Neue DISS Online-Broschüre: Spurensuche

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Martin Dietzsch, Bente Giesselmann und Iris Tonks
Spurensuche zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Duisburg
Eine Handreichung für die politische Bildung
Veröffentlicht als kostenlose Online-Broschüre im Juni 2014
Diese Online-Broschüre gibt es auch zum Download und zum Ausdrucken als PDF-Datei.

Die Ereignisse, um die es hier geht, liegen viele Jahrzehnte zurück. Es gibt nur noch sehr wenige überlebende Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die aus eigenem Erleben darüber berichten könnten. Die Tatorte sind nach wie vor im Stadtbild vorhanden. Sie sind stumm, denn sie sprechen nicht für sich. Doch sie können wieder zum Sprechen gebracht werden.
Erst seit wenigen Jahren dringt allmählich in das öffentliche Bewusstsein, dass das Schicksal der vom Naziregime verfolgten Sinti und Roma erforscht und gewürdigt werden muss. An den Sinti und Roma wurde ein systematischer, durch Rassenhass begründeter Völkermord verübt. Diese Tatsache wurde in der Nachkriegszeit jahrzehntelang verleugnet. Eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte hat erst nach der Jahrtausendwende begonnen. […]

Anhand des exemplarischen Beispiels der Stadt Duisburg möchten wir aufzeigen, welche Spuren des Völkermords auch heute noch auffindbar sind und Anregungen dazu geben, wie man das Geschehen im Rahmen der politischen Bildung mit Jugendlichen plastisch werden lassen kann.
Zwar sind die Gegebenheiten und die Quellenlage in jeder Stadt verschieden. Doch wird man vieles aus dieser Broschüre auch auf andere Städte in NRW übertragen können und gegebenenfalls zur Grundlage eigener Recherchen machen können. […]

 

 

Inhalt

Vorwort    5
Chronologie zur Verfolgung der Duisburger Sinti und Roma während der Nazi-Zeit    6
Kurze Überblicksdarstellung zur NS-Verfolgung    10
Antiziganismus vom 15. bis zum 19. Jahrhundert    10
Erfassung    11
„Asozialität“    11
TäterInnen: Kommunen, Kripo und RHF    12
Festsetzung, Deportation und Ermordung    13
Verfolgung in Duisburg    14
Widerstand    15
Weiterführende Materialien    15
Antiziganismus    17
Vorurteile und Ressentiments    18
Perspektivwechsel    18
Stichwort Romantik    20
Stichwort Kultur    20
Zum Weiterlesen    20
Begriffe    22
„Sinti und Roma“    22
„Zigeuner“    23
„Romanes“    23
„Porajmos“    24
Zum Weiterlesen…    24
Spurensuche in Duisburg    25
Auf den ersten Blick erinnert nichts…    25
Vier Stolpersteine auf der Koloniestraße    25
Schriftliche Quellen    26
Archive    28
Stadtbibliothek Duisburg    28
Stadtarchiv Duisburg    30
VVN-BdA Dokumentationszentrum „Mathias Thesen und Wilhelmine Struth“    33
DenkStätte für Erinnerungskultur    34
Landesarchiv NRW    36
Literaturrecherche Duisburg    37
Orte und Tatorte – gestern und heute    38
Holzgasse 4-6 in Stadtmitte    39
Weidenweg in Kaßlerfeld    43
Musfeldstraße in Stadtmitte    49
Koloniestraße in Neudorf    54
Kontinuitäten    61
Ideen für den Unterricht    70
Hinführung zum Thema    70
Medienanalysen    70
Filme    71
Besuch der Stadtbibliothek, des Stadtarchivs oder Online-Recherche    71
Erarbeitung einer Broschüre mit Arbeitsergebnissen    71
Stolpersteine    72
Recherche zum Projekt    72
Neuverlegung von Stolpersteinen    73
Pflege vorhandener Stolpersteine    74
Diskussion von Ambivalenzen    74
Ausflüge zu relevanten Orten in der Umgebung    74
Gedenkorte in NRW    75
Mahnmale in Düsseldorf    75
Das Otto-Pankok-Museum in Drevenack bei Wesel    77
Kartographie von Ereignissen    78
Geocaching    78
Projektwoche    78
Oral-History    79
Theaterpädagogische Zugänge    79
Bibliografie    82
Bücher    82
Filme    84
Websites    85
Kontaktadressen von Selbstorganisationen    88
Abbildungsnachweis    89
Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung    90

Die vollständige Broschüre können Sie hier abrufen: http://www.diss-duisburg.de/online-bibliothek/bucher-im-volltext/spurensuche-sinti-und-roma-in-duisburg/

Diskurspiraten bei den Duisburger Piraten?

Von Martin Dietzsch

Das Blog der Duisburger Piratenpartei hat am 19.6.2014 den Beitrag „Duisburger Konsens – Eine Klarstellung“ veröffentlicht. In ihm versucht der Piraten-Kreisverband seine Ablehnung der Erklärung des Duisburger Stadtrats „Duisburger Konsens gegen Rechts: Wir alle sind Duisburg!“ noch einmal zu begründen. Der Blogbeitrag beruft sich dabei auf einen Vortrag, den ich am 28.4.2014 bei einer Veranstaltung des Landesintegrationsrats im Ratssaal gehalten habe. Inhalt und Intention meines Vortrages stützen aber in keiner Weise die vom Pressesprecher der Duisburger Piratenpartei vertretene Position.

