‚Kindergeld-Debatte‘ und Antiziganismus

Derzeit wird in Deutschland eine Debatte über den Bezug von Kindergeld von Personen geführt, die sich als EU-Bürger_innen in Deutschland aufhalten. Während die Familienkasse der Bundesanstalt für Arbeit davor warnte, dass einzelne „Missbrauchsfälle … zu einseitig instrumentalisiert“ werden, ((https://www.nwzonline.de/politik/berlin-soziales-das-sind-die-fakten-zum-kindergeld-streit_a_50,2,876209143.html.)) berichtete DIE WELT unter Bezug auf die gleiche Familienkasse, aber auch auf „eigene Recherchen“ ((https://www.welt.de/wirtschaft/article176067743/Erfundener-Nachwuchs-Kindergeldbanden-sorgen-fuer-Schaden-von-mehr-als-100-Millionen.html.)), von organisierten, kriminellen Banden, die „im großen Stil“ und „gezielt EU-Bürger aus Südosteuropa“ mit fingierten Geburts- und Schulbescheinigungen ausstatteten, um in Deutschland Kindergeld abschöpfen zu können.

Im Rahmen des Deutschen Städtetages schaltete sich der Duisburger OB Sören Link in diese Debatte ein. ((Vgl. auch: https://www.nrz.de/politik/immer-mehr-kindergeld-ins-ausland-link-schlaegt-alarm-id215046073.html.)) Dazu bezeichnete er nicht nur ganz allgemein EU-Bürger als „Armutsflüchtlinge in Europa“, sondern verwandelte die umstrittene ‚Kindergeld-Kriminalität‘ in „den kriminellen Sumpf der Schlepper“, „die Menschen in Rumänien und Bulgarien anwerben und hierhin [nach Duisburg] bringen in Wohnungen, in denen wir selbst alle nicht leben wollen“, während der Staat „Kindergeld und Sozialleistungen“ zahle.

Zusätzlich verengte Link die Kriminalisierung auf eine bestimmte Minderheit: „Wir haben rund 19.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg, Sinti und Roma. 2012 hatten wir erst 6000.“ Die Autoren der WELT beeilten sich, Links weitere, auf „Sinti und Roma“ gemünzte, rassistische Rhetorik mitfühlend zu begleiten: „Wenn Sören Link die vermüllten Vorgärten in einigen Stadtvierteln Duisburgs sieht, platzt ihm langsam der Kragen“. Hier allerdings untertrieben die WELT-Autoren – tatsächlich meinte Sören Link: “Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen.“

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Menschen über Abfall und Ratten zu charakterisieren, gehört zu den wirksamsten rhetorischen Mitteln, um sie zum Ziel von Herabsetzung und von körperlicher und psychischer Gewalt zu machen.

Fäkal-Metaphorik stigmatisiert Menschen und unterstellt ihnen jenen außerzivilisatorischen Status von vitalistischen Wilden, den die kolonialistische und totalitäre Rhetorik der Vergangenheit auf die Völker Afrikas, Amerikas, Asiens, aber auch auf Juden, ‚Asoziale‘, Behinderte – und auf Roma und Sinti projizierte.

Mit Hilfe von Symbolen wie Abfall und Ratten werden Minderheiten nicht nur mit Assoziationen wie Seuchen und Krankheiten belegt, die sie in die ‚Zivilisation‘ tragen. Enthalten ist auch – und vor allem – der Impuls zur ‚Gegenwehr‘ und Gewalt, die über das Bild von Ratten in besonders aggressiver Weise heraufbeschworen wird.

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Als MitarbeiterInnen des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung kritisieren wir deshalb in aller Schärfe eine solche herabsetzende, antiziganistische Rhetorik. Sie sorgt für zusätzliches Gewaltpotenzial in der Stadtgesellschaft.

 

Kameraden im Osten

Gastbeitrag von Anton Maegerle

Die NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) hat im März
gleichgesinnte Gruppierungen in Osteuropa besucht.

