die nun erschienen sind, positionieren sich in dieser Auseinandersetzung differenziert und mit Umsicht, aber auch mit großer Deutlichkeit.

Der erste Band der Schriften zur jüdischen Sozialethik (erschienen im Jahr 2011) spürte den Ursprüngen der jüdischen Gerechtigkeitslehre im jüdischen Gottesverständnis nach. Im zweiten Band geht es nun um die konkreten Inhalte der ethischen Selbstverpflichtung dem Mitmenschen gegenüber. Damit ist freilich nicht Mitleid gemeint, sondern „das tatsächliche Tun“: „Die Liebe zum Nächsten soll Leidenschaft sein, den Mitmenschen vor Not und Unrecht zu bewahren, d.h. für Gerechtigkeit zu sorgen, Bedürftigen und Hilfesuchenden zur Seite zu stehen und sie mit Würde zu behandeln. Für die Empfangenden wiederum gilt, mit der ihnen zukommenden Mildtätigkeit verantwortlich umzugehen.“
Die Autoren beklagen allerdings nicht nur die judenfeindliche Inanspruchnahme diese Ethik durch die christlichen Kirchen über Jahrhunderte. Sie bedauern auch die christliche Verwässerung der jüdischen Gerechtigkeitslehre zu einer Haltung des Mitleids, das sich zwar den Folgen von Unrecht, weniger aber dem Unrecht selbst in den Weg stellen will.

Auch Ludwig Philippson (1811-1889), ein „Wortführer des religiös-progressiven Judentums und des politisch liberalen jüdischen Bürgertums“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts, streitet in seinen Schriften um eine Anerkennung der sozialethischen Botschaft des Judentums und des Judentums selbst als moderner bürgerlicher Konfession.

Doch in den beiden Vorlesungsreihen (Die Entwickelung der religiösen Idee im Judenthume, Christenthume und Islam und die Religion der Gesellschaft), die im nun vorliegenden Band wieder zugänglich werden, wendet er sich engagiert und in wohltuend verständlicher Sprache eben auch einer „Fundamentalkritik des Christentums“ zu. In einer differenzierten, aber gleichwohl ungeschminkten Analyse spürt er dem epochalen Unrecht der christlichen Diskreditierung des Judentums nach, kommt aber zu dem nüchternen, wie aufregenden Schluss, dass sich die Einfachheit der jüdischen Gerechtigkeitslehre gegen ihre Bekämpfer historisch durchsetzen wird – eine Vision, die heute, fast 70 Jahre nach der Shoa, und angesichts der Verwerfungen einer aus den Fugen laufenden Globalisierung eine unübertroffene Brisanz beinhaltet.

Der dritte Band der Schriften zur jüdischen Sozialethik soll daher nicht ganz zufällig dem Thema Recht – Soziale und ökonomische Gerechtigkeit gewidmet sein. In ihm sollen übrigens auch deutsch-jüdische, wirtschaftspolitische Wortmeldungen und Entwürfe aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu Wort kommen.

DISS-Neuerscheinung: Nächstenliebe und Barmherzigkeit

In der Reihe Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Anthologien (herausgegeben von: Michael Brocke, Jobst Paul und Siegfried Jäger) erschien der Band

Nächstenliebe und Barmherzigkeit
Schriften zur jüdischen Sozialethik
Herausgegeben von: Michael Brocke und Jobst Paul.

cover-naechstenliebe-Aus jüdischer Sicht ist Gotteserkenntnis nicht denkbar ohne die ethische Selbstverpflichtung dem Mitmenschen gegenüber. Dabei geht es um mehr als um Gesinnung oder Mitleid, sondern um das tatsächliche Tun, aus Selbstachtung und Pflicht-Empfinden heraus: Die Liebe zum Nächsten soll Leidenschaft sein, den Mitmenschen vor Not und Unrecht zu bewahren, d.h. für Gerechtigkeit zu sorgen, Bedürftigen und Hilfesuchenden zur Seite zu stehen und sie mit Würde zu behandeln. Für die Empfangenden wiederum gilt, mit der ihnen zukommenden Mildtätigkeit verantwortlich umzugehen. 19 deutsch-jüdische Autoren thematisieren im vorliegenden Band die Lehre von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Kern des Judentums. Sie beklagen zugleich, wie das Christentum diese Lehre dem Judentum aberkannte, um sie für sich selbst zu reklamieren, und dazu ein Zerrbild des Judentums schuf, das als Grundlage für Judenfeindschaft und Antisemitismus dient. Die Autoren sind sich gleichwohl gewiss, dass all dies die Geltung der jüdischen Religion nicht treffen kann.