Nicht die Duisburgerinnen und Duisburger aus Rumänien und Bulgarien sind in Duisburg das „Problem“, sondern der Rassismus in beträchtlichen Teilen der Bevölkerung. Ich plädierte dafür, diesem Rassismus offensiv entgegenzuwirken, statt ihn weiter zu verharmlosen. Die Presseerklärung der Duisburger Piraten scheint mir eher in die Richtung zu gehen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und zu verschlimmern.

Der „Duisburger Konsens gegen Rechts“ ist meines Erachtens ein begrüßenswerter erster kleiner Schritt in die richtige Richtung. Es wäre gut, wenn er nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt.

Zur Erinnerung und Klarstellung hier die Schlusspassage aus meinem Vortrag vom 28. April:

„Abschließend ein paar Worte zum Thema Gegenstrategien. Die Duisburger Stadtverwaltung trat einmal mit dem sehr begrüßenswerten Anspruch an, Integration zu fördern, statt zu diskriminieren und Verdrängung zu praktizieren. Leider ist sind diesen Worten bisher nur wenig Taten gefolgt. Man sollte die Verantwortlichen immer wieder an ihr Versprechen erinnern.

Der Protest gegen Rechts allein greift zu kurz. Es muss auch dem Rassismus und Antiziganismus innerhalb von großen Teilen der Duisburger Bevölkerung entgegengewirkt werden. Die Empathie mit den Neubürgern muss gefördert werden. Die vielen Duisburger Bürger, die in diesem Bereich bereits in Eigeninitiative tätig sind, benötigen dringend moralische und finanzielle Unterstützung. Langfristiges Ziel sollte es sein, Duisburg zu einer gelungenen Ankunftsstadt zu machen. Davon hätten alle Bewohner dieser Stadt etwas. Und Duisburg könnte endlich einmal ein Vorbild für andere Städte werden.“

P.S.:

Vergl. auch die Distanzierung der Jungen Piraten NRW von der Duisburger Presseerklärung und die Twitter-Meldung von Britta Söntgerath, der Ratsfrau der Piraten:

„Britta Söntgerath @Kapetanio 17. Juni
@twena ja deshalb habe ich auch zugestimmt, wie auch meine Fraktion + alle anderen, außer: AfD, proNRW und NPD. Jetzt weiß man wo AfD steht“

Netzfundstücke: „Der ethnische Blick ist nicht hilfreich“

In der Oktober-Ausgabe des Straßenmagazins Bodo aus Dortmund erschien ein Interview mit dem Journalisten Norbert Mappes-Niediek. Sein Buch „Arme Roma, böse Zigeuner – Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt“ sei an dieser Stelle noch einmal empfohlen. Eine Rezension finden Sie im DISS-Journal 24.

Das Bodo-Interview ist inzwischen auch auf dem Blog Ruhrbarone nachzulesen. Norbert Mappes-Niediek reiht sich erfreulicherweise nicht ein in die Riege der selbsternannten Experten, die dem Eingeborenenpublikum erzählen, was es hören will: wie „die Roma“ vermeintlich wirklich seien und warum sie an ihrem Elend selbst Schuld seien.

Eine zentrale Passage des Interviews möchte ich hier wiedergeben:

Pütter: In Ihrem Vortrag beschreiben Sie das Problem so: „80 Prozent Armut, 18 Prozent Balkan, 2 Prozent Roma“.

Mappes-Niediek: Was als romatypisch wahrgenommen wird, zum Beispiel der enge Familienzusammenhalt, ist unterhalb der absoluten Armutsgrenze notwendig, überall. Man ist auf die Solidarität der Familie angewiesen, gleichzeitig behindert das den sozialen Aufstieg, denn die Solidarität wird ja auch eingefordert. Wenn du etwas verdienst, musst du den Anderen auch abgeben. Und wenn der Onkel eine Arbeitskraft braucht, dann gehst du eben nicht zur Arbeit oder zur Schule.
Und das führt natürlich dann auch dazu, dass patriarchalische Verhältnisse und Herrschaftsverhältnisse sich wieder älteren Vorbildern annähern. Und so entsteht das Missverständnis, das Verhalten der Roma sei für ihre Armut zuständig.

Pütter: Wie beobachten also Roma-Armut, nicht Roma-Kultur?

Mappes-Niediek: Ja. Dass dieses Verhalten dann natürlich auch immer eine kulturelle Form trägt ist eine andere Frage, das ist immer so, sicher. Aber in der Substanz ist es tatsächlich von den sozialen Verhältnissen geprägt und nicht umgekehrt.

Pütter: Die gesamte Debatte um die neue Zuwanderung ist hingegen von ethnischen Begründungsmustern durchsetzt. Von „Problemhäusern“ über „Bettelbanden“ bis „Klaukids“ schwingt ein „Die sind so“ mit. Sie können nicht wohnen, nicht wirtschaften, usw.