Vom 13. bis zum 15. März hielt sich eine achtköpfige Delegation der
Jungen Nationaldemokraten in der Slowakei und Tschechien auf. Eingeladen
in die Slowakei wurde der NPD-Nachwuchs von „Slovenská Pospolitost“
(Slowakische Gemeinschaft) und deren parteipolitischen Arm „Ludova
strana Nase Slovensko“ (Volkspartei – unsere Slowakei). Die
Neonazi-Gespräche in dem mitteleuropäischen Binnenstadt fanden in den
Städten Bratislava und Nitra statt. Die slowakischen Neonazis wollen die
„Tradition des Slawentums“ verteidigen. Regelmäßig marschieren sie gegen
„Zigeunerkriminalität“ auf. Sie bekennen sich zum Vermächtnis des
klerikal-faschistischen Tiso-Staates. Der katholische Priester Jozef
Tiso hatte 1939 einen Marionetten-Staat von Hitlers Gnaden gegründet.
Bei Teilen der slowakischen Landbevölkerung gilt der 1947 hingerichtete
Tiso bis zum heutigen Tag als Märtyrer. Führer der nicht im Parlament
vertretenen „Volkspartei – unsere Slowakei“ ist  Marian Kotleba (Jg.
1977). Der Roma-Hasser hetzt seit den neunziger Jahren gegen
„Zigeunerparasiten“, gegen Linke, Homosexuelle und Israel. Der Neonazi
wurde im November 2013 überraschend zum Regionalpräsidenten des
Landesbezirks Banská Bystrica gewählt. Das Amt ist vergleichbar mit dem
eines deutschen Ministerpräsidenten, jedoch mit wesentlich weniger
Kompetenzen. Kotlebas Wahlsieg schockierte das Land.
Neben den Treffen mit Gleichgesinnten in der Slowakei besuchten die JN
auch „einige Aktivisten“ der tschechischen „De(lnická mládež“ (DM;
Arbeiterjugend) in Brno, dem einstigen Brünn. DM ist die
Jugendorganisation der Neonazi-Partei „De(lnická strana sociální
spravedlnosti“ (DSSS; Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit). DM und
DSSS pflegen bereits seit Jahren intensive Kontakte zu
nationaldemokratischen Kreisen.
Einig sind sich deutsche, slowakische und tschechische Neonazis im Kampf
gegen das „eurokratische Zwangskorsett“, den Würgegriff der Eurokrake
und der internationalen Hochfinanz“ gegen Kapitalismus und für
Nationalismus.

Presseerklärung des DISS

 

Presseerklärung des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS)

Die Ereignisse erinnern fatal an die rassistische Pogromstimmung von Anfang der 1990er Jahre“

 

Seit Mitte der 1980er Jahre befasst sich das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) mit den Reaktionen deutscher Bürgerinnen und Bürger auf die Einwanderung nach Deutschland. Siegfried Jäger, Professor an der Universität Duisburg/Essen und langjähriger Vorsitzender des DISS und das gesamte DISS-Team haben in einer Vielzahl von Projekten und Veröffentlichungen belegen können, dass in Deutschland ein alltäglicher Rassismus herrscht, der alle Bevölkerungsschichten erfasst hat und durch Politik und Medien fortlaufend geschürt wird. Rassismus ist keine Erfindung einiger extrem rechter Wirrköpfe, sondern ein gesellschaftliches Gesamtproblem, das von ihnen nur ausgenutzt wird. Will man Rassismus bekämpfen, sollte man nicht nur auf den extremen rechten Rand zielen, sondern auf die Faktoren, die diesen Rassismus beständig hervorbringen: z.B. eine restriktive Ausländerpolitik in Deutschland und die fast durchweg miserable Berichterstattung in den Medien.

Klar sollte werden: Zuwanderung ist ein Menschheitsphänomen seit es Menschen gibt. Anders gesagt: Seit es Menschen gibt, wandern sie. Diese Wanderungen waren und sind die Grundlage für das Entstehen großer Städte und Ballungsgebiete wie z. B. das Ruhrgebiet.

Die derzeitige Einwanderung von Menschen aus Südosteuropa nach Duisburg, Berlin und anderen Städten ist auf die riesige Armut und auch auf die Verfolgung der Roma vor allem in Rumänien und Bulgarien zurückzuführen. Außerdem fliehen Menschen vor Kriegen in Afghanistan, dem Irak, Syrien und anderswo.