 

Der Band ist erhältlich im Boehlau-Verlag.

Nächstenliebe und Barmherzigkeit
Schriften zur jüdischen Sozialethik
Herausgegeben von: Michael Brocke und Jobst Paul
2015, 295 S.
Preis: € 39.90 [D]  |   € 41.10 [A]
978-3-412-22279-6

 

DISS-Neuerscheinung: Ludwig Philippson

In der Reihe Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Werkausgaben (herausgegeben von: Michael Brocke, Jobst Paul und Siegfried Jäger) erschien der Band mit ausgewählten Werken von Ludwig Philippson.

cover-philippson-Der Rabbiner und Publizist Ludwig Philippson (1811–1889) hat sich als einer der Wortführer des religiös-progressiven Judentums und des politisch liberalen jüdischen Bürgertums einen Namen gemacht. Sowohl mit rhetorischen und schriftstellerischen Talenten gesegnet als auch mit organisatorischem Geschick engagierte er sich für die politische Gleichstellung und gesellschaftliche Integration der Juden in ihrer deutschen Umwelt. Wann immer sich Gelegenheit bot, ergriff er zudem das Wort, um das Judentum als moderne bürgerliche Konfession zu beschreiben. Seine theologische Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben lenkte Philippsons Aufmerksamkeit daher aber auch immer wieder auf die christliche Religionsgeschichte sowie auf die jüdisch-christliche Beziehungsgeschichte, die er zum Thema zahlreicher Schriften machte.

 

 

 

 

Der Band ist erhältlich im Boehlau-Verlag.

Ludwig Philippson
Ausgewählte Werke
Herausgegeben von Andreas Brämer
2015, 337 S.
Preis: € 59.90 [D]  |   € 61.60 [A]
978-3-412-22444-8

Netzfundstücke: Brandgefährliche Stimmungsmache

DISS-Mitarbeiter Sebastian Friedrich veröffentlichte in der Tageszeitung Neues Deutschland am 9.10.2014 die Kolumne „Brandgefährliche Stimmungsmache“. Darin heißt es u.a.:

Angesichts vermehrter Proteste gegen Flüchtlingsheime fühlen sich manche an die frühen 90er Jahre erinnert. Es war die Zeit rassistischer Pogrome und Morde. Es war die Zeit, als das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl im hohen Maße eingeschränkt wurde. Und es war die Zeit, in der auch die Medien eine unrühmliche Rolle spielten. […]

Und heute? Rechtskonservative Stimmenjäger aus neuen und alten Parteien zeichnen wieder ein Schreckensbild, wenn es um Flüchtlinge geht, und aktivieren so den gesamtgesellschaftlich verankerten Rassismus. Dennoch: Insgesamt scheint der Diskurs auf den ersten Blick geöffneter und pluraler als vor zwanzig Jahren. Weite Teile der Politik betonen die Verantwortung Deutschlands für Menschen in Not. Immerhin eine knappe Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik spricht sich laut Infratest Dimap dafür aus, mehr Schutzsuchende aufzunehmen. […]

Auf den zweiten Blick allerdings fällt eine bedeutende Gemeinsamkeit auf. Damals wie heute wird trennscharf unterschieden zwischen berechtigter und nicht berechtigter Flucht. Nur sprachlich gibt es eine Verschiebung: Während Anfang der 90er Jahre sortiert wurde zwischen »Flüchtlingen«, die vor Krieg und Vertreibung flüchteten, und »Asylanten«, die lediglich aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kämen, verläuft die Grenze gegenwärtig entlang der Gegenüberstellung politischer Flüchtling versus »Armutsflüchtling«. In der vorgenommenen Trennung zwischen denen, die Hilfe brauchen, und denjenigen, die angeblich Hilfsbereitschaft ausnutzen, sind sich weite Teile der Mainstream-Medien und Politik einig.

Das wurde insbesondere deutlich, als der Bundesrat am 18. September Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsländern erklärte. Es herrschte weitgehend Konsens darüber, dass die meisten der bisherigen Antragsteller aus den Balkanstaaten sowieso keine richtigen Flüchtlinge seien. Dass etwas an der Asylgesetzgebung nicht stimmen kann, wenn Menschen, die in den Herkunftsländern systematisch diskriminiert werden, hierzulande dennoch kein Asyl erhalten, war indes kaum zu hören. Vielmehr wurden verschiedene Flüchtlingsgruppen gegeneinander ausgespielt. […]

Der vollständige Artikel ist auf der Website des Neuen Deutschland leider nur für Inhaber eines Online-Abos lesbar. Auf dem Blog annotazioni erschien dankenswerterweise ein genehmigter Nachdruck: Brandgefährliche Stimmungsmache