Mappes-Niediek: Es ist nicht Kultur, das ist eine Ökonomie der Armut. Und daraus kann man lernen: Es müssen bestimmte Grundbedürfnisse erfüllt sein, damit sich das, was wir als ökonomisches Verhalten definieren – also Sparen, Investieren in Bildung und dergleichen – überhaupt entwickeln kann. Und unterhalb dessen sind wir auf eine ganz andere, nicht minder logische Ökonomie angewiesen. Der ethnische Blick ist nicht hilfreich.

 

Das vollständige Interview lesen Sie auf dem Blog Ruhrbarone: Roma: „Der ethnische Blick ist nicht hilfreich“. Oder – noch besser – kaufen Sie sich für 1,80 EUR die Oktober-Ausgabe des Straßenmagazins Bodo (Inhaltsübersicht).

***

Ein weiteres vielbeachtetes und lesenswertes Buch zum Thema stammt von Klaus-Michael Bogdal: „Europa erfindet die Zigeuner: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“.

Es handelt sich um eine historisch-literaturwissenschaftlische Analyse des Diskurses über sogenannte „Zigeuner“ vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wer vor dem Kauf eines 600-Seiten Wälzers zurückschreckt, dem sei versichert, dass das Buch trotz der Materialfülle gut lesbar ist und viele nützliche Denkanstöße enthält.

Bei einem Vortrag Bogdals in der Schweiz im Dezember 2012 wurden Teile auf Video mitgeschnitten und sind auf youtube abrufbar. Diese beiden Videos seien hier (trotz einiger technischer Mängel) empfohlen:

Institut Pierre Werner: Klaus-Michael Bogdal – Lesung/Lecture

Institut Pierre Werner: Klaus-Michael Bogdal – Interview

Netzfundstücke: Interviews zum Antiziganismus in Duisburg

In der Neuen Ruhr Zeitung (Duisburg) erschien heute ein Interview mit Prof. Siegfried Jäger.

Warum findet Einwanderung statt? Und warum gerade in Duisburg?

Jäger: Die Hauptursachen sind soziale Not, politische Verfolgung und Kriege. Duisburg gilt vielfach als menschenfreundlich und traditionell aufgeschlossen gegenüber Menschen aus anderen Weltgegenden.

Das vollständige Interview lesen Sie bitte hier: Institut spricht von alltäglichem Rassismus in Duisburg

Am gleichen Tag erschien in der Rheinischen Post ein Interview mit Martin Dietzsch.

Was kann man tun, damit sich die Situation nicht weiter verschärft?

Dietzsch In der angestammten Bevölkerung vermitteln, Vorurteile abbauen. Vor allem gegenüber den Roma existiert ein jahrhundertealter Kanon von Klischees. Da kommt keine anonyme Masse auf uns zu, sondern eine neue Welle von Einwanderern, wie sie Duisburg schon oft erlebt – und integriert – hat.

Das vollständge Interview finden Sie hier: „Gegenüber den Roma existiert ein Kanon an Klischees“

 

DISS-Neuerscheinung: Kriegsdenkmäler

In der DISS Online-Bibliothek ist eine neue Broschüre kostenlos abrufbar.

 

Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung
Kriegsdenkmäler als Lernorte friedenspädagogischer Arbeit
Online-Broschüre, November 2012

Die Autoren schlagen vor, Kriegsdenkmäler, die den Krieg und das Heldentum verherrlichen, in pädagogischen Projekten als Lernorte zu nutzen. Ein solches Denkmal kann, wenn man es kritisch interpretiert und in den historischen Kontext stellt, entgegen den Intentionen seiner Stifter auch eine demokratische, friedensfördernde Wirkung haben.
Der Text bietet Anregungen zur Recherche über Kriegsdenkmäler und erläutert das exemplarisch anhand von Denkmälern in der Region Duisburg/ Düsseldorf/ Niederrhein. Nach einem historischen Überblick werden Anregungen und Tipps für pädagogische Projekte gegeben. Eine Bibliografie gibt Hinweise für vertiefende Lektüre.
Die kostenlos zugängliche Veröffentlichung richtet sich an Lehrerinnen, Schülerinnen und andere in zivilgesellschaftlichen Organisationen tätigen Personen und unterstützt deren friedenspädagogische Arbeit.

Diese Online-Broschüre gibt es auch zum Download und zum Ausdrucken als PDF-Datei: bitte hier anklicken

„Eklat“ im niedersächsischen Landtag

Autor: Martin Dietzsch

„… und es gibt auch Wissenschaftler, die bezeichnen das als ‚Institutionellen Rassismus‘ was wir hier erleben…“

Am Mittwoch (20.6.2012) nahm SPD-Fraktionschef Stefan Schostok in seiner Rede im niedersäschsischen Landtag das böse Wort „Institutioneller Rassismus“ in dem Mund und löste damit tumultartige Szenen bei Abgeordneten und Ministern der CDU aus.

„Niemand dürfe sich im Parlament dazu hinreißen lassen, der Regierung Rassismus vorzuwerfen.“

So fasst die WELT die heftigen Reaktionen höflich zusammen.

