DISS-Neuerscheinung: Kriegsdenkmäler

In der DISS Online-Bibliothek ist eine neue Broschüre kostenlos abrufbar.

 

Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung
Kriegsdenkmäler als Lernorte friedenspädagogischer Arbeit
Online-Broschüre, November 2012

Die Autoren schlagen vor, Kriegsdenkmäler, die den Krieg und das Heldentum verherrlichen, in pädagogischen Projekten als Lernorte zu nutzen. Ein solches Denkmal kann, wenn man es kritisch interpretiert und in den historischen Kontext stellt, entgegen den Intentionen seiner Stifter auch eine demokratische, friedensfördernde Wirkung haben.
Der Text bietet Anregungen zur Recherche über Kriegsdenkmäler und erläutert das exemplarisch anhand von Denkmälern in der Region Duisburg/ Düsseldorf/ Niederrhein. Nach einem historischen Überblick werden Anregungen und Tipps für pädagogische Projekte gegeben. Eine Bibliografie gibt Hinweise für vertiefende Lektüre.
Die kostenlos zugängliche Veröffentlichung richtet sich an Lehrerinnen, Schülerinnen und andere in zivilgesellschaftlichen Organisationen tätigen Personen und unterstützt deren friedenspädagogische Arbeit.

Diese Online-Broschüre gibt es auch zum Download und zum Ausdrucken als PDF-Datei: bitte hier anklicken

DISS-Neuerscheinung: Gabriel Riesser

Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts: Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft.

Der erste Band mit Ausgewählten Werken des deutsch-jüdischen Bürgerrechtlers Gabriel Riesser ist im Böhlau-Verlag in Köln erschienen.

Abbildung Cover Gabriel Riesser Bd. 1

Der Band umfasst die politische Erstlingsschrift Riessers Ueber die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland (1831) und seine Jüdischen Briefe. Zur Abwehr und Verständigung (1838-1841).

Gabriel Riesser (1806–1863) wuchs in Hamburg in einer religiösen jüdischen Familie auf. Er wurde in Heidelberg zur Zeit der Restauration promoviert, als die Diskriminierungen gegen Juden einen neuen Höhepunkt erreichten. Zwei Universitäten verweigerten ihm die Habilitation, seine Heimatstadt Hamburg die Anstellung als Advokat. Danach wuchs Riesser in die Rolle eines Bürgerrechtlers hinein und wurde dadurch berühmt. 1848 wählten ihn christliche Wahlmänner in die Paulskirchen-Versammlung. Er wurde 1860 der erste jüdische Richter Deutschlands. Seine vielfältigen, rhetorisch brillanten Schriften spiegeln die Kultur des Vormärz und die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus.

Mit seiner politischen Erstlingsschrift Ueber die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland (1831) zielte Riesser – kurz nach der Juli-Revolution in Paris – in die Mitte der deutschen Öffentlichkeit, d. h. in einen Raum, in dem man – bis dahin – die Schriften deutscher Juden weitgehend unbeachtet gelassen hatte.

Während frühere Schriften der Vertreter des Judentums meist durch ein defensives Bit­ten um vorenthaltenes Recht geprägt waren, forderte Riesser nun Gerechtigkeit, statt „Rechtfertigungen oder Zugeständ­nissen“, die „die alte Schmach nur durch neue Demüthigung erneuern und verlängern“ würden.

Wie ein „elektrischer Funke“, so schildert ein Rezensent, habe diese Schrift in weiten Kreisen gewirkt: „fast erschreckend, so kühn erschien die Sprache des lang ge­kränkten Rechts“. Von da an habe Riesser „die Aufmerksamkeit nicht bloß seiner Glaubensgenos­sen, sondern aller Freisinnigen, aller Denker, aber auch aller Gegner auf sich“ gezogen. Wie zeitgleich Giuseppe Mazzini (1805-1872) in Italien ging es Riesser darum, über die „persönlich Betheiligten“ hinaus „Menschenfreunde aller Confessionen“ zum gemeinsamen Kampf für die Menschen- und Bürgerrechte zu bewegen. Damit warf er – so ein Zeitgenosse – „deutschen Staaten und Kammern den Fehdehandschuh hin, trat mit Argumenten auf, die seine Ebenbürtigkeit erkennen ließen. Diese Schrift erregte großes Aufsehen, und es richteten sich die Blicke Vieler achtungsvoll auf den Verfasser.“

In seinen Jüdischen Briefen (1838/41) ging Riesser einen Schritt weiter: Angesichts der Masse der zeitgenössischen judenfeindlichen Angriffe auf Juden und Ju­dentum versuchte er mit hoher Konzentration und Disziplin, eine konstruktive Wendung heraus aus bloßer Empörung und Erschöpfung zu finden.