Mit ihnen wandern auch andere Sprachen, Prägungen, Sitten, Gebräuche und Religionen in den Zielländern ein, was zwar immer auch eine Bereicherung bedeutet, aber auch Missverständnisse, Streitigkeiten und Belastungen nach sich ziehen kann.

Die Konsequenz daraus ist: Einwanderer brauchen Hilfe und Unterstützung. Das gilt aber auch für die von Armut betroffenen Eingeborenen. Und genau da liegen die Probleme: Die Hilfe und Unterstützung bleibt weitgehend aus, und damit die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Damit eröffnet sich ein Betätigungsfeld für extreme Rechte. Die Konflikte eskalieren bis zu Pogromstimmung und Brandanschlägen, wie dies (nicht nur) in den 1990er Jahren in Rostock, Solingen und Mölln und in tausenden weiteren Gemeinden der Fall war. Die Idee der Demokratie gerät unter Druck, Einwanderer und Alteingesessene werden allein gelassen. Der Staat und seine Organe versagen.

Prof. Siegfried Jäger, der Gründer des DISS, erklärte:

„Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen rund um das Haus in Duisburg-Bergheim erinnern fatal an die rassistische Pogromstimmung von Anfang der 1990er Jahre.

Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Ausländerpolitik. Eine Politik der Abschreckung, Ausgrenzung, der Assimilationsforderungen und der sozialen Vernachlässigung schafft Probleme statt sie zu lösen und sie schürt den Alltagsrassismus in der Bevölkerung.

Die akute Zuspitzung der Situation in Bergheim erfordert aber zunächst einmal sofortiges Handeln. Die Polizei und die Stadt Duisburg sind in der Pflicht, die Unversehrtheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses „In den Peschen“ sicherzustellen, damit Duisburg nicht bald schon durch eine neue vorhersehbare Katastrophe zum Ort des Schreckens wird.“

 

26. August 2013
Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung
www.diss-duisburg.de

 

Netzfundstück: Antiziganismus in Duisburg

Im Online-Portal MiGAZIN erschien ein ausführlicher Artikel von Alexandra Graevskaia und Michael Lausberg über Antiziganismus in Duisburg.

Der Beitrag verschweigt nicht die vorhandenen positiven Aktivitäten und Entwicklungen in der Stadt, kommt aber doch am Ende zu einem ernüchternden Fazit:

Jahrhundertelang tradierte Stereotype über so genannte „Zigeuner“ innerhalb der Mehrheitsgesellschaft werden sich nicht in kurzer Zeit abbauen lassen. Eine Versachlichung des Diskurses jenseits jeder Ethnisierung und Homogenisierung der Zuwanderer ist dringend notwendig. Zwar gibt es neben den Bemühungen der Stadt, die allerdings aufgrund der schwierigen finanziellen Situation für eine nachhaltige Integration der Zuwanderer nicht ausreichen, auch einige zivilgesellschaftliche Initiativen sowie vereinzelte Versuche, die den Versuch starten, Gegenpositionen im zumeist rassistisch geprägten Diskurs sichtbar zu machen. Dies reicht jedoch nicht aus, um damit die Situation grundlegend zu verbessern. […]

Duisburg ist eine Einwanderungsstadt mit über 100 Jahren Migrationsgeschichte. Die eingewanderten Gruppen reichen von den „Ruhrpolen“ um 1900 über die Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg, die Arbeitsmigranten ab den 1950er Jahren bis hin zu Asylsuchenden, Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen kurz vor der Jahrtausendwende. Man könnte sagen, dass Migration in Duisburg zur Tradition geworden ist. Diese Tradition wird nun von Menschen aus Südosteuropa fortgesetzt und zum wiederholten Male wird daraus ein Problem konstruiert. Duisburg scheint aus seiner Geschichte nicht viel gelernt zu haben.

 

Den vollständigen MiGAZIN-Artikel lesen Sie bitte hier:
„Raus mit den Zigeunern!“ – Antiziganistische Realitäten: Das Beispiel Duisburg

DISS-Journal 25 erschienen

DISS-Journal 25 (Juli 2013)

Die neue Ausgabe des DISS-Journal ist als PDF-Datei abrufbar.