Einen drastischeren Eindruck vermittelt ein TV-Beitrag des NDR:
Eklat im Landtag, NDR 20.6.2012, 19.30 Uhr (Diesen Beitrag findet man inzwischen auch bei youtube)

Bildschirmfoto NDR 20.6.2012

Stefan Schostock zitierte eine kurze Passage aus einer Stellungnahme des DISS, die in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung  erwähnt worden war (Umstrit­tene Abschie­bung in Nie­der­sach­sen — In Stur­heit gefangen, vergl. auch DISSkursiv vom 18.6.2012).

Wir veröffentlichen hier den „Stein des Anstoßes“, auf den „„Eklat“ im niedersächsischen Landtag“ weiterlesen

ArNo: Kandidat Gauck

ArchivNotizen von Martin Dietzsch

Majestätsbeleidigung

Am vergangenen Wochenende wurde von einer ganz großen Koalition der Wunschkandidat der BILD-Zeitung Joachim Gauck zum Nachfolger des bei der BILD-Zeitung in Ungnade gefallenen Christian Wulff erwählt. Der parteilose Kandidat steht politisch eher rechts. Er scheint auf einer Wellenlänge mit CDU-Rechtsaußen Vera Lengsfeld zu funken. Freiheit statt Gleichheit ist sein schlichtes Credo.

Die Wahl des Bundespräsidenten war in der Vergangenheit schon mehrfach ein Signal für sich anbahnende Veränderungen in der Bundespolitik. Das lässt Böses ahnen. Gauck ist ja zuerst ausgerechnet von der Opposition auf den Schild gehoben worden. Soll man das als Omen nehmen, dass uns mit einem Regierungswechsel nach Rot-Grün ein ähnliches Desaster droht wie unter Gerhard Schröder? Da kommt schon fast der ketzerische Gedanke auf, ob nicht Angela Merkel das kleinere Übel darstellt. Immerhin zögerte sie bei der Kandidatenkür, allerdings vermutlich aus rein machtpolitischem Kalkül.

Die ganz große Koalition und fast alle Mainstream-Medien sind jedenfalls begeistert von ihrem Kandidaten und rufen ihn jetzt schon zum „Präsidenten der Herzen“ aus. Nur in Teilen der Blogosphäre und bei sozialen Basisbewegungen regt sich Kritik, denn sie befürchten einen „Präsidenten der steinernen Herzen“. Diese Kritik wird vom Mainstream als Majestätsbeleidigung aufgefasst.

In einem Gastbeitrag beim Blog Ruhrbarone kritisiert Rolf von Raden die Kritik an der Kritik.

Nach dem Shitstorm kommt der Gegensturm: Was wird der „Netzgemeinde“ nicht alles vorgeworfen, nachdem sie auf die große Gauck-Koalition damit reagierte, die Kritik an dem Bundespräsidenten in spe erneut pointiert vorzutragen.

[…] Und jetzt kommen wir zum Knackpunkt. In ihren angeblich aufklärerischen Artikeln weisen die selbsternannten Kritiker der Netzgemeinde nach, dass Joachim Gauck – welch Wunder – doch kein lupenreiner „Antidemokrat“ ist, und wohl auch kein „ausgemachter Rassist“. Letztere Formulierung habe ich bisher übrigens einzig in dem Blogpost gefunden, der die Unterstellung widerlegen will, aber in keiner Primärquelle. Der zukünftige Bundespräsident ist also kein „ausgemachter Rassist“ – und während er die selbst formulierte Unterstellung widerlegt, zeigt Patrick Breitenbach in seinem inzwischen vielbeachteten Blogpost unfreiwillig, was trotzdem so hochproblematisch an Gaucks Sarrazin-Thesen ist. Sie öffnen nämlich sehr wohl ein Feld, an das altbekannte rechte Diskurse über angeblich notwendigen Tabubruch und Political Correctness anschlussfähig sind.

Den vollständigen Text lesen Sie hier…
Kein Grund zur Aufregung: Die Gauck-Debatte in den sozialen Netzwerken

 

Die extreme Rechte und der Kandidat

Wie positioniert sich aber die extreme Rechte gegenüber dem Kandidaten? Hier ein erster kurzer Überblick.

Das Hass-Blog PI ist vom Kandidaten Joachim Gauck begeistert.

Ob Sarrazin-Lob, Kritik an der Anti-Atomhysterie, das Bloßstellen von populistischem Banken-Bashing oder seine Befürwortung von Stuttgart 21 – Joachim Gauck könnte durchaus auch für PI antreten.  ((PI, 19.2.2012, Gauck soll neuer Bundespräsident werden!))

Doch ein kleines Tröpfchen Essig schüttet PI dann doch noch sein Bier. Was glaubt man bei PI Verwerfliches in den Äußerungen von Joachim Gauck gefunden zu haben? Ausgerechnet das:

Lobhudelei für Kommunisten  ((ebenda))

Auch Dieter Stein von der Jungen Freiheit sieht Jürgen Gauck als seinen Wunschkandidaten. Er hofft auf einen erzkonservativen Antipoden zur verhassten Pragmatikerin Angela Merkel, der dazu beiträgt, der JF und dem Spektrum rechts von der Union das Schmuddelimage zu nehmen. Vielleicht wird es dann ja doch mal was mit der lange ersehnten neuen Rechtspartei.