Vielleicht überhaupt zum ersten Mal in deutscher Sprache erarbeitete er exempla­rische Argumentations- und Diskursanalysen zu antisemitischen Texten und legte assozia­tive und konnotative Techniken offen, die für die gegen Juden und Judentum gerichtete Rhetorik der Herabsetzung und Ausgrenzung typisch sind, aber auch darüber hinaus. Passagen des außerordentlich behutsamen Vortastens und Auslotens, in denen sich Riesser den antisemitischen Kernbotschaften und Bilderwelten nähert, wechseln sich ab mit diachronen Einordnungen, aber auch mit Ausbrüchen der Empörung, der öffent­lichen Abrechnung oder der autobiographischen Ansprache. Unabhängig von Verleger­interessen, Terminzwängen und politischen Nötigungen schuf Riesser in den Jüdischen Briefen ein Experimentierfeld für sprachkritische Strategien gegen eine Kultur der Her­absetzung und Ausgrenzung.

Riesser hat ein umfangreiches Werk bürgerrechtlicher Schriften geschaffen, das an analytischer Intensität und historiographischer Authentizität unübertroffen geblieben ist. In einem zweiten Band der Ausgewählten Werke sollen u.a. Riessers Analysen der bürgerlichen Verhältnisse der Hamburgischen Israeliten (1834), Analysen zu den Verhandlungen der Holsteinischen Provinzialstände (1840/41), der Verhandlungen der 2ten Kammer des Großherzogthums Baden (1831/1832) und der Verhandlungen der Badischen Ständeversammlung über die Emancipation der Juden (1833) neu ediert werden.

 

 

Bestellen Sie den Titel bitte in Ihrer Buchhandlung oder direkt beim Böhlau-Verlag: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-20864-6.html

Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft. Werkausgaben
Herausgegeben von: Michael Brocke, Siegfried Jäger und Jobst Paul
Band 3,1
Gabriel Riesser
Ausgewählte Werke
Teilband 1
Herausgegeben von: Jobst Paul und Uri R. Kaufmann
2012, 280 S.
Preis: € 39.90 [D] | € 41.10 [A]
ISBN 978-3-412-20864-6

 

 

 

20 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen

 

 

Vom 22.-26.8.1992 kam es im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen zu einem tagelangen Pogrom von Neonazis gegen dort lebende MigrantInnen.

Von Michael Lausberg

Extreme Rechte schleuderten unter dem Beifall von ZuschauerInnen Benzinbomben in mehrere von MigrantInnen bewohnte Häuser und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. In der Nacht des 24. August warfen unter „Ausländer raus“-Rufen der umstehenden Schaulustigen Neonazis Molotowcocktails unter Rufen „Wir kriegen Euch alle, jetzt werdet ihr geröstet“ in das Gebäude der in die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST). Wie durch ein Wunder gab es keine „20 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen“ weiterlesen

„Eklat“ im niedersächsischen Landtag

Autor: Martin Dietzsch

„… und es gibt auch Wissenschaftler, die bezeichnen das als ‚Institutionellen Rassismus‘ was wir hier erleben…“

Am Mittwoch (20.6.2012) nahm SPD-Fraktionschef Stefan Schostok in seiner Rede im niedersäschsischen Landtag das böse Wort „Institutioneller Rassismus“ in dem Mund und löste damit tumultartige Szenen bei Abgeordneten und Ministern der CDU aus.

„Niemand dürfe sich im Parlament dazu hinreißen lassen, der Regierung Rassismus vorzuwerfen.“

So fasst die WELT die heftigen Reaktionen höflich zusammen.

Einen drastischeren Eindruck vermittelt ein TV-Beitrag des NDR:
Eklat im Landtag, NDR 20.6.2012, 19.30 Uhr (Diesen Beitrag findet man inzwischen auch bei youtube)

Bildschirmfoto NDR 20.6.2012

Stefan Schostock zitierte eine kurze Passage aus einer Stellungnahme des DISS, die in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung  erwähnt worden war (Umstrit­tene Abschie­bung in Nie­der­sach­sen — In Stur­heit gefangen, vergl. auch DISSkursiv vom 18.6.2012).

Wir veröffentlichen hier den „Stein des Anstoßes“, auf den „„Eklat“ im niedersächsischen Landtag“ weiterlesen

DISS Online-Text zur christlichen Judenfeindschaft

In der DISS Online-Bibliothek können Sie ab sofort einen Aufsatz von Jobst Paul abrufen, der bereits 2001 entstand. Thematisiert werden verschiedene Varianten christlicher, insbesondere calvinistisch-reformierter und angelsächsischer Judenfeindschaft, u.a. die Legenden, die an die Existenz des Chasaren-Reiches im 8. Jahrhundert anknüpfen.

Von Anglo-Israelismus zu Christian Identity
Entwicklungslinien calvinistisch-reformierter und angelsächsischer Judenfeindschaft
Autor: Jobst Paul

Lutherische und katholische Regionen entwickelten oft militant-abweisende Formen der Judenfeindschaft. Dagegen bildeten die calvinistisch-reformierten Regionen Europas, vor allem England und die Niederlande, in der Folge auch die amerikanischen Staaten und der Staat der Voortrekkers, der burischen Pioniere Südafrikas, paternalistische Formen der Judenfeindschaft aus. Insbesondere das Bewusstsein, die Juden als herrschendes Geschlecht bereits abgelöst und von ihnen die jüdisch-alttestamentarische Identität übernommen zu haben, beherrschte bereits die Millennialisten im Gefolge Cromwells, aber auch die niederländischen Eliten des 17. Jahrhunderts. Hinzu kam der reformierte Glaube an eine Wiederkunft des Messias in Jerusalem, wenn sich dort die inzwischen zerstreuten Juden zur Bekehrung zum Christentum versammelten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verbanden sich damit sektiererische Theorien, die sich – meist von Großbritannien ausgehend – in den USA unter kontinental-europäischem Einfluss zu rechtsextrem-antisemitischen Lehren radikalisierten und seitdem nach Europa zurückwirken.