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Besen sind Geräte zum Saubermachen. Werden sie zum Symbol, können sie aber weitaus mehr. In der Walpurgisnacht fliegen die Hexen zum Blocksberg, um sich dort mit dem Teufel zu paaren. Wie man Vampire mit Kruzifix und Knoblauch in Schach halten kann, so konnte man „Zigeuner“ im Mittelalter mit dem Besensymbol abschrecken. Seit Monaten wird nun diskutiert, was mit den Neueinwanderer_innen geschehen soll, die man nicht mehr Zigeuner nennt, sondern wahlweise „Sinti und Roma“ oder „Bulgaren und Rumänen“. Dabei taucht auch der Besen wieder auf – gesehen in Duisburg-Hochfeld. Im Schwerpunkt des vorliegenden DISS-Journals geht es um antiziganistische Diskurse, Gegenstrategien und um Integrationskonzepte.

„DISS-Journal 25 erschienen“ weiterlesen

Netzfundstück: Radiobeitrag über Neuzuwanderung in Duisburg und anderswo

Auf Deutschlandradio Kultur ist ein sehr hörenswertes Feature zur Neuzuwanderung aus Südosteuropa in Duisburg und in anderen Städten als Podcast und in Manuskriptform abrufbar.

Wie der Staat sich Probleme schafft
Was geschieht, wenn Hunderttausende Armutsflüchtlinge alleingelassen werden?
Von Winfried Roth

Zu Wort kommen neben Prof. Klaus Jürgen Bade und NRW-Minister Guntram Scheider, Sozialarbeitern und einer Anwohnerin auch – und das ist in der Medienberichterstattung leider eine Ausnahme – einige der Neubürgerinnen und Neubürger.

Eine der bedenkenswerten Aussagen des Beitrages besteht darin, dass durch mangelnde Integrationsanstrengungen vor allem des Bundes zukünftige Probleme erst geschaffen werden und dass dies möglicherweise sogar bewusst geschieht.

Viele Verallgemeinerungen über die Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien sind daher kaum mehr als misstrauische Vermutungen. Gleichzeitig ignorieren manche Medien und Politiker gesichertes Wissen – mit Blick etwa auf die umfangreiche Rückwanderung und den eher geringfügigen Bezug von Sozialleistungen. Werden – zwecks politischer Profilierung – manchmal bewusst verzerrte Bilder verbreitet? […]

Zugewanderte Roma werden in Deutschland vom Staat weithin sich selbst überlassen. Im Alltag ist Integration Sache der Länder und Kommunen – das gilt vor allem für Sprachförderung und Schule. Gleichzeitig hängt viel von der Bundesregierung ab – gerade bei der Finanzierung von Integration. […]

Guntram Schneider: Ich habe den Eindruck, dass hier Städte allein gelassen werden, um auch soziale Konflikte hochkochen zu lassen. […]

Gegenüber den bulgarischen und rumänischen Roma macht der Staat gegenwärtig ähnliche Fehler wie in den achtziger und neunziger Jahren gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Libanon, aus Bosnien oder dem Kosovo – mit ähnlichen Folgen. […]

Klaus Jürgen Bade: Mit Sicherheit hat sich der Staat durch Untätigkeit gegenüber solchen Zuwanderern langfristig Probleme geschaffen. Nehmen Sie das Beispiel der sogenannten Libanesen in Berlin. Das sind häufig arabisch sprechende Kurden. Es sind auch Palästinenser, die dorthin ausgewichen sind. Dann hat man sie über lange Jahre ausgegrenzt gehalten – was die Kriminalitätsbelastung, die schon im Libanon vorhanden war, verstärkt hat. Und dann hat man sich gewundert, dass Clans entstanden sind, die wirklich schwer integrierbar waren. Das ergibt sich, wenn man Leute sehr lange am Rande hält. So entstehen ganz unnötige Probleme.

Erinnerungen an die Pogrome Anfang der 1990er Jahre werden im Beitrag nicht angesprochen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang wieder einmal auf den Dokumentarfilm von Gert Monheim aus dem Jahr 1993: “Wer Gewalt sät – von Brandstiftern und Biedermännern”.

Das Feature ist bei Deutschlandradio Kultur als Podcast im mp3-Format abrufbar.
Das Manuskript zur Sendung gibt es dort als PDF-Dokument oder im barrierefreien Textformat.