Mit Joachim Gauck erwächst der Bundeskanzlerin ein ernstzunehmender Gegenspieler […] Wir werden mit ihm positive Überraschungen erleben!  ((JF, 19.2.2012, Joachim Gauck wird ein guter Bundespräsident))

Der neue NPD-Vorsitzende Holger Apfel hat ein Problem. 2010 hatten die Vertreter der NPD in der Bundesversammlung im dritten Wahlgang für Gauck gestimmt. Nun produziert sich Apfel noch fundamentaloppositioneller als sein Vorgänger Udo Voigt. Der Dissens zu Gauck wird allerdings nicht mit dessen Positionen begründet, sondern wirkt an den Haaren herbeigezogen.

Wir werden einem Konsenskandidaten von Merkel bis Özdemir auf keinen Fall die Stimme geben, denn ein solcher Präsident wird wieder mal nichts anderes sein, als eine Knetfigur des Establishments, ein willfähriges Ausführungsorgan des Kartells der Deutschland-Abschaffer.  ((NPD Bundesverband, 20.2.2012, Gauck wird sich als ein willfähriges Ausführungsorgan des Kartells der Deutschland-Abschaffer entpuppen))

Es läuft also wieder auf einen eigenen NPD-Bewerber hinaus. Scherzbolde haben bereits das Gerücht in die Welt gesetzt, die NPD wolle nach Frank Rennicke diesesmal Beate Zschäpe als Kandidatin aufstellen.

Auch aus der NPD Mecklenburg-Vorpommern unter Udo Pastörs kommt keine wirkliche Kritik an Gauck.

Dabei wird Joachim Gauck als Person geradezu missbraucht, um einer korrupten Politiklandschaft als Alibi zu dienen.  ((MUPINFO, 20.2.2012, Joachim Gauck als letztes Aufgebot einer korrupten Politiklandschaft))

Einzig das der NPD Saarland unter Frank Franz nahestehende Blog Deutschlandecho setzt etwas andere Akzente. Dem Autoren geht es ausschließlich darum, möglichst viel Medienaufmerksamkeit für die NPD zu erzeugen.

[…] wäre es ratsamer, ohne eigenen Kandidaten für Gauck zu stimmen und so wenigstens eventuell durch von dessen pro-Sarrazin-Äußerungen aufgeschreckte Linksmedien ein paar wütende Erwähnungen zu ergattern, als mit drei Stimmen für irgend einen Wald- und Wiesen-Kandidaten diejenigen zu verärgern, die trotz einiger sicherlich gegebener Mängel Gauck im Vergleich zu seinen Vorgängern als regelrechten Lichtblick sehen.  ((Deutschlandecho, 20.2.2012, Kommentar: Warum die NPD nur bei Schlagzeilengarantie nicht für Joachim Gauck stimmen sollte))

Das Deutschlandecho hat sich durch diese seriöse Äußerung immerhin eine Erwähnung in einem der führenden Linksmedien, den ArchivNotizen, ergattert.

Das den Piusbrüdern nahesstehende rechtsradikale Krawall-Blog Kreuz-net lehnt Gauck dagegen tatsächlich scharf ab. Die Erzkatholiken haben herausgefunden, dass er evangelisch ist, und es kommt noch schlimmer: Er ist mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet!

Gestern wurde der Ehebrecher und Ex-Prediger Joachim Gauck (72) von den deutschen Systemparteien zum Kandidaten für das Amt des nächsten Bundespräsidenten gekürt.  ((Kreuz-net, 20.2.2012, Jetzt wird der nächste Gaukler deutscher ‘Bild’-Bundespräsident))

Kreuz-net zitiert ausführlich und zustimmend den Beitrag eines anderen politesoterischen Blogs, in dem Gauck und Merkel als ehemalige privilegierte DDR-Funktionäre angeprangert werden. Der Beitrag versteigt sich dann aber sogar zu der  Behauptung, die Verurteilung von Gaucks Vater durch ein sowjetisches Tribunal 1951 sei zu Recht erfolgt.

Die ehemalige Tagesschau-Vorleserin Eva Herman argumentiert auf der Seite des Kopp-Verlags ganz ähnlich:

Sie raunt über

[…] die mögliche Stasi-Vergangenheit sowohl Gaucks als auch Merkels […]

Nun sind 2 IMs – IM Erika und IM Larve – an der Spitze – DDR2.0

Und natürlich sind die wahre Ursache für Wulffs Sturz wieder einmal die Machenschaften der Bilderberger. Wie langweilig!

Bilderbergerin Merkel dürfte ordentlich aufgeschreckt gewesen sein, als sich der Wulff im Schafspelz letztes Frühjahr zum ersten Mal offenbarte und von einem Tag auf den anderen – für alle überraschend – zum erbitterten Widersacher des ESM –Vertrags geworden war.  ((Kopp-Verlag, 20.2.2012, Joachim Gauck: Präsident der Herzen oder Kandidat der Finanzindustrie?))

 

NPD-Verbot: Sie werden es wieder vermasseln

Dieser Kommentar erschien zuerst am 5.12.2011 auf Publikative.org (vormals NPD-Blog.info).