Lesen Sie den Text von Jobst Paul in der DISS-Online-Bibliothek. Sie können ihn hier als PDF-Datei abrufen (57 Seiten):
Jobst Paul: Von Anglo-Israelismus zu Christian Identity

Die Rede von der gesunden deutschen Nation

Eine kritische, diskursanalytische Skizze zu einer Rede von Joachim Gauck.

Von Sebastian Reinfeldt

„Man vergisst nicht, wenn man vergessen will…“ (Friedrich Nietzsche)

Diese kritische, diskursanalytische ((Zur kritischen Diskursanalyse siehe: Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Duisburg/Münster 2004; Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 2006; Sebastian Reinfeldt, Nicht-Wir und Die-da, Wien 2000)) Skizze entsteht im Februar 2012, in einer Situation, in der klar ist, dass es einen Kandidaten der politischen Mehrheit für das Amt des deutschen Bundespräsidenten geben wird – den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, der bereits zur Wahl angetreten, aber damals gegen den späteren Bundespräsidenten Wulff unterlegen war. Eigentlich ein Ereignis, das auf eine zwischenzeitliche Verschiebung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse in Deutschland hinzudeuten scheint, und der bedeuten kann, dass die regierende politische Konstellation die Führung verloren haben könnte.

Unerwartet und spontan war diese gemeinsame Nominierung des eigentlichen (SPD und Grünen-) Oppositionskandidaten, und zwar deshalb, weil sie nur dadurch möglich wurde, dass der regierende Block auseinander bricht und der von ihr gewählte Bundespräsident an seinen Ungeschicklichkeiten scheitert.

Machtpolitisch sieht es daher wie ein Sieg der Opposition aus, und auch die medial erzeugte Zustimmung zu dem Kandidaten (den die Kanzlerin Angela Merkel zuerst nicht gewollt hatte) scheint anzuzeigen, dass hier etwas im politische Gefüge passiert ist, von dem der zu wählende Person nur ein Symptom darstellt.

Nur ein Symptom? Vielleicht. Aber auch dieses Symptom zu verstehen scheint nicht so leicht zu sein. Ist ein neuer politischer Krisen-Block aus CDU+CSU+SPD+Grüne+FDP entstanden, der in Zukunft „harte Entscheidungen“, die in Zeiten der Krise notwendig gemacht werden, gemeinsam abstimmt und der sich den Kandidaten Gauck als „Mittler“ gesucht hat?

Die Aufregung über dessen Nominierung in den Medien und im Internet könnte bedeuten, dass sich hier eine hegemoniale Verschiebung ereignet hat, die nachhaltig wirken und den politischen Diskurs formen wird. Immerhin wird dies ein Präsident einer deutlichen Mehrheit der Bundesversammlung sein, und man erwartet, dass „er“ „etwas mit Substanz“ zu sagen habe.

Deshalb scheint es lohnend, den Diskurs dieses Präsidenten der parlamentarischen Mehrheit zu analysieren, und zwar anhand einer Rede, die einen Kern des Selbstverständnisses Deutschlands betrifft: den Umgang mit der Vergangenheit. Der Bezug ist eine Rede, die Joachim Gauck 2006 bei der Robert Bosch Stiftung gehalten hat. „Die Rede von der gesunden deutschen Nation“ weiterlesen

ArNo: Kandidat Gauck

ArchivNotizen von Martin Dietzsch

Majestätsbeleidigung

Am vergangenen Wochenende wurde von einer ganz großen Koalition der Wunschkandidat der BILD-Zeitung Joachim Gauck zum Nachfolger des bei der BILD-Zeitung in Ungnade gefallenen Christian Wulff erwählt. Der parteilose Kandidat steht politisch eher rechts. Er scheint auf einer Wellenlänge mit CDU-Rechtsaußen Vera Lengsfeld zu funken. Freiheit statt Gleichheit ist sein schlichtes Credo.

Die Wahl des Bundespräsidenten war in der Vergangenheit schon mehrfach ein Signal für sich anbahnende Veränderungen in der Bundespolitik. Das lässt Böses ahnen. Gauck ist ja zuerst ausgerechnet von der Opposition auf den Schild gehoben worden. Soll man das als Omen nehmen, dass uns mit einem Regierungswechsel nach Rot-Grün ein ähnliches Desaster droht wie unter Gerhard Schröder? Da kommt schon fast der ketzerische Gedanke auf, ob nicht Angela Merkel das kleinere Übel darstellt. Immerhin zögerte sie bei der Kandidatenkür, allerdings vermutlich aus rein machtpolitischem Kalkül.

Die ganz große Koalition und fast alle Mainstream-Medien sind jedenfalls begeistert von ihrem Kandidaten und rufen ihn jetzt schon zum „Präsidenten der Herzen“ aus. Nur in Teilen der Blogosphäre und bei sozialen Basisbewegungen regt sich Kritik, denn sie befürchten einen „Präsidenten der steinernen Herzen“. Diese Kritik wird vom Mainstream als Majestätsbeleidigung aufgefasst.

In einem Gastbeitrag beim Blog Ruhrbarone kritisiert Rolf von Raden die Kritik an der Kritik.

Nach dem Shitstorm kommt der Gegensturm: Was wird der „Netzgemeinde“ nicht alles vorgeworfen, nachdem sie auf die große Gauck-Koalition damit reagierte, die Kritik an dem Bundespräsidenten in spe erneut pointiert vorzutragen.

[…] Und jetzt kommen wir zum Knackpunkt. In ihren angeblich aufklärerischen Artikeln weisen die selbsternannten Kritiker der Netzgemeinde nach, dass Joachim Gauck – welch Wunder – doch kein lupenreiner „Antidemokrat“ ist, und wohl auch kein „ausgemachter Rassist“. Letztere Formulierung habe ich bisher übrigens einzig in dem Blogpost gefunden, der die Unterstellung widerlegen will, aber in keiner Primärquelle. Der zukünftige Bundespräsident ist also kein „ausgemachter Rassist“ – und während er die selbst formulierte Unterstellung widerlegt, zeigt Patrick Breitenbach in seinem inzwischen vielbeachteten Blogpost unfreiwillig, was trotzdem so hochproblematisch an Gaucks Sarrazin-Thesen ist. Sie öffnen nämlich sehr wohl ein Feld, an das altbekannte rechte Diskurse über angeblich notwendigen Tabubruch und Political Correctness anschlussfähig sind.

Den vollständigen Text lesen Sie hier…
Kein Grund zur Aufregung: Die Gauck-Debatte in den sozialen Netzwerken

 

Die extreme Rechte und der Kandidat

Wie positioniert sich aber die extreme Rechte gegenüber dem Kandidaten? Hier ein erster kurzer Überblick.

Das Hass-Blog PI ist vom Kandidaten Joachim Gauck begeistert.

Ob Sarrazin-Lob, Kritik an der Anti-Atomhysterie, das Bloßstellen von populistischem Banken-Bashing oder seine Befürwortung von Stuttgart 21 – Joachim Gauck könnte durchaus auch für PI antreten.  ((PI, 19.2.2012, Gauck soll neuer Bundespräsident werden!))

Doch ein kleines Tröpfchen Essig schüttet PI dann doch noch sein Bier. Was glaubt man bei PI Verwerfliches in den Äußerungen von Joachim Gauck gefunden zu haben? Ausgerechnet das:

Lobhudelei für Kommunisten  ((ebenda))

Auch Dieter Stein von der Jungen Freiheit sieht Jürgen Gauck als seinen Wunschkandidaten. Er hofft auf einen erzkonservativen Antipoden zur verhassten Pragmatikerin Angela Merkel, der dazu beiträgt, der JF und dem Spektrum rechts von der Union das Schmuddelimage zu nehmen. Vielleicht wird es dann ja doch mal was mit der lange ersehnten neuen Rechtspartei.

Mit Joachim Gauck erwächst der Bundeskanzlerin ein ernstzunehmender Gegenspieler […] Wir werden mit ihm positive Überraschungen erleben!  ((JF, 19.2.2012, Joachim Gauck wird ein guter Bundespräsident))

Der neue NPD-Vorsitzende Holger Apfel hat ein Problem. 2010 hatten die Vertreter der NPD in der Bundesversammlung im dritten Wahlgang für Gauck gestimmt. Nun produziert sich Apfel noch fundamentaloppositioneller als sein Vorgänger Udo Voigt. Der Dissens zu Gauck wird allerdings nicht mit dessen Positionen begründet, sondern wirkt an den Haaren herbeigezogen.

Wir werden einem Konsenskandidaten von Merkel bis Özdemir auf keinen Fall die Stimme geben, denn ein solcher Präsident wird wieder mal nichts anderes sein, als eine Knetfigur des Establishments, ein willfähriges Ausführungsorgan des Kartells der Deutschland-Abschaffer.  ((NPD Bundesverband, 20.2.2012, Gauck wird sich als ein willfähriges Ausführungsorgan des Kartells der Deutschland-Abschaffer entpuppen))

Es läuft also wieder auf einen eigenen NPD-Bewerber hinaus. Scherzbolde haben bereits das Gerücht in die Welt gesetzt, die NPD wolle nach Frank Rennicke diesesmal Beate Zschäpe als Kandidatin aufstellen.

Auch aus der NPD Mecklenburg-Vorpommern unter Udo Pastörs kommt keine wirkliche Kritik an Gauck.

Dabei wird Joachim Gauck als Person geradezu missbraucht, um einer korrupten Politiklandschaft als Alibi zu dienen.  ((MUPINFO, 20.2.2012, Joachim Gauck als letztes Aufgebot einer korrupten Politiklandschaft))

Einzig das der NPD Saarland unter Frank Franz nahestehende Blog Deutschlandecho setzt etwas andere Akzente. Dem Autoren geht es ausschließlich darum, möglichst viel Medienaufmerksamkeit für die NPD zu erzeugen.