Die Politiker, die jetzt ein neues NPD-Verbotsverfahren initiieren, haben immer noch nichts begriffen. Das Problem ist nicht, der NPD Verfassungswidrigkeit nachzuweisen; das wäre auch ganz ohne Verwicklung in die Zwickauer Terrorzelle möglich. Wir haben stattdessen ein Geheimdienstproblem.

Ein Kommentar von Martin Dietzsch*

Das erste NPD-Verbotsverfahren wurde von innen torpediert. Es wurde ja nicht nur dem Gericht, sondern auch den Vertretern der Anklage die frühere V-Mann Tätigkeit eines geladenen Zeugen vorsätzlich verschwiegen. Man hat die eigenen Leute in’s offene Messer rennen lassen. Daraus sind nie Konsequenzen gezogen worden. Statt der Verselbständigung der Geheimdienste mit wirksamer Kontrolle gegenzusteuern, wurden deren Kompetenzen und Aufgabenfelder immer mehr ausgeweitet.

Man muss es einmal deutlich aussprechen: Es geht bei einem NPD-Verbotsverfahren schlicht und einfach darum, den Neonazis, also der NPD und den sogenannten Freien Kameradschaften, den staatlichen Schutz und die staatliche Förderung zu entziehen. Und das exzessive V-Mann Unwesen zählt nicht zur Bekämpfung, sondern zur Förderung des Neonazismus.

 

Abbildung: Logo der Kampagne nonpd
Abbildung: Logo der Kampagne nonpd, die von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) initiiert wurde. - "Wenn die amt­li­che Vor­gabe ist, dass nur Links­ex­tre­mis­ten an eine ernst­hafte Gefahr von Rechts glau­ben, dann darf man sich nicht wun­dern, wenn die bit­tere Rea­li­tät ver­harm­lost und geleug­net wird."

 

NRW-Innenminister Ralf Jäger äußerte kürzlich, eine Abschaltung der V-Männer sei unmöglich, denn sie mache die Behörden blind. Jahrzehntelang haben die Ämter den Rechtsextremismus durch die Brille der V-Männer des Verfassungsschutzes betrachtet. Vielleicht sollten sie diese Brille endlich einmal absetzen. Man hat den Eindruck, dass diese Brille von innen verspiegelt ist und der Betrachter glaubt, er würde die Welt sehen, in Wirklichkeit sieht er nur sein Spiegelbild.

V-Leute versprechen sich von ihrer Tätigkeit nicht nur Geld, und staatlichen Schutz bei möglichen Strafverfahren. Sie sind und bleiben Rechtsextremisten und füttern die Dienste mit gefilterten Informationen, und die Dienste hören nur das, was sie hören wollen. Wenn die amtliche Vorgabe ist, dass nur Linksextremisten an eine ernsthafte Gefahr von Rechts glauben, dann darf man sich nicht wundern, wenn die bittere Realität verharmlost und geleugnet wird. Die Dienste waren blind, weil sie nur das sehen durften, was sie sehen wollten.

Es heißt, die V-Mann-Dichte im NPD-Umfeld sei heute sogar noch höher als beim ersten Verbotsverfahren. Nach allem, was man bisher weiß, muss man befürchten, dass auch im engeren Umfeld der Terrorzelle Vertrauenspersonen von deutschen Geheimdiensten tätig waren und eher zur Verdunkelung als zur Aufklärung beitrugen und vielleicht sogar in die terroristische Vereinigung involviert waren. Diese Möglichkeit kann zur Zeit niemand ausschließen. Und es verwundert nicht, dass nicht nur in der rechten Szene, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit die irrsten Verschwörungsmythen kursieren und durch das undurchsichtige Operieren der Geheimdienste scheinbare Plausibilität erhalten. Dadurch erleidet unsere Demokratie zusätzlichen schweren Schaden, dessen langfristige negative Folgen nicht unterschätzt werden dürfen.

Doch an den Pforten der Geheimdienste endet der demokratische Sektor der Bundesrepublik Deutschland.

NPD-Verbot? Das geht nur, wenn man den Diensten kräftig auf die Füße tritt. Und wenn man den institutionellen Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr verleugnet und ihn stattdessen bekämpft. Dazu gehört Mut. Liebe Politiker, Freiwillige bitte vortreten! – Es meldet sich niemand? Dann sei mir die Prognose gestattet: Ihr werdet es wieder vermasseln.

 

*Martin Dietzsch ist Mitarbeiter im Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung www.diss-duisburg.de

 

 

Nachtrag 12.12.2011:

Lesen Sie bitte auch den Beitrag von Patrick Gensing zum Thema, der den Mut unserer Politikerinnen und Politiker etwas optimistischer einschätzt als ich. Möge er recht behalten!

Patrick Gensing am 12.12.2011 auf Publikative.org: NPD oder Verfassungsschutz? Einer wird verlieren!

 

Beifall für den Bürgerkrieger

Vor wenigen Tagen erschien in der Edition DISS im Unrast-Verlag ein Band mit Analysen zu den Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf die Anschläge des rechten Terroristen Anders Behring Breiwik am 22.7.2011 in Norwegen. Der Band enthält auch einen Beitrag von DISS-Mitarbeiter Martin Dietzsch, in dem er die unmittelbaren Reaktionen auf die Anschläge in den beiden wichtigsten Haß-Blogs und deren Kommentarspalten analysiert. Der Text wurde Ende August / Anfang September 2011 verfasst.