[…] wäre es ratsamer, ohne eigenen Kandidaten für Gauck zu stimmen und so wenigstens eventuell durch von dessen pro-Sarrazin-Äußerungen aufgeschreckte Linksmedien ein paar wütende Erwähnungen zu ergattern, als mit drei Stimmen für irgend einen Wald- und Wiesen-Kandidaten diejenigen zu verärgern, die trotz einiger sicherlich gegebener Mängel Gauck im Vergleich zu seinen Vorgängern als regelrechten Lichtblick sehen.  ((Deutschlandecho, 20.2.2012, Kommentar: Warum die NPD nur bei Schlagzeilengarantie nicht für Joachim Gauck stimmen sollte))

Das Deutschlandecho hat sich durch diese seriöse Äußerung immerhin eine Erwähnung in einem der führenden Linksmedien, den ArchivNotizen, ergattert.

Das den Piusbrüdern nahesstehende rechtsradikale Krawall-Blog Kreuz-net lehnt Gauck dagegen tatsächlich scharf ab. Die Erzkatholiken haben herausgefunden, dass er evangelisch ist, und es kommt noch schlimmer: Er ist mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet!

Gestern wurde der Ehebrecher und Ex-Prediger Joachim Gauck (72) von den deutschen Systemparteien zum Kandidaten für das Amt des nächsten Bundespräsidenten gekürt.  ((Kreuz-net, 20.2.2012, Jetzt wird der nächste Gaukler deutscher ‘Bild’-Bundespräsident))

Kreuz-net zitiert ausführlich und zustimmend den Beitrag eines anderen politesoterischen Blogs, in dem Gauck und Merkel als ehemalige privilegierte DDR-Funktionäre angeprangert werden. Der Beitrag versteigt sich dann aber sogar zu der  Behauptung, die Verurteilung von Gaucks Vater durch ein sowjetisches Tribunal 1951 sei zu Recht erfolgt.

Die ehemalige Tagesschau-Vorleserin Eva Herman argumentiert auf der Seite des Kopp-Verlags ganz ähnlich:

Sie raunt über

[…] die mögliche Stasi-Vergangenheit sowohl Gaucks als auch Merkels […]

Nun sind 2 IMs – IM Erika und IM Larve – an der Spitze – DDR2.0

Und natürlich sind die wahre Ursache für Wulffs Sturz wieder einmal die Machenschaften der Bilderberger. Wie langweilig!

Bilderbergerin Merkel dürfte ordentlich aufgeschreckt gewesen sein, als sich der Wulff im Schafspelz letztes Frühjahr zum ersten Mal offenbarte und von einem Tag auf den anderen – für alle überraschend – zum erbitterten Widersacher des ESM –Vertrags geworden war.  ((Kopp-Verlag, 20.2.2012, Joachim Gauck: Präsident der Herzen oder Kandidat der Finanzindustrie?))

 

Für den Hessischen Rundfunk fällt Rassismus unter die ‚Narrenfreiheit‘

Autor: Jobst Paul

Ungerührt von der Bekanntgabe des Unworts des Jahres 2011 Döner-Morde am 17. Januar 2012 unterstrich ein Sprecher des Hessischen Rundfunks am 9. Februar 2012, es gehöre zur „sprichwörtlichen Narrenfreiheit“, wenn in einer Fastnachtssendung „Klischees bemüht“ werden. ((Deutsch-Türkische Nachrichten vom 11.2.2012.))

Damit meinte er den medialen Auftritt der Zahnärztin Patricia Lowini ((Vgl den Auftritt unter http://www.youtube.com/watch?v=mM2Rz0_OTTU&feature=related.)) als Büttenrednerin ((Vgl. Frankfurt: Helau! – Die Inthronisation des Prinzenpaares. 2.12.2012. In: http://programm.daserste.de/pages/programm/detailArch.aspx?id=BB2ECED9A512D47862263544878C8496. – – Frankfurt: Helau! – die Inthronisation des Prinzenpaares. 19.2.2012. In: http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/index.jsp?rubrik=62359&key=standard_document_43651135&xtcr=3&xtmc=frankfurt%20helau.)) in der Rolle der Chefmoderatorin Asye von Döner TV bei der Inthronisation des Frankfurter Prinzenpaares 2011/2012 – Marcus I. und Prinzessin Ingrid II., aufgezeichnet im Sendesaal des Hessischen Rundfunks, ausgestrahlt am 2. Februar in der ARD und trotz massiver Proteste wiederholt am 19. Februar 2012 im Hessischen Fernsehen.