Angesichts der neu bekanntgewordenen Fakten über rechten Terror in Deutschland bekommen die von ihm gefundenen billigenden Äußerungen zum Rechtsterror, die man nicht als pubertierende Gewaltfantasien abtun kann und die ‚weltanschaulich‘ grundiert sind, besonderes Gewicht.

Wir veröffentlichen hier eine stark gekürzte Fassung seines Beitrages. Die gedruckte Fassung enthält außerdem als Beleg eine Fülle von Original-Zitaten, die wir hier im Internet so nicht präsentieren möchten. Auslassungen sind kenntlich gemacht, die Fußnoten finden sich ebenfalls nur in der gedruckten Fassung.

Das Buch ist erhältlich in jeder guten Buchhandlung oder direkt beim Unrast-Verlag.

Cover "Das hat doch nichts mit uns zu tun", Edition DISS

Regina Wamper / Ekaterina Jadtschenko / Marc Jacobsen (Hg.)
„Das hat doch nichts mit uns zu tun!“
Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien

ISBN: 978–3-89771–759-6
184 Sei­ten, 18 Euro

 

 

Agent dunkler Mächte, Irrer oder einer von uns?
Die deutschsprachigen Hass-Blogs und die Anschläge von Oslo

Autor: Martin Dietzsch

Wie würden die einschlägigen deutschen Blogs und ihr Fußvolk auf die Anschläge in Oslo und Utøya reagieren? Das fragten wir uns im DISS, als wir beschlossen, eine Analyse dieses einschneidenden diskursiven Ereignisses zu erstellen. Würde der Massenmord von Oslo ihnen spürbar schaden? Würden sie angesichts des Massenmords zumindest zeitweise ihren Ton mäßigen (sei es aus taktischem Kalkül, sei es aufgrund von kritischer Selbstreflektion)? Würden vielleicht sogar einige Exponenten den Ausstieg aus der Bewegung vollziehen? Oder würde das Kalkül des Attentäters aufgehen, dessen Ziel auch eine weitere Radikalisierung des eigenen Milieus gewesen ist? Der folgende Beitrag soll diesen Fragen nachgehen – vor allem anhand der unmittelbaren Reaktionen auf die Anschläge auf den zwei meistfrequentierten deutschsprachigen Hass-Blogs der Szene, dem neonazistischen Altermedia-Deutschland und dem Anti-Islam-Blog Politically Incorrect (PI).

Der Mörder und das Web 2.0

Die Monstrosität der Tat Anders Behring Breiviks zeigte sich nicht nur in der Zahl der Opfer, nicht nur in der Tatsache, dass er vor allem Kinder und Jugendliche auswählte und nicht einmal nur, dass er sie mit Schusswaffen von Angesicht zu Angesicht ermordete.

Bei rechtsterroristischen Anschlägen in der Vergangenheit gab es sehr oft keine Bekennerbriefe. Die Tat stand für sich. Destabilisierung der demokratischen Gesellschaft, Verunsicherung der Bevölkerung, Angst und Schrecken bei den Opfern und beim politischen Gegner, all das stellte sich von allein ein.

Bei den Anschlägen von Oslo und Utøya ist das anders. Der Täter ist äußerst mitteilsam und weiß sich zu artikulieren. Er sieht sich als Teil einer großen Bewegung und will mit seiner Tat einen bewaffneten Arm dieser Bewegung initiieren. Er wirbt um Mitstreiter und Nachahmer. Der Anschlag soll das Startsignal für einen lang andauernden Bürgerkrieg sein. Ohne einen solchen Krieg stehe der unvermeidliche Untergang bevor. Mit Krieg erfolgt die Befreiung – vor allem auch vom inneren Feind. Er schreibt selbst, die allermeisten Menschen würden ihn heute wegen seiner Tat hassen. Erst im Verlaufe des Krieges und der unvermeidlichen Polarisierung in zwei Lager würde sich das ändern und er würde dann als Held verehrt. Die Radikalisierung der Gegenseite als Reaktion ist Teil des Kalküls und wird deshalb sogar begrüßt. Im Krieg gibt es nur noch Freund und Feind.

Breivik hat sich ausführlich im Internet zu Wort gemeldet: Ein youtube-Video soll eine Kurzfassung seiner Weltanschauung vermitteln. Die Langfassung besteht aus einer über 1.500 Seiten umfassenden Textdatei mit dem Titel „2083 – A European Declaration of Independence“, die in der Presse als „Manifest“ bezeichnet wird, Breivik selbst spricht von „compilation“. Mit dem Massenmord vom 22.7.2011 wollte der Täter die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und von potentiellen Nachahmern auf diesen Text lenken. Ca. 70-80% des Konvolutes stammen nicht von Breivik selbst, sondern sind von ihm – meist mit Quellenangabe – aus Beiträgen der sogenannten „islamkritischen“ Bloggerszene zusammengestellt worden, weil er sie für ideologisch grundlegend hält. Breivik selbst war in den Jahren der Vorbereitung seiner Tat in dieser Szene aktiv, beteiligte sich rege an Diskussionen sowohl in norwegisch- als auch in englischsprachigen Foren und pflegte zahlreiche internationale Kontakte über seinen Facebook-Account. Dabei fiel er nie sonderlich auf. Er schwamm wie ein Fisch im Wasser im Web 2.0 des „islamkritischen“ Milieus.

Der britische Guardian machte sich die Mühe, die Internet-Quellen, die Breivik in seinem Konvolut benennt, auszuwerten und die 525 Links und deren Verknüpfungen untereinander in einer interaktiven Karte „Beifall für den Bürgerkrieger“ weiterlesen

Fatale Effekte des V-Leute-Unwesens

Die Studie des DISS zu den V-Leuten in der NPD aus dem Jahr 2002 kam zu dem Schluß, es sei an der Zeit das V-Mann-Unwesen endlich vollständig zu beenden und die Geheimdienste der Bundesrepublik einer wirksamen demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Sie warnte aber auch vor Verschwörungsmythen, die die Organisationen und die Gewalttäter der extremen Rechten zu bloßen Marionetten geheimdienstlicher Machenschaften umdeuten.

Wir präsentieren hier noch einmal Auszüge aus dem Fazit der damaligen Studie und plädieren dafür, auch im aktuellen Fall in Bezug auf Verschwörungsmythen einen kritischen, kühlen Kopf zu bewahren. Die vollständige Studie können Sie hier als PDF-Datei abrufen: V-Leute bei der NPD. Geführte Füh­rende oder Füh­rende Geführte?

 

Fatale Effekte

Das Thema V–Leute in Organisationen der extremen Rechten ist alles andere als neu. Wie wir bereits schilderten, erinnerten sich Frenz und Kameraden von der DRP anlässlich ihrer Kontaktaufnahme mit dem Verfassungsschutz daran, dass sich die NSDAP in den dreißiger Jahren V–Männern bediente, um die Parteikasse zu füllen. Diese Traditionslinie ließe sich noch weiter zurückverlängern. Auch Adolf Hitler begann seine politische Karriere als bezahlter V–Mann. Hitler besuchte im September 1919 mit Bespitzelungsauftrag eine Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), der Vorläuferorganisation der NSDAP, und er trat bald darauf mit Auftrag in die DAP ein. Die Geschichte der NSDAP begann also mit einem V–Mann. Übrigens hatte dieser V–Mann-Einsatz noch eine Schlusspointe, denn Hauptmann Karl Mayr, der damals ein Parteigänger der extremen konterrevolutionären Rechten war und Hitler ‚führte‘, wandelte sich später zum Kritiker Hitlers, trat dem sozialdemokratischen Reichsbanner bei, floh 1933 nach Frankreich, wurde später von den Nazis gefangen und starb 1945 im Konzentrationslager Buchenwald. So wurde er also von den langen Armen seines früheren politischen Ziehkindes eingeholt.

Die historisch belegte V–Mann-Verpflichtung Hitlers ist ein alarmierendes geschichtliches Beispiel für die V–Leute-Problematik insgesamt.

Es wäre aber schon sehr aberwitzig, daraus verschwörungsmythisch in einer platten historischen Analogie zu folgern, die damalige NSDAP und die heutige NPD seien willenlose Marionetten an den Fäden von allmächtigen Geheimdiensten gewesen. Erstens lassen sich Entstehung, Aufstieg und die spätere Politik von Krieg und Vernichtung der Nazis nicht auf einen geheimdienstlichen Auftrag reduzieren. Zweitens ist eine derart zurechtgestutzte historische Analogie nicht als Interpretationsfolie für die hier untersuchten Aktivitäten der V–Leute Frenz und Holtmann geeignet. Sie anzulegen reproduzierte nur die Selbstermächtigungs- und Größenfantasien von Frenz und Kameraden.

Den komplexen Prozessen von Kooperation und Konkurrenz innerhalb einer Partei wie der NPD, ihrer Entwicklung innerhalb der Parteienkonkurrenz mit REPs und DVU und der außerparlamentarischen Rechten und ihrem Durchsetzungsvermögen im Rahmen einer hochkomplexen Gesellschaft und eines pluralen politischen Systems wie denen der Bundesrepublik Deutschland wird ein derartiges Verständnis der Aktivitäten von V–Leuten in der NPD nicht gerecht. Es reduzierte völlig unzulässig die Komplexität sozialer und politischer Prozesse, während es gleichzeitig die Aktivitäten von V–Leuten ins schier Unmögliche aufbauschte.

Vor derartigen Interpretationen, die wir hier – zugegeben in ironischer Überspitzung, doch in Kenntnis dessen, was auf dem besinnungslosen „Sinn“-Markt so feil geboten wird – präventiv simulieren, sei ausdrücklich gewarnt.

Allerdings gehört die Produktion und Reproduktion verschwörungsmythischer Vorstellungen von Macht und Politik, die die gesellschaftlichen Akteure auf bloße Marionetten von hinter den Kulissen agierenden geheimen Mächten reduzieren, bereits zu den fatalen Effekten, die die V–Leute-Praxis zeitigt. Ihre einer Demokratie abträglichen Konsequenzen „Fatale Effekte des V-Leute-Unwesens“ weiterlesen