Gehüllt „in Strapse, Dirndl und Kopftuch“  ((Website des Mainzer Carneval-Vereins. Dort findet sich auch eine inhaltliche Zusammenfassung der ‚Büttenrede‘, in der offenbar frühere Bestandteile des Sketches wiedergegeben werden, die beim neuerlichen Auftritt gestrichen wurden. Vgl. Die MCV-Redner – eine Klasse für sich! Website des Mainzer Carneval-Vereins 1838 e.V.)) tänzelt die Frau „in Stöckelschuhen auf die Bühne. Ein glitzerndes Tuch auf dem Kopf, vor dem Körper eine Kreuzung aus einer türkischen und einer deutschen Nationalflagge. „Ja, guten Abänd, liebe Zuschauer, hier bei Döner TV zeig isch Eusch heute, was ist Integration“, sagt die Frau und lässt die Fahne fallen. Ein türkisfarbenes Mini-Dirndl kommt zum Vorschein. „Das ist Integration!“ ruft sie in jenem Akzent, der unter Sprachwissenschaftlern als „Kiezdeutsch“ anerkannt ist, und wirbt für den fiktiven Sender „Döner TV“.“  ((Karnevalssendung „Frankfurt Helau“. Empörung über Türken-Witze in der ARD. In: Süddeutsche Zeitung vom 10.02.2012. Dagmar Schatz erinnerte an die antisemitischen Praktiken der rheinischen Karnevals im NS-Staat: „(…) schon damals gehörte es zum Repertoire vieler „Humoristen“, die tatsächliche oder vermeintliche Sprache des „Anderen“ nachzuäffen.“ Die Herabsetzung von Juden in dieser Weise reicht allerdings erheblich weiter zurück. Vgl. Dagmar Schatz, Witz, Macht und schöne Zähne. In: Der Freitag vom 11.02.2012. ))

Die Stereotypik der ‚Rede‘ hält sich an die Motive der Ausgrenzungserzählung: Neben das durchgängige Döner-Motiv (Fressen) ((Hierzu gehören die Signalworte: Döner-Büde, Integrationsdöner-Büde, Türk-Döner, Currywurst-Döner, Schweinshaxen-Döner, Sauerbraten-Döner, Handkäs-Döner, aber auch Knoblauch-Fleischwurst, Fladenbrot, und – nach Mitteilung des Mainzer Carneval-Vereins – ganz frisches Gammelfleisch. Ebenso Döner for One, Anne-Will-Döner, Döner in Tirol.)) tritt das komplementäre Motiv der Dummheit ((Vgl. Putzfrau, auf integrierter Gesamtschule, Allgemein-Bildung. Hinzu kommt die Gleichung ‚Ayse‘ = ‚Eiche‘ durch die Sprecherin.)). Ebenso münden Minirock-Kostümierung und ein Versprecher (Fas- nackter) in die weitere Sex- und Fortpflanzungsmetaphorik (Gebärmutter ((Beim Auftritt am 02.Febr. 2012 gestrichen: „Gebärmutter“.)) , Verhütungsmittel, Babywindel).

In Richtung der Sarrazin’schen Kopftuch-Mädchen weist aber auch der Hinweis auf eine Art ‚Nummerierung‘ von Kindern („meine Schwestern heißen Buche, Birke und Kastanie“). Ein ’sexualisierter Islamismus‘, Germany’s next Burka Model, signalisiert dann wohl den Abschluss der türkischen Okkupation Deutschlands.

Auch die Fäkalabteilung (Babywindel, Güllehülle, Toilette, bescheißen) mit angeschlossener Krankheits- und Erregermetaphorik (Gammelfleisch ((Beim Auftritt am 02.Febr. 2012 gestrichen: „Onkel Izmir Übel verkauft ganz frisches Gammelfleisch“.)) , keine Toiletten) fehlt selbstverständlich nicht, auch nicht der Hinweis auf den ‚außerzivilisatorischen‘ Kampf aller gegen alle (auf Basar bescheißt jeder jeden).

Während die Stereotypik bei eher sinnlosen Wortspielen (Anne-Will-Döner) zurücktritt, ergeben sich an anderer Stelle Verschränkungen und Zuspitzungen. Die deutsche Nationalhymne als Einigkeit und Recht und Döner gelernt zu haben, soll wohl nicht nur Dummheit, sondern potenziell auch Distanzierung von und Verspottung der deutschen Nation andeuten.

Ähnlich stellt die Wendung nicht getauft, aber geimpft der Nicht-Zugehörigkeit zum Christentum die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gegenüber. Auch die Stereotype der Kriminalität (geschlossene Sendeanstalt=JVA Weiterstadt) verbindet den Aspekt von Gier, Raub, Gewalt und Gefahr mit dem des Aufwands des Staats für die Betroffenen.

Auch wenn der Text durchgehend aus groben, rassistisch, bzw. sexistisch herabsetzenden Kurzepisoden besteht, hat die Büttenrednerin doch auch politische Spuren gelegt. So legt einerseits eine Schul-Szene (Brunhilde) die These nahe, ‚Integration‘ sei eine Sackgasse und würde auf dem Rücken von (vermutlich ‚wie Ayse‘: dummen, nicht bildungsfähigen) Kindern ausgetragen, während andererseits die Signalworte Müsli und Gesamtschule auf die linken bzw. grünen Urheber zeigen. Tatsächlich bringt die Büttenrednerin diesen Aspekt vollends ‚auf den Punkt‘ und lässt dazu zwei bekannte Grünen-Politikerinnen für 2 Millionen Jahre in einem Castor-Behälter ‚endlagern‘. ((Vgl. auch Öffentlich-rechtlicher Rassismus zur besten Sendezeit. In: Migazin vom 10.2.2012 [http://www.migazin.de/2012/02/10/frankfurt-hellau-rassismus-zur-besten-sendezeit-tuerken/]; HR will „Frankfurt Helau“ erneut ausstrahlen. In: FR vom 10.2.2012 [http://www.fr-online.de/fastnacht-frankfurt-rhein-main/verdacht-auf-rassismus-hr-will—frankfurt-helau–erneut-ausstrahlen,11603612,11606226.html]; Eklat um Türken-Witze beim Karneval. In: BILD vom 9.02.2012 [http://www.bild.de/politik/inland/integration/karneval-eklat-bei-narrensitzung-schlechte-witze-auf-kosten-von-migranten-22550008.bild.html?wtmc=fb.off.share]; Diskriminierung kann niemals mit Narrenfreiheit gerechtfertigt werden. In: Familien-Blickpunkt. Ihr Familien-Portal für Stadt und Kreis Offenbach. [http://www.familien-blickpunkt.de/magazin/diskriminierung-kann-niemals-mit-narrenfreiheit-gerechtfertigt-werden.html]; PRO ASYL fordert Absetzung der Ausstrahlung des rassistischen Fernsehspots. Presseerklärung von pro asyl vom 17.02.2012: [http://www.proasyl.de/de/presse/detail/news/pro_asyl_fordert_absetzung_der_ausstrahlung_des_rassistischen_fernsehspots/]; Werner Wenzel, Rassismus oder Kokolores? Eklat um Mainzer Rednerin nach ARD-Sendung. In: Wiesbadener Kurier vom 11.02.2012 [http://www.wiesbadener-kurier.de/fastnacht/wiesbaden/11654113.htm]; Karnevalssendung „Frankfurt Helau“. Empörung über Türken-Witze in der ARD. In: Süddeutsche Zeitung vom 10.02.2012 [http://www.sueddeutsche.de/medien/karnevalssendung-frankfurt-helau-empoerung-ueber-tuerken-witze-in-der-ard-1.1280508]; Türkische Medien kritisieren „Frankfurt Helau“Karnevalssendung in der ARD „rassistisch“. In: Focus online vom 09.02.2012 [ http://www.focus.de/kultur/medien/kritik-an-karnevalssendung-tuerkische-medien-werfen-tv-rassismus-vor_aid_712483.html] und andere.))

Der Pressesprecher des Hessischen Rundfunk hat es – angesichts dieses Textes – nicht nur fertig gebracht, von ‚Narrenfreiheit‘ zu sprechen und die Zweitausstrahlung zu verteidigen, sondern mit der Aussage zu verbinden, „als öffentlich-rechtlicher Sender sehe es der HR als seine Aufgabe an, gesellschaftliche Integration und ein gutes Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in Hessen zu fördern.“ Es ist umgekehrt: Der Hessische Rundfunk hat sich außerhalb dieses Miteinander gestellt und sich als Akteur der gesellschaftlichen Integration disqualifiziert.

 

Auch ein Unwort: „Gutmensch“

„Döner-Morde“ – diesen Begriff hat die von Prof. Dr. Nina Janich (TU Darmstadt) geleitete Jury zu Recht zum Unwort des Jahres gekürt. Die Begründung ist eine treffende Kurzanalyse:

“Mit Döner-Morde wurden von Polizei und Medien die von einer neonazistischen Terrorgruppe verübten Morde an zehn Menschen bezeichnet. Der Ausdruck steht prototypisch dafür, dass die politische Dimension der Mordserie jahrelang verkannt oder willentlich ignoriert wurde: Die Unterstellung, die Motive der Morde seien im kriminellen Milieu von Schutzgeld- und/oder Drogengeschäften zu suchen, wurde mit dieser Bezeichnung gestützt. Damit hat Döner-Mord(e) über Jahre hinweg die Wahrnehmung vieler Menschen und gesellschaftlicher Institutionen in verhängnisvoller Weise beeinflusst. Im Jahre 2011 ist der rassistische Tenor des Ausdrucks in vollem Umfang deutlich geworden: Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechts- terroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden.“ ((Link zur Presseerklärung als pdf))

Inzwischen wird der Begriff „Döner-Morde“ zwar kaum noch verwendet, und von manchen JournalistInnen ist sogar zu hören, dass es ihnen ein wenig peinlich ist, den Begriff in ihrer Berichterstattung übernommen zu haben. Dennoch haben weder Polizei noch die Medien erklärt, welche Konsequenzen sie daraus ziehen, dass sie mit der Verwendung des Begriffs massiv zur sprachlichen Reproduktion von Rassismus beigetragen haben.

Der Begriff Döner-Morde ist allerdings nicht der einzige, der von der Jury an der TU Darmstadt zum „Unwort“ erklärt wurde. Ausgezeichnet wurden außerdem die Begriffe „Gutmensch“ und  „Marktkonforme Demokratie“. Mit „Gutmensch“ erhält ein Begriff den Negativ-Preis, der nach Ansicht der Jury im vergangenen Jahr insbesondere in Online-Medien eine unheilvolle Wirkung hatte:

“Mit dem Ausdruck Gutmensch wird insbesondere in Internet-Foren das ethische Ideal des „guten Menschen“ in hämischer Weise aufgegriffen, um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren. Ähnlich wie der meist ebenfalls in diffamierender Absicht gebrauchte Ausdruck Wutbürger widerspricht der abwertend verwendete Ausdruck Gutmensch Grundprinzipien der Demokratie, zu denen die notwendige Orientierung politischen Handelns an ethischen Prinzipien und das Ideal der Aushandlung gemeinsamer gesellschaft- licher Wertorientierungen in rationaler Diskussion gehören. Der Ausdruck wird zwar schon seit 20 Jahren in der hier gerügten Weise benutzt. Im Jahr 2011 ist er aber in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten einflussreich geworden und hat somit sein Diffamierungspotential als Kampfbegriff gegen Andersdenkende verstärkt entfaltet.“ ((Link zur Presseerklärung als pdf))

Die aktuelle Konjunktur des Begriffs „Gutmensch“ ist auch am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung nicht unbemerkt geblieben. Daher haben sich Astrid Hanisch und Margarete Jäger bereits im DISS-Journal 22 (November 2011) ausführlicher mit dem „Stigma Gutmensch“ auseinandergesetzt.

Christlich-islamische Realpolitik

Unter dem Motto: Freiheit ja! – Gerechtigkeit nein! kommentierte Jobst Paul im DISS-Journal Nr. 22 (18. November 2011) kritisch den vorhersehbaren Sieg kulturkonservativer islamischer Parteien in einigen arabischen Ländern, ihre mögliche Allianz mit der westlichen Großindustrie (Beispiel DESERTEC) und die diesbezügliche Analogie zwischen kulturkonservativen islamischen Parteien und kulturkonservativen christlichen Parteien insbesondere in Deutschland:

„Man wird es dem Mittelstand der arabischen Staaten nicht verdenken dürfen, in die Fußstapfen anderer, z.B. europäisch-kulturkonservativer, hierzulande z.B. christlicher Parteien zu treten, deren Leitidee in der Regel der eigene Wohlstand und damit auch der Pakt mit Großindustrie und Finanzmärkten war. Anders würde sich nicht erschließen, was christliche Parteien hierzulande über Jahrzehnte hinweg an der Atomenergie fanden. Und so scheinen die arabischen Revolutionen ganz in abendländischer Logik auf die Gewährung bürgerlicher Freiheiten, aber auf die Vertagung der gerechten Gesellschaft hinauszulaufen.“

Tatsächlich hat Bundesaußenminister Westerwelle während seiner kürzlichen Arabien-Reise nun einerseits die Bedeutung des DESERTEC-Projekts bestätigt:

„Auch in Algier warb Westerwelle für eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Als herausragendes Beispiel dafür nannte er Desertec, eine Initiative zur Erzeugung von Ökostrom in Wüsten und zur Weiterleitung nach Europa. „Das könnte ein Meilenstein für die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Regionen werden“, sagte der Außenminister.“ (Der Stern, 8.1.2012)

Darüber hinaus machte sich Westerwelle die Gleichung zwischen christlich-konservativen und islamisch-konservativen Parteien zu eigen:

„Europa müsse sich daran gewöhnen, dass es „islamisch-demokratische Parteien gibt, wie es in Europa christdemokratische Parteien gibt“, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) am Montag bei einem Besuch in Tunis. … Die Europäer müssten verstehen, dass „es große Unterschiede gibt auch in den politischen Orientierungen islamischer Parteien“, sagte Westerwelle. Islamisch-demokratische Strömungen hätten das Recht, „von uns als vollständig respektierte Partner angenommen zu werden“ … (Focus, 9.1.2012)

Schon zuvor (20.11.2011) hatte Rachid Ghanouchi, der Chef der siegreichen, tunesischen Partei En-Nahda die Gleichung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aufgegriffen:

„Wir wollen ein demokratisches System einführen, das die Regeln der Demokratie und die islamischen Werte berücksichtigt. Das wird ähnlich aussehen wie bei den christdemokratischen Parteien in Europa.“ (Süddeutsche Zeitung, 20. 11. 2011)

Ghanouchis und Westerwelles Stellungnahmen deuten auf den aktuell offenbar rasanten Brückenbau zwischen christlich-konservativen und islam-konservativen Politikentwürfen in Europa und Arabien zugunsten einer neoliberalen Realpolitik mit völlig neuen Abmessungen. Diese Entwicklung wirft nicht nur die Frage auf, welche Folgen die abrupte Verabschiedung der Gerechtigkeitsfrage, die der eigentlich Ausgangspunkt und Antrieb der Revolutionen war, in den Nationen des arabischen Frühlings haben wird. Es wird auch spannend sein zu beobachten, wie die christlich-konservative Parteienlandschaft in Deutschland (und Europa) mit den Geistern umgehen wird, die sie mit ihrem jahrelangen, populistisch aufgeheizten Anti-Islamismus gerufen und deren Radikalisierung sie damit ermutigt